Zebra
Ich folgte ihm durch den Wald. Für mich sah alles gleich aus und ich war mir sicher, dass ich nicht wieder zu unserem Lager zurückfinden würde.
Der Boden war hart und ich trat oft auf Steine. Ich wünschte, ich hätte meine Schuhe nicht am Fluss zurückgelassen, aber ich wollte vor Ivo nicht rumjammern. Ich kannte ihn nicht und er kannte mich nicht und ich wollte ihm keinen Grund geben zu denken, ich wäre auf ihn angewiesen.
Als er abrupt stoppte, stolperte ich in ihn hinein.
„Entschuldigung", murmelte ich schnell und sah in die Richtung, in die auch er schaute.
Ein Mädchen trat zwischen den Bäumen hervor. Sie war definitiv jünger, als ich und ihr braunes Haar, dessen Farbton fast der gleiche wie Ivos war, fiel ihr offen über den ganzen Rücken. Von ihrer Statur her erinnerte sie mich ebenfalls an ihn. Nur ihr Gesicht war ganz anders. Es war rund und nicht so markant. Sie trug ein schlichtes, dunkelgraues Kleid mit kurzen Ärmeln, das gerade so ihre Knie bedeckte. Sie trug außerdem keine Schuhe, was ein weiterer Grund war, nicht nach Schuhen zu betteln.
Als sie mich sah, warf sie Ivo einen fragenden Blick zu, der eindeutig sagte „Wer ist das?". Ich senkte meinen Blick auf den Boden und sah den Ameisen zu, die um meine Füße herum krabbelten, bis Ivo sich räusperte und ich meinen Kopf widerwillig hob.
„Chiara, das ist Zebra. Sie gehört zu den Waldgeistern und ist – naja - so eine Art Spionin. Sie informiert mich über alles, was bei den Waldgeistern geschieht. Außerdem versorgt sie mich mit Essen, Kleidung und sonstigen Dingen, die ich mir sonst nicht so einfach besorgen kann."
„Hallo, Chiara", sagte Zebra. Ihre Stimme war hoch und klar und nun lächelte sie mich freundschaftlich an. Sie sah nett aus. Um einiges vertrauenswürdiger als Ivo erschien. Wenn sie ihm traute, würde ich ihm auch trauen, beschloss ich.
„Schön dich zu...äh...treffen, Zebra", stotterte ich und hob die Hand zum Gruß.
„Wo hast du Ivo getroffen?", fragte sie, ohne ihr noch kindliches Lächeln aufzuhören. Sie war mir immer sympathischer.
„Er hat mir das Leben gerettet", murmelte ich und senkte beschämt den Kopf.
Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Darf ich Zebra erzählen was passiert ist?", fragte Ivo und ich drehte mich zu ihm um. „Aus meiner Sicht. Sie wird nichts erfahren, was ich nicht auch so schon wusste."
„Wenn du willst. Ich will es nur vergessen, falls dir das nicht klar ist", antwortete ich und rang mir ein Lächeln ab, weil es mir richtig erschien. Ich sah tief in seine braunen Augen und verlor mich fast darin, weil es ein Gefühl von Geborgenheit in mir hervorrief.
„Erzähl schon, Ivo", drängte Zebra und ich konzentrierte mich wieder auf sie.
„Na gut", begann Ivo und ich biss mir vor Spannung auf die Unterlippe.
„Ich ging dich gestern suchen, Zebra, als ich Chiara am Fluss sah. Sie stand auf einem der Felsen und starrte ins Wasser. Ich war neugierig und wartete, was passiert."
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich gewartet hatte, bis ich gesprungen war. In letzter Zeit schien ich anscheinend überhaupt nichts mehr zu bemerken. Genauso wenig hatte ich ihn gesehen und es kam mir komisch vor, dass er mich beobachtet hatte. Warum tat er so etwas? Das war nichts, was normale Menschen taten.
Ivo fuhr fort.
„Dann rutschte sie aus. Es sah so aus als hätte sie alles unter Kontrolle, bis dieser Junge kam um sie da rauszuholen. Da wurde sie auf einmal panisch und ich entschloss mich, sie da rauszuholen. Ich nahm sie und holte sie an Land, aber als ich diesen Jungen der mit ihr war retten wollte war er verschwunden."
Rico. Mehr konnte ich nicht denken.
„Ist das schrecklich", sagte Zebra und sah mich mitleidig an. Sie kam auf mich zu und umarmte mich. Ihre Offenheit überraschte mich, aber es störte mich nicht. Es war ein angenehmes Gefühl.
Ivo hatte nicht gesagt, dass ich springen wollte. Das sollte ich jetzt erzählen. Aber ich war ein Feigling. Ein verdammter Feigling.
Ich lächelte schwach.
„Komm mit, Kiki, so heißt du doch?", fragte mich Zebra.
