
27. Kapitel: Segugi infernale
Turmhohe Glassplitter erhoben sich bis in den wolkenlosen Himmel. Der Spiegelsee lag in Trümmern, als wäre eine gewaltige Faust auf ihn niedergefahren und hätte ihn in unbändiger Wut zerschmettert. Blutige Tropfen Morgenröte fingen sich an den messerscharfen Kanten, färbten das Glas und flossen rasch verblassend an ihm hinab, bis sie sich am Grund des gesplitterten Sees in einem tiefen Blau verloren. Dort bildete das Glas undurchdringbare Mauern, an manchen Stellen milchig trüb, an anderen so klar, dass man durch sie hindurchschauen konnte. Und mitten zwischen ihnen stand ich und fühlte mich so klein und verletzlich wie nie zuvor. Eine unachtsame Bewegung genügte, und das Glas würde sich in mein Fleisch bohren und mein Blut unaufhaltsam in das nicht einmal knöcheltiefe schwarze Wasser zu meinen Füßen fließen.
Mein Atem ging schnell und brach sich als feuchter Nebelschleier an dem gewaltigen Splitter vor mir. Ein konturloser Schatten regte sich dahinter. Glas knirschte unter der flachen Wasseroberfläche, als ich vorsichtig zurückwich. Mein kondensierter Atem, ein flüchtiger Lebenshauch, löste sich langsam auf. Der Schatten wurde dichter, dunkler, formte einen Kopf und schmale Schultern. Dann hob er eine schemenhafte Hand, legte sie an die Oberfläche des Splitters und beugte sich vor.
Krachend barst das Glas unter der Schattenhand, tiefe Risse bahnten sich ihren gezackten Weg hinauf in den Himmel, und so wie das Glas aufgerissen war, riss auch der Kopf des Schattens horizontal, dort, wo ein Mund hätte sein können, wenn Schatten Münder gehabt hätten, und der Riss wurde breiter, bis er ein boshaftes Lächeln wurde und Schlangen aus ihm glitten und einen Weg durch das gesplitterter Glas suchten, um mich zu verschlingen.
Ich schrie entsetzt und taumelte zurück. Das Glas hinter mir schnitt in meinen Rücken und meine linke Hand, siedend heiß und unaufhaltsam rann Blut aus meinem Körper, und die Schlangen nahmen gierig züngelnd seine Witterung auf, wanden sich unablässig aus dem boshaften Grinsen des Schattens, und für mich gab es kein Zurück, nimmermehr, keinen Ausweg, nimmermehr, keine Rettung, nimmermehr.
Über mir fauchte es wütend und die Schlangen zischten aufgebracht, wanden sich hin und her und zogen sich widerstrebend zurück in den Schatten. Ich wagte es nicht, aufzublicken und zu nachzusehen, welch Ungetier den Schlangen solch eine Furcht einflößte. Der Schatten krümmte sich, verschluckte die Schlangen und zerfloss vor meinen Augen, bis nichts mehr von ihm übrig war.
Dunkles Wasser spritzte auf, als ein gelber Kater vom Himmel fiel und federleicht auf seinen vier Tatzen aufkam. Mit gesträubtem Fell strich er an dem gigantischen Splitter auf und ab, fauchte erneut, und als er zufrieden war, Schatten und Schlangen vertrieben zu haben, setzte er sich und wandte mir sein mit braunen Flecken übersätes Gesicht zu.
»Warum weinst du?«, fragte der Kater mit kindlicher Stimme.
Ich weine gar nicht, wollte ich antworten, da spürte ich die Nässe auf meinen Wangen und schmeckte Salz auf meinen Lippen.
»Ich habe es kaputt gemacht«, wimmerte ich, deutete auf die Glastrümmer um uns herum und wusste plötzlich: Es war meine wütende Faust gewesen, die den Spiegelsee zerbrochen hatte.
Mit funkelnden grünen Augen sah der gelbe Kater sich um. »Dann musst du ganz schön stark sein.« Er richtete seinen Blick auf mich, als versuchte er abzuschätzen, ob ich die Wahrheit sprach. Dann entblößte er zwei scharfe Eckzähne. Es sah aus, als versuche der Kater zu lächeln. »Wer stark ist, muss nicht weinen.«
»Aber ich wollte das nicht«, flüsterte ich, schlang die Arme um meinen Körper und tauchte meine Finger in das klebrige Blut, das nach wie vor aus meinen Wunden rann. »Ich will, dass es wieder heil wird.«
Der Schwanz des Katers peitschte unruhig hin und her. »Manches kann man nicht wieder heil machen, Marika.«
Die Tränen brannten nun heiß in meinen Augen und ich schlug mir die Hände vors Gesicht, damit der Kater mich nicht für mein Weinen auslachte. Kater waren so: Gemein und grob und sie lachten über kleine Mädchen, die weinten.
