Striche Und Dornen
Jisung PoV
Es war eine bewusste Entscheidung gewesen, den Kunstraum zu meiden. Nach der letzten Begegnung mit Minho hatte ich mir geschworen, einen großen Bogen um diesen Ort zu machen.
Doch die Wahrheit war, dass mir etwas fehlte.
Das vertraute Gefühl von Kohle auf Papier, die beruhigende Stille des Raums, die Möglichkeit, meine Gedanken in etwas Sichtbares zu verwandeln.
Und wenn ich ehrlich war, fehlte mir auch Minho – oder besser gesagt, seine rätselhafte Präsenz, die mich gleichermaßen faszinierte und frustrierte.
An diesem Morgen fühlte ich mich mutig.
Vielleicht war es der sonnige Himmel oder das sanfte Kribbeln meiner Finger, das mich drängte, wieder zu zeichnen.
Ich wusste, dass ich mich nicht ewig verstecken konnte.
Also schlenderte ich zum Kunstraum, die Hände in den Taschen, den Kopf voller Ideen, die ich zu Papier bringen wollte.
Doch als ich die Tür öffnete, erstarrte ich.
Er war da.
Minho saß auf dem einen Tisch, der in dem kleinen Raum stand, seine langen Beine lässig über die Kante baumelnd, als gehöre ihm das Zimmer.
Seine dunklen Haare fielen ihm leicht ins Gesicht, und als er mich bemerkte, hob er den Kopf und schenkte mir dieses selbstgefällige Lächeln, das ich mehr hasste, als ich zugeben wollte.
„Da bist du ja endlich,“ sagte er, als hätte er die ganze Zeit auf mich gewartet.
Ich wollte etwas Schlagfertiges erwidern, aber meine Stimme blieb mir im Hals stecken.
Stattdessen schloss ich die Tür hinter mir, zog meinen Rucksack von der Schulter und setzte mich an meinen üblichen Platz.
Meine Finger griffen nach dem Bleistift, doch ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Du bist mir aus dem Weg gegangen.“ Minhos Stimme war ruhig, fast beiläufig, aber ich spürte den Vorwurf darin.
„Habe ich nicht.“
Ich blickte nicht auf, sondern starrte stattdessen auf das leere Blatt vor mir.
„Doch, hast du,“ beharrte er.
„Das war ein ziemlicher Rückzug, findest du nicht?“
Ich biss die Zähne zusammen, aber ich ließ mich nicht auf seine Spielchen ein.
„Was machst du überhaupt hier?“ fragte ich stattdessen, um das Thema zu wechseln.
„Ich habe auf dich gewartet.“
Seine Ehrlichkeit überraschte mich, und ich warf ihm einen skeptischen Blick zu.
„Warum?“
Minho zuckte mit den Schultern. „Weil ich dich sehen wollte. Und weil ich finde, dass wir reden sollten.“
„Über was?“
Ich versuchte, die aufsteigende Panik in meinem Inneren zu ignorieren.
„Über uns.“
Er lehnte sich zurück, stützte sich mit den Händen ab und musterte mich mit einem Blick, der mich nervöser machte, als ich zugeben wollte.
Ich lachte trocken. „Es gibt kein ‚uns‘, Minho.“
„Das sagst du jetzt.“
Er grinste, und ich konnte den Anflug von Selbstgefälligkeit in seiner Stimme nicht überhören.
„Aber du bist doch genauso neugierig auf mich wie ich auf dich.“
Ich wollte protestieren, aber seine Worte trafen mich, als hätte er etwas ausgesprochen, was ich selbst nicht zugeben wollte.
Ich konzentrierte mich stattdessen auf mein Papier, ließ den Bleistift in meiner Hand kreisen, ohne eine Ahnung zu haben, was ich zeichnen sollte.
Minho beobachtete mich, und die Spannung in der Luft wurde fast greifbar. Schließlich war er es, der die Stille brach.
„Zeichne mich.“
Ich sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Was?“
„Zeichne mich,“ wiederholte er mit einem Grinsen.
„Du sitzt da und überlegst, was du zeichnen sollst. Warum nicht mich?“
„Warum sollte ich?“ fragte ich misstrauisch.
Er zuckte mit den Schultern.
„Weil du es kannst. Und weil du es willst.“
Ich wollte protestieren, aber meine Neugier war geweckt.
Ich sah ihn an, und mein Künstlerauge begann unwillkürlich, die Linien seines Gesichts zu analysieren – die scharfen Kanten seiner Wangenknochen, die geschwungene Linie seiner Lippen, die Art, wie das Licht in seinen dunklen Augen tanzte.
Es war ärgerlich, wie perfekt er wirkte.
„Na schön,“ sagte ich schließlich und griff nach meinem Skizzenblock. „Aber wenn du dich bewegen willst, vergiss es.“
„Ich werde so still sein wie eine Statue,“ versprach er mit einem amüsierten Lächeln.
Doch bevor ich anfangen konnte, fügte er hinzu: „Vielleicht solltest du mein Hemd öffnen. Du weißt schon, für die Kunst.“
Ich starrte ihn an, überzeugt, dass er mich nur ärgern wollte.
Aber er sah mich nur herausfordernd an, und ich merkte, dass er es ernst meinte.
„Mach, was du willst,“ murmelte ich schließlich und versuchte, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
Als Minho begann, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, wusste ich nicht, wohin ich schauen sollte.
Meine Augen wollten sich abwenden, doch sie blieben wie magnetisch an seinen Händen haften, die sich langsam und selbstsicher bewegten. Schließlich ließ er das Hemd über seine Schultern gleiten, und ich musste schlucken.
Seine Haut war blass, fast wie Elfenbein, aber nicht auf eine kränkliche Art – sie