Kapitel 6
Justus Jonas war zu spät. Und das ärgerte ihn maßlos. Vor allem, weil es keinen triftigen Grund dafür gab. Er hatte einfach nur verschlafen. Niemals hätte er gestern auf Peters Angebot eingehen und mit in die neue Bar gehen sollen. Der Abend war lang geworden und heute Morgen hatte er doch glatt den Wecker überhört. Immerhin hatte er sich mit dem Alkohol zurückgehalten. Ein Kater würde ihm gerade noch fehlen. So fühlte er sich wenigstens nur unsagbar müde.
Mit einer Tüte voller belegter Bagels in der einen und einem Coffee-To-Go in der anderen Hand, eilte er die Straße entlang bis zu seinem Büro. Für ein Frühstück war keine Zeit mehr gewesen. Noch ein Grund mehr, sich zu ärgern. Er hasste es morgens keine Zeit zu haben. Ein ruhiges, nahrhaftes Frühstück war ihm heilig und maßgeblich für den erfolgreichen Verlauf des Tages.
Er stieß die Tür zum Gebäude mit der Schulter auf und stieg eilig die Treppen in den zweiten Stock hinauf. Er hatte keine Geduld, auf den alten, ewig langsamen Aufzug zu warten. Zwar hatte er keinen Termin, aber es wäre unverzeihlich, wenn er durch sein Verschlafen einen wichtigen Anruf verpassen würde.
Als er den Flur zu seinem Büro erreichte, blieb er abrupt stehen. Vor der Tür stand jemand. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter, mit einem beigen Sommerkleid, unter dem ihre schlanken Beine hervorschauten. Die braunen Haare hatte sie locker zu einem Dutt nach oben gebunden. Einige Strähnen waren herausgefallen und umspielten ihr hübsches Gesicht. Als sie ihn bemerkte, huschte ein Lächeln darüber.
»Mr. Jonas?«
»Ja, ganz recht. Hatten wir einen Termin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich hatte gehofft, sie würden auch ohne Termin Zeit für mich finden.«
»Ich muss mich für die Verspätung entschuldigen. Warten Sie schon lange?« Justus eilte zu seiner Tür und versuchte umständlich den Schlüssel mit der Hand aus der Hosentasche zu ziehen, mit der er die Tüte mit seinem Frühstück trug.
»Nein, erst wenige Minuten. Kann ich Ihnen etwas abnehmen?«, bot die Dame an.
Ehe er sich versah, wurde ihm die Tüte abgenommen. Er spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Dankbar für ihre Hilfe, aber verärgert über sein ungeschicktes Verhalten, kramte er den Schlüssel heraus und öffnete die Tür zu seinem Büro.
Es war nichts Besonderes. Ein großer Vorraum, mit einem ausladenden Schreibtisch aus hellbraunem Holz und Regalwänden voller Ordner und Akten. Daneben ein kleinerer Raum, den er als Archiv und Labor nutzte, sowie ein Bad und eine kleine Küche. Klein, fein, zweckmäßig, aber dennoch gemütlich.
»Bitte treten Sie ein. Nehmen Sie doch Platz«, er wies auf einen Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch und wandte sich selbst in Richtung Küche. »Ich bin sofort wieder da. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Tee? Wasser?«
»Ein Wasser, bitte.«
Er nickte und verschwand, nicht ohne ihr vorher die Tüte mit einem entschuldigenden Lächeln abzunehmen. In der Küche stellte er sein Frühstück schnell auf die Arbeitsplatte und suchte nach einem sauberen Glas.
Wird mal wieder Zeit für den Abwasch, dachte er und grummelte leise vor sich hin.
Bevor er die Küche verließ, schloss er die Augen, atmete tief durch und versuchte den Ärger beiseite zu schieben.
Konzentration, Justus Jonas, du hast Kundschaft!
Als er das Büro betrat, warf er ihr einen schnellen, prüfenden Blick zu. Sie ihrerseits schaute sich neugierig in seinem Büro um. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Das Gefühl hatte er bereits bei ihrem ersten Anblick gehabt. Aber er kam einfach nicht darauf, wo er ihr begegnet war.
Er stellte ihr das Glas Wasser hin und setzte sich auf seinen Stuhl.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Miss …«, fragend hob er die Augenbrauen.