Mein Magen zog sich zusammen. Kiki. So hieß Mias Kaninchen. Mir hatte sie erzählt, dass sie ihre Tochter so nennen wollte, falls sie eine bekäme.
Nun konnte ihr Wunsch nie mehr in Erfüllung gehen. Nie mehr.
„Ich heiße Chiara...aber... du kannst mich Kiki nennen", murmelte ich. „Ich mag den Namen."
„Oh, gut", antwortete Zebra. „Dann komm jetzt. Du kommst auch mit, Ivo. Ich habe eine Überraschung."
Ich kam mit ihr mit, obwohl ich es eigentlich nicht wollte. Ich wollte gar nichts. Außer vielleicht, dass die letzten Tage ungeschehen gemacht würden und ich alles noch einmal von vorne beginnen könnte. Es besser machen könnte.
Ich vertraute Zebra. Es gab keinen Grund es nicht zu tun. Sie war vielleicht anders, als andere elf- oder zwölfjährige Mädchen oder wie alt sie sein mochte, aber sie war offen, lächelte unentwegt und war immer freundlich.
Sie vertraute mir, obwohl es keinen Grund dazu gab, und das fand ich gut. Ich fühlte mich zum ersten Mal, seit der Schatten da war wieder besser. Ich musste die Geschehnisse nicht mehr verdrängen, sie ließ sie mich fast vergessen, aber sie waren immer noch präsent. Bloß in einer kleinen Nische in meinem Hinterkopf, wo sie nicht weiter störten.
„Zebra?", fragte ich vorsichtig. Es fühlte sich im ersten Moment merkwürdig an ihren Namen zu benutzen. Ich benutzte nie oft Namen. Ich fand es an den meisten Stellen überflüssig, außer vielleicht an solchen wie jetzt gerade, und redete lieber direkt.
Ivo und Zebra sagten ständig den Namen mit dazu. Als ob sie Bestätigung dafür suchten, dass man es wirklich war. Möglicherweise galt es bei den Waldgeistern auch einfach nur als höflich den Namen der angeredeten Person hinzuzufügen.
„Was ist denn, Kiki?" Schon wieder der Name.
„Wohin gehen wir?"
„Es wäre keine Überraschung, wenn du das wüsstest", sagte sie.
„Aber wenn du es mir sagst bringt es mir nichts, weil ich keine Ahnung von diesem Wald habe." Ich klang fast verzweifelt. Als ob es ein Hilferuf gewesen wäre.
„Ich sage es dir trotzdem nicht. Es soll schließlich eine Überraschung werden. Auch für dich, obwohl ich nicht damit gerechnet hätte, dass hier noch jemand auftaucht."
Ich mochte Überraschungen nicht. Zumindest keine unverhofften.
Wir liefen zwischen den Bäumen hindurch und mussten mehrmals die Richtung ändern, weil undurchdringbare Gestrüppe den Weg blockierten.
Irgendwann nach scheinbar endlosem Laufen und fast vollständigem Schweigen blieb Zebra vor einem Baum stehen. Er ragte hoch nach oben, aber seinen untersten Ast konnte ich locker umfassen. Von da an führten die restlichen Äste fast wie eine Art Treppe nach oben in die Baumkrone.
Zebra erklomm als Erste den Ast. Sie tat es elegant und man sah ihr an, dass sie es öfters tat. Ivo folgte ihr und auch konnte es perfekt. Ich brauchte mehr als doppelt so lange, bis ich endlich auf dem untersten Ast stand und von da an begann erst die Kletter-Tortur.
Zebra und Ivo waren viel schneller, als ich und die Äste, die ich für so eine einfach zu erkletternde Treppe gehalten hatte, lagen viel weiter auseinander, als ich vom Boden aus angenommen hatte.
Einerseits erleichterte es mir das Klettern, das ich keine Schuhe trug, andererseits begannen meine Füße schnell zu schmerzen.
Ich versuchte mich an die Stunden zu erinnern, die ich als Kind mit Klettern verbracht hatte. Der Waldrand war immer unser Spielplatz gewesen, wenn unsere Eltern es uns denn erlaubten, denn sie hatten immer Angst, wir würden zu weit hineingehen und nicht wieder zurückfinden. Sie hatten mit dieser Angst wahrscheinlich Recht gehabt. Ich hatte allerdings nie daran gedacht, mich einfach so davonzuschleichen. Ich war immer nur zum Klettern gekommen. Ich hatte es auch damals schon barfuß gemacht und meine Kleider hatten sich nur geringfügig von dem Nachthemd unterschieden, dass ich jetzt immer noch trug. Ich war ungeübt und wahrscheinlich waren mir die Bäume als Kind viel höher erschienen als sie in Wirklichkeit waren, aber ich musste mir unbedingt gut zureden, um die Kletterpartie zu bewältigen.
Schließlich hatte ich keine Kraft mehr, mich noch weiter von Ast zu Ast hinaufzuhieven und wartete nur noch auf das Ende.
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