Doch dieser Kater lachte nicht. Überrascht nahm ich die Hände herunter, als ich sein weiches Fell an meinen Beinen spürte. Lautlos, wie es Kater nun einmal so an sich haben, war er zu mir gekommen, hatte sich neben mich gesetzt und schmiegte seinen warmen Körper gegen meine nackten Waden. Ein tiefes Schnurren drang aus seiner Brust. »Wir werden versuchen, es wieder heil zu machen, dann musst nicht mehr traurig sein.«
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Nase. Der Kater klang, als meinte er es ernst, und ich beschloss, ihm zu glauben. »Und wer passt so lange auf mich auf?«
Das Schnurren wurde lauter. »Ich werde auf dich aufpassen, Marika.« Er sah zu mir hoch und seine Smaragdaugen leuchteten hell. »Das verspreche ich dir ...« Seine letzten Worte vermischten sich mit dem rhythmischen Schnurren.
Erleichtert, nicht mehr alleine in dem Scherbensee sein zu müssen, wollte ich mich hinhocken und den Kater dankbar streicheln. Doch bevor ich ihn erreichen konnte, explodierten die Scherben um uns herum, rieselten knirschend auf uns herab und begruben uns unter Schmerz und Schweigen.
Das Herz in meiner Brust hämmerte wild gegen meine Rippen. Regungslos lag ich auf der Couch, lauschte meinem Herzschlag und spürte den letzten Fetzen meines Traumes nach. Schatten, Glassplitter und ein gelber Kater waren darin vorgekommen, doch mit jedem hektischen Atemzug brachen die Bilder mehr und mehr auseinander, bis sie nicht mehr waren als zusammenhanglose Fragmente.
Sie versickerten spurlos, als ich das schwache Geräusch einer zuschlagenden Autotür hörte. Ich setzte mich zu ruckartig auf und für einige Sekunden verschwamm der Salon hinter schwarzen Sternen. Haltsuchend griff ich nach der Kante der Rückenlehne. Meine letzte vollwertige Mahlzeit lag drei Tage zurück und mein Kreislauf fuhr schlingernd Achterbahnen.
Über das Rauschen in meinen Ohren hinweg lauschte ich angespannt, doch noch ehe ich an dem zweifeln konnte, was ich gehört hatte, kam Simon in einem Aschewirbel durch die Haustür hineingestürmt.
»Statt wortlos abzuhauen, hättest du einen von uns losschicken können.« Er hielt die Tür offen, während er das Tuch herunterzog, das seine Atemwege vor der brennenden Asche geschützt hatte. »Sollte ich jemals ein graues Haar auf meinem Kopf finden, dann wegen deiner beschissenen Alleingänge!«
»Glaub mir, du wirst froh sein, wenn es bei einem grauen Haar bleibt«, erwiderte Elion grimmig. Er stand auf der Türschwelle und trat mit seinen schweren Stiefeln gegen den Türrahmen, bis sich festgetretene Aschebrocken von den Sohlen lösten. In der rechten Hand hielt er zwei braune Papiertüten, deren Boden dunklere Flecken bedeckten, in der anderen einen großen Pappbecher mit einem Plastikaufsatz. Sowohl Tüten als auch Pappbecher zierte ein geschwungenes gelbes M. Ich roch fettig gebratenes Fleisch und mein Magen stieß ein verlangendes Knurren aus, das dem eines wütenden Bären ähnelte, laut genug, um Elions Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Die Andeutung eines Lächelns huschte über seine Lippen. »Hol Salma und Lay«, wandte er sich an Simon. »Es gibt einiges zu besprechen.«
»Da verwette ich meinen Arsch drauf«, murmelte der Magus und verschwand die Treppe hinauf.
»Gut geschlafen?«, fragte Elion mich, als er den Salon betrat.