»Eyleen ist mein Name. Eyleen Beddington«, antwortete sie lächelnd. »Nun, ich weiß nicht so ganz, ob sie mir tatsächlich helfen können.«
Justus erwiderte ihr Lächeln. »Ich werde mein Bestes geben. Bitte berichten Sie erst einmal. Danach kann ich immer noch entscheiden, ob ich etwas für Sie tun kann.« Er griff hinter sich und angelte sich aus dem Regal einen Block, sowie einen Stift. Eigentlich beides völlig unnötig, dank seines ausgezeichneten Gedächtnisses, aber aus Erfahrung wusste er, dass es bei Kunden gut ankam, wenn er sich Notizen machte.
Kurz zögerte sie. »Es geht um meinen Mann.«
Justus seufzte innerlich und bemühte sich um eine interessierte Miene, die keinerlei Hinweise auf seinen Unmut zeigte. Diese Art von Ermittlungen verabscheute er. Eifersüchtige Ehefrauen – manchmal auch Männer, aber hauptsächlich waren es tatsächlich Frauen –, die ihren Ehepartnern hinterher spionieren und einen Beweis für deren Untreue haben wollten. Nunja, der Tag war sowieso schon schlecht gestartet. Wieso wunderte er sich dann noch? Er würde es handhaben, wie immer. Sich die Geschichte anhören und den Auftrag dann höflich, aber bestimmt ablehnen und zur Tagesordnung übergehen. Immerhin wartete noch mehr als genug Arbeit auf ihn.
Doch sie überraschte ihn. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte nicht, dass sie gegen ihn ermitteln, weil er mich angeblich betrügt«, meinte sie schnell, als hätte sie seine Gedanken erraten.
Er horchte auf.
»Es geht vielmehr um seine Vergangenheit. Wir haben uns im Studium kennengelernt, vor nicht ganz zehn Jahren. Seit einigen Jahren sind wir verheiratet. Aber vor kurzem habe ich etwas auf dem Dachboden gefunden, das mich stutzig gemacht hat und mich zweifeln lässt, ob ich ihn wirklich so gut kenne, wie ich dachte.« Sie machte eine Pause.
»Was haben Sie gefunden?«, fragte Justus, während er etwas auf seinem Block notierte.
»Eine … Kiste. Mit Fotos, Briefen und anderen Dingen. Alte Erinnerungen, die mir bisher unbekannt waren. Es scheint, als hätte er mir seine gesamte Kindheit und Jugend verheimlicht.«
»Haben Sie ihn darauf angesprochen?«
»Ja, noch am gleichen Abend. Aber es war wenig erfolgreich. Wir haben uns heftig gestritten, aber Antworten habe ich keine erhalten.« Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. »Wissen Sie, ich möchte keine alten Wunden aufreißen. Wenn er seinen Grund hat, mir seine Freunde zu verheimlichen, dann würde ich das auch akzeptieren … Wenn es ihn psychisch nicht so mitnehmen würde.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er ist damals aus seiner Heimatstadt fast schon geflohen. Seine Eltern leben noch in Rocky Beach, aber wir besuchen sie nur selten. Wenn wir dort sind, wird er so merkwürdig still und in sich gekehrt. Er verdrängt seine Erinnerungen, verleugnet seine Vergangenheit und jeden, mit dem er aufgewachsen ist. Und es tut ihm nicht gut.«
Justus runzelte die Stirn. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Irgendwas war hier faul. »Gab es einen Auslöser für diese Flucht?«
»Ja, es gab einen schweren Unfall.«
Nun verharrte er in der Schreibbewegung und sah sie forschend an. Und plötzlich hatte er wieder das Gefühl, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Ihr Blick hatte sich verändert. Hatte jetzt etwas lauerndes, als würde sie jede seiner Regungen registrieren. Sie machte nicht mehr den Eindruck einer besorgten Ehefrau. Eher wie jemand, der gespannt auf etwas wartete.
Sie fuhr fort: »Über diesen Unfall weiß ich nicht viel. Angeblich ein Autounfall, aber auch hier hüllt er sich in Schweigen. Genauso wie seine Eltern. Er hat eine lange Narbe an der Schulter davongetragen.«
Justus schrieb nicht mehr. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Narbe an der Schulter, Unfall. Konnte es tatsächlich sein?
Er räusperte sich. »Wie kann ich Ihnen in dieser Sache helfen?«
»Nun, ich möchte erfahren, was damals passiert ist«, sagte sie, jetzt eindringlich. »Es geht mir wirklich nicht darum, meine Neugierde zu befriedigen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte es verstehen. Ich möchte verstehen, warum er sein Leben nach diesem Unfall weggeworfen hat. Was ihn dazu bewogen hat. Warum er diese furchtbaren Alpträume hat. Und dann hoffe ich, dass ich ihm helfen kann, die Geister der Vergangenheit endlich zu besiegen.«
Justus schwieg und studierte weiterhin ihr Gesicht. Und plötzlich wusste er, woher er sie kannte. Er erinnerte sich an die junge Frau am Tag der Offenen Tür auf dem Schrottplatz. Die er angesprochen hatte, wegen der Schale in ihrer Hand und die ihn daraufhin weiter beobachtet hatte. Sie hatte eine Sonnenbrille getragen. Und dennoch hatte er ihre Blicke bemerkt, aber keine Zeit gehabt, sich näher damit zu beschäftigen. Und im Trubel des Tages war ihm diese Beobachtung dann auch schlussendlich entfallen.