»Ausgezeichnet«, antwortete ich gedehnt. »Wenn ich nicht damit rechnen muss, im Schlaf erschossen zu werden, schlafe ich für gewöhnlich wie ein Baby.«
Sein Lächeln erstarb und er blieb mitten im Raum stehen.
Sofort bereute ich meine zynischen Worte. Ich hatte angenommen, Elion mit meiner unausstehlichen Art in die Flucht getrieben zu haben, und kaum war er wieder da, fing ich erneut damit an. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, fügte ich deshalb etwas versöhnlicher hinzu. »Wir sind davon ausgegangen, dass du dich dem Orden stellst«, ich deutete auf die braunen Tüten in seiner Hand, »und nicht, dass du dir Junkfood besorgst.«
»Ich war es leid, zu diskutierten«, gestand Elion zerknirscht. Etwas verloren wirkend hob er die Papiertüten in die Höhe. »Du mochtest die Ravioli nicht und da dachte ich ...« Er räusperte sich. »Wenn Lay mitbekommen hätte, dass ich losfahre, um dir stattdessen Burger zu holen, hätte sie dir die Ravioli mit Gewalt hintergezwängt.«
Meine Augen wurden groß. »Die sind für mich?« Mein Magen wiederholte die Frage in seiner eigenen, unhöflich fordernden Sprache.
Zögernd, als befände er sich in der Gegenwart eines wilden Tieres, näherte Elion sich und hielt mir die Tüten entgegen. »Cheeseburger, Nuggets und Pommes«, zählte er auf. »Ich fürchte allerdings, sie sind nicht mehr warm.«
Ich rührte mich nicht und starrte Elion entgeistert an. »Du bist mitten in der Nacht abgehauen, um mir Burger zu kaufen?«
»Und einen Erdbeermilchshake«, sagte er hastig und hielt mir nun auch den Pappbecher hin. »Zumindest einen halben. Ich habe länger gebraucht als geplant und musste zwischendurch dringend etwas trinken«, entschuldigte er sich.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war letzte Nacht mit dem bleischweren Schuldgefühl eingeschlafen, für Elions drohende Hinrichtung durch seine eigenen Leute verantwortlich zu sein. Entweder, weil ich ihn zu sehr genervt hatte, oder weil er sein Schicksal als unausweichliche Notwendigkeit akzeptiert hatte, um den Orden noch eine Zeitlang von mir abzulenken. Und nun stand er hier mit zwei Burgertüten und einem Milchshake und machte den Eindruck, als wäre er es, der sich schuldig fühlte – und zwar mir gegenüber. Ich wollte aufspringen und ihn schütteln, bis er begriff, was für Sorgen Lay, Simon und Salma sich um ihn gemacht hatten; bis er verstand, dass ich keinen weiteren Toten auf meiner Liste ertragen konnte.
Stattdessen senkte ich den Kopf und drückte mit Daumen und Zeigefinger gegen meine Lider, um die aufsteigenden Tränen daran zu hindern, über meine Wangen rollen.
Elion sog scharf die Luft ein. »Du musst die Burger nicht essen, wenn du nicht willst. Aber vielleicht versuchst du wenigsten die Pommes. Lay würde sich vermutlich freuen, wenn du vor Hunger und Erschöpfung ohnmächtig wirst, weil sie dann keine Scherereien mehr mit dir befürchten muss. Aber am Ende wirst du trotzdem wieder sauer auf mich und nicht auf sie sein, und mir unterstellen, ich würde dich verhungern lassen wollen oder so etwas in die Richtung.«
Er versuchte, einen halbscherzhaften Ton anzuschlagen, und ich lachte gepresst auf.
»Natürlich werde ich sauer auf dich sein. Du bist ein Riesenidiot.« Ich rieb mir die Augen, bis ich sicher sein konnte, nicht gleich loszuheulen. Die Anspannung der letzten Tage zerrte schon zu lange an meinen Nerven. Und nun stand der Riesenidiot, der mich womöglich die meisten Nerven gekostet hatte, mit Tüten voller Burger vor mir, für die er die ganze Nacht wer weiß wo hin gefahren war, während die Welt unterzugehen drohte.
Das war das Netteste, was jemals jemand für mich getan hatte.
»Ich dachte, du magst Burger«, hörte ich Elion murmeln.
Geräuschvoll zog ich die Nase hoch und sah auf. Elion stand noch immer vor mir, die Arme weiterhin ausgestreckt, als wisse er nicht wohin mit Burgern und Milchshake. Ich rang mir ein Lächeln ab, rutschte vor und nahm ihm die Burgertüte ab. »Ich liebe Burger«, sagte ich mit brüchiger Stimme. »Das wird das beste Frühstück sein, das ich jemals in meinem Leben hatte. Danke«, fügte ich hinzu und legte die fettige Tüte auf meinen Schoß, um Elion den Milchshake abzunehmen und ihn neben mich auf den Boden zu stellen. »Aber das nächste Mal, wenn du uns so einen idiotischen Schrecken einjagst, kommst du nicht so billig davon.« Ich klang nur halb so wütend, wie ich beabsichtig hatte. Doch wenn einem vor Hunger und Appetit das Wasser im Mund zusammenlief, war es schwer, überhaupt etwas zu sagen, ohne dabei zu sabbern.
Elion fuhr sich durchs Haar und verschmierte die Asche darin zu einem silbernen Film. »Ich habe nicht erwartet, dass du dir Sorgen machen würdest. Ein Freudentanz über meinen Abgang hielt ich für wahrscheinlicher.«
Ich riss die erste Tüte auf. Sie war bis oben hin gefüllt mit Burgern. Von ihrem intensiven Geruch wurde mir beinahe schwindelig. »Das eine schließt das andere nicht aus.« Mühsam beherrscht, um nicht noch mehr wie ein ausgehungertes Tier zu wirken, wickelte ich den ersten Burger aus. Sobald ich den ersten Bissen nahm, würde mein Mund nicht mehr so schnell leer werden, also zügelte ich mich und schluckte, bis der Speichel ein erträgliches Maß angenommen hatte. »Ich verstehe, warum du dich wie ein Arsch aufgeführt hast«, sagte ich bedächtig.
Elions Augenbrauen zuckten in die Höhe.
»Wärst du nett und verständnisvoll gewesen, hätten wir es wohl kaum lebend aus Berlin herausgeschafft. Und ich habe es dir auch nicht gerade leichtgemacht«, gestand ich widerwillig. »Aber am Ende hast du mir mit deinem Arschlochgehabe das Leben gerettet, und ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit, mich dafür bei dir zu bedanken.« Das war eine glatte Lüge. Ich hatte genügend Gelegenheiten gehabt – ich hatte nur nicht gewollt. Ich fixierte den Burger. Die obere Brötchenhälfte war zusammengepresst und ein trauriges welkes Salatblatt schaute unter ihm hervor. »Danke«, sagte ich zum Burger. »Übrigens habe ich nicht vor Freude getanzt, als du gingst. Ich habe mir Vorwürfe gemacht.«
Der Sessel mir gegenüber knarzte leise, als Elion sich setzte. »Weil du annahmst, ich würde sterben?«
Ich nickte knapp, ohne den Burger aus den Augen zu lassen. »Ich will nicht, dass du stirbst.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns jemals einig sind.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Elion die Ellenbogen auf seine Oberschenkel stützte und sich vorbeugte. »Aber für eine alternative Strategie brauche ich deine Hilfe.«
»Meine?«, fragte ich und führte den Burger dicht an meine Lippen.
»Deine. Du musst mir etwas geben, das uns weiterbringt. Informationen zum Beispiel.«
Noch während Elion sprach, warf ich meine Selbstbeherrschung über Bord und biss in den Burger. Eintausend vermutlich krebserregende Inhaltsstoffe entfalteten explosionsartig ihre Wirkung und ich stöhnte so tief auf, dass ich mich dafür geschämt hätte, wenn ich nicht so verdammt hungrig gewesen wäre.
Elion räusperte sich. »Es freut mich, dass es dir schmeckt.«
Ich hielt meinen Daumen hoch und kaute genüsslich. »Seh ich aus, als hätte ich irgendwelche Informationen?«, fragte ich mit vollem Mund.
Elion beobachtete mich eindringlich, als hätte er nie zuvor eine Frau Burger essen sehen. »Ich bin mir sicher, du weißt mehr, als dir bewusst ist. Du musst dich nur erinnern.«
Hastig nahm ich den nächsten Bissen, groß genug, um mir den Mund zu stopfen. Ich schüttelte den Kopf, hob entschuldigend die Schultern und zwängte mir den kleinen Rest Burger zwischen die Lippen. Ich musste aussehen wie ein fleischfressender Hamster, aber das war mir egal. Lieber erstickte ich an dem göttlichen Burger, als mit Elion über meine Erinnerungen zu sprechen.