Er blickte auf seine Notizen und runzelte die Stirn. Was war das hier für ein Spiel?
Seine Kundin schien zu merken, dass sich etwas an seiner Körpersprache verändert hatte. Sie lehnte sich nach vorne und fuhr fort: »Ich möchte, dass Sie für mich herausfinden, was geschehen ist und seine ehemaligen Freunde ausfindig machen. Ich würde gerne mit ihnen sprechen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Freunde sind?«, fragte er, auch wenn er die Antwort bereits kannte.
»Ja, ich habe hier etwas. Einen Moment.« Er bemerkte ein Zucken um ihre Mundwinkel. Irrte er sich oder wirkte sie fast schon zufrieden? Sie griff nach ihrer Tasche und suchte einige Zeit. Dann zog sie eine kleine Karte hervor und schob sie über den Tisch in seine Richtung.
Die Visitenkarte, die vor ihm lag, kannte er nur zu gut. Er brauchte sie nicht lesen, er wusste auch nach so vielen Jahren noch auswendig, was darauf stand. Statt nach der Karte zu greifen, ließ er seine geheimnisvolle Klientin nicht aus den Augen.
»Was wollen Sie?«, fragte er sie direkt.
»Antworten.« Sie musterte ihn aufmerksam. »Mr. Jonas, ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen«, gestand sie nun. »Mein Name ist Eyleen Andrews. Beddington ist mein Mädchenname. Alles andere, was ich berichtet habe, stimmt aber. Ich möchte wissen, was passiert ist. Warum er diese Narben hat, sowohl physische als auch psychische. Ich will ihm helfen. Und das kann ich nur, wenn ich es verstehe.«
Justus schwieg – lange. Sein sonst so gut funktionierendes Hirn verweigerte den Dienst. Diese Visitenkarte nach so vielen Jahren wieder zu sehen. Die Namen darauf zu lesen. Dann noch die angebliche Frau seines ehemals besten Freundes, der sich einfach aus ihrem Leben verabschiedet hatte. So unerwartet und so schmerzhaft. Es war zu viel, als dass er innerhalb weniger Minuten Klarheit erlangt hätte. Noch heute fühlte Justus einen schmerzhaften Stich, als er an diese Zeit zurückdachte.
Nach einiger Zeit holte er tief Luft. »Mrs. … Andrews.« Es war seltsam, diesen Namen nach so langer Zeit auszusprechen. Und doch vermied er es bewusst, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen, um sich eine professionelle Distanz zu bewahren, auch wenn sie es zu Beginn quasi angeboten hatte. »Ich befürchte, dass ich Ihnen in Ihrem Anliegen aufgrund meine eigenen Befangenheit nicht behilflich sein kann. Ich kann ihren Auftrag leider nicht annehmen.«
Sie versuchte einen enttäuschten Ausdruck aufzusetzen. Doch Justus hatte den Eindruck, dass sie zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs war.
»Schade, aber ich habe vollkommenes Verständnis dafür«, wieder griff sie in ihre Tasche und zog eine weitere Visitenkarte hervor. »Falls Sie es sich doch anders überlegen, hier ist meine Karte.« Damit stand sie auf und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr. Jonas«, sagte sie lächelnd.
Er zwang sich zu einem Lächeln und begleitet sie nach draußen.
Vor der Tür blieb sie erneut stehen und suchte Blickkontakt. “Ich möchte noch einmal klarstellen, dass es mir nicht um meine Neugierde geht. Aber ich bin der Meinung, dass manche Wunden nicht dadurch heilen, dass man sie ignoriert.” Sie nickte ihm zu und verließ das Büro.
Als er die Tür hinter ihr schloss, lehnte er für einen kurzen Moment die Stirn gegen das Holz. Erst jetzt merkte er, wie seine Hände zitterten und er wartete, bis es wieder vorbei war.
Atmen, Justus, atmen!
Als er sich beruhigt hatte, wanderte sein Blick auf die beiden Karten, die sie ihm auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte.
Was für ein Tag!
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