Der Erstickungstod blieb mir erspart, weil Simon mit Lay und Salma im Schlepptau die Treppe hinab kam.
»Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt«, informierte der Magus die beiden Frauen trocken.
Salma stürmte auf Elion zu, und noch ehe er sich rühren konnte, warf sie sich ihm schluchzend um den Hals. Unbeholfen tätschelte er ihre Schultern.
Lay blieb im Durchgang stehen, als sähe sie einen leibhaftigen Geist, während Simon zu mir kam, sich auf die Sofalehne setzte und mir ein amüsiertes Grinsen zuwarf. »Guten Appetit.«
Wortlos griff ich nach einem Burger und warf ihn Simon zu. Geschickt fing er ihn mit einer Hand auf. Sein Grinsen wurde breiter. »Elion sagte, die seien alle für dich, aber ich wusste, auf unsere Marika und ihre Großzügigkeit ist Verlass.«
Besitzergreifend zog ich die Burgertüte näher zu mir heran, um von Anfang an klare Verhältnisse in Bezug auf meine Großzügigkeit zu schaffen.
Behutsam schob Elion Salma von sich herunter. Sie lachte und weinte gleichzeitig und griff nach seiner Hand. »Ich wusste, du lässt uns nicht alleine.«
Mir entging nicht der unerwartet warme Ausdruck in Elions Augen, als er Salmas schmale Hand auf seiner betrachtete, und so wie letzte Nacht fragte ich mich, ob zwischen den beiden mehr lief.
Rasch wandte ich mich ab und konzentrierte mich auf den nächsten Burger. Das ging mich rein gar nichts an. Plötzlich fühlte sich mein Mund staubtrocken an und griff nach dem Milchshake.
»Sobald Marika aufgegessen hat, fahren wir«, sagte Elion. Kein Wort der Entschuldigung zu seinen Teammitgliedern. Keine Erklärung, warum er mitten in der Nacht verschwunden war.
»Wohin?«, fragte Lay knapp, die anscheinend nichts anderes erwartet hatte.
»Nach Norden.«
Mein Kiefer erstarrte.
»Geht es auch etwas spezifischer?«, fragte Simon.
»Nein.« Elion entwand seine Hand aus Salmas und knackte mit den Knöcheln. »Die Straßen sind voller flüchtender Menschen«, erklärte er. »Tausende, die versuchen, nach Norden zu gelangen. Deshalb habe ich so lange gebraucht, und hätte ich den Bumvee nicht querfeldein gelenkt, stünde ich noch immer auf einer verstopften Bundesstraße.«
Simon wischte sich einen Klecks Ketchup vom Kinn. »Ist es wegen der Asche?«
»Hauptsächlich«, bestätigte Elion. »Die meisten kamen aus Süddeutschland und Österreich. Ein Mann hat mir berichtet, dort reiche die Asche bis zur Brust. Dächer stürzen unter ihrer Last ein. Die Infrastruktur liegt lahm, niemand kommt, um die Leute dort rauszuholen.«
Ich leckte mir den Milchshakefilm von der Oberlippe. »Also wird es tatsächlich schlimmer.«
Elion kniff die Augen zusammen und rieb sich mit dem Handballen die Schläfe, als bereitete ihm mein Anblick Kopfschmerzen. »Viel schlimmer.«
»Davon wurde nichts in den Nachrichten gebracht«, schaltete Lay sich ein. »Sie sagen, nur der nördliche Mittelmeerraum sei von den Eruptionen und ihren Auswirkungen unmittelbar betroffen.«
Simon zerknüllte das Burgerpapier in seiner Faust. »Dann lügen sie. Oder halten Informationen zurück. Womöglich, um keine Massenpanik auszulösen.« Grimmig triumphierend sah er uns nacheinander an. »Deshalb hören wir auch nichts über Berlin: Sie haben eine Informationssperre verhängt.«
Ich wollte fragen, wen er mit sie meinte, aber Elion ergriff erneut das Wort.
»Das ist noch nicht alles. Als der Verkehr zum Erliegen kam, ging ich die Autoreihen ab, bis ich nach einer halben Ewigkeit endlich ein Kennzeichen aus Italien fand. Die Leute in dem Wagen sahen aus, als hätten sie den leibhaftigen Tod ins Auge geblickt.« Es wurde so still im Salon, dass es mir eiskalt den Rücken runterlief. »Als ich sie fragte, wovor sie fliehen, sagten sie immer wieder segugi infernale.«
»Höllenhunde«, hauchte Simon entsetzt.
»Höllenhunde?«, wiederholte ich ungläubig. »So wie Hunde aus der Hölle? Ich meine aus der Hölle?«
»Unmöglich«, sagte Lay, obwohl sie auffällig blass geworden war. »Die Tore zur Hölle wurden nach dem Sieg der Idrin über die Alten Götter versiegelt. Die Leute haben durch die giftigen Gase der Vulkane halluziniert, das ist alles.«
»Das dachte ich ebenfalls«, erwiderte Elion. »Bis sie mir zeigten, wer auf ihrer Rückbank saß: eine schwerverletzte Frau. Etwas hat ihr den Großteil ihrer Wade herausgebissen. Die Wunde war voller Maden und stank entsetzlich, obwohl ihre Begleiter beteuerten, der Angriff läge keine zwei Tage zurück.«
»Sie verfault bei lebendigem Leibe.« Salma wankte. Sofort sprang Elion auf und drückte sie auf den Sessel. »Der Biss eines Höllenhundes ist immer tödlich.«
»Das habe ich ihnen auch gesagt und ...« Elion verschränkte die Arme vor der Brust und senkte sein Kinn. »Ich habe ihnen angeboten, ihr Leiden zu beenden.«
Die kaum zerkaute Burgermasse lag schwer in meinem Magen. Er sprach wohl kaum davon, der Frau eine Tetanusimpfung verabreicht zu haben. »Du hast sie doch nicht etwa erschossen?«
»Nein«, sagte Elion dumpf. »Sie schimpften mich einen diavolo, dann wollte der Fahrer mit einem Golfschläger auf mich losgehen.«
»Aber du hättest sie erschossen.« Angewidert stellte ich die Burgertüte auf den Boden. Mir war der Appetit vergangen.
»Kurz bevor es mit dieser Frau zu Ende geht, werden sie sich wünschen, sie hätten Elions Angebot angenommen«, sagte Lay ungerührt. »Wenn sie wirklich von einem Höllenhund gebissen wurde, erwartet sie ein entsetzlicher Tod. Eine Kugel in ihrem Gehirn wäre eine Gnade dagegen gewesen. Aber vermutlich war es ein Bär, der sie angefallen hat.«
»Es war ein Höllenhund«, bekräftige Elion seine Erzählung voller Überzeugung. »So eine Wunde reißt kein normales Tier, auch kein Bär.«
»Wenn es ein Höllenhund war, dann kam er durch das Höllentor. Wir sind immer davon ausgegangen, es befände sich in der Wüste des Iraks, und nicht in Italien«, warf Simon ein.
»Wir wissen das, was die Idrin unseren Vorfahren gesagt haben«, konterte Elion. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie ihnen das ein andere verschwiegen haben.«
»Wir reden hier gerade wirklich über die Hölle?«, fragte ich erneut. »Die mit Feuer und Teufeln und ewigen Qualen, ja?«
»Kennst du noch eine andere Hölle?«, fuhr Lay mich an. »Außer die, deine Nähe inklusive inkompetenter Verstehensleistung ertragen zu müssen?«
Ich warf einen Burger nach ihr, doch sie wich spielendleicht aus.
»Ihr sprecht also von der Hölle, inklusive bissigen Monstern, die aus ihr entkommen sind. Großartig.« Ich wischte meine fettigen Hände am Laken ab, mit dem ich mich in der Nacht zugedeckt hatte. »Wirklich fantastisch. Was kommt als Nächstes: Eine Alieninvasion?«
»Wohl kaum.« Simon stand auf, ging zum Fenster und warf einen Blick durch den Spalt zwischen den Vorhängen. »Die Idrin kehren zurück und kurz darauf öffnet sich das Höllentor: Ich will ja kein Schwarzseher sein, aber das klingt mir verdächtig nach Weltuntergang.«
Aufstöhnend lehnte ich meinen Kopf gegen die Sofalehne. »Nehmt's bitte nicht persönlich, aber langsam habe ich keinen Bock mehr auf diese Scheiße.«
Elion warf mir ein freudloses Lächeln zu. »Wir machen Fortschritte, Marika: Jetzt sind wir uns schon zum zweiten Mal einig.«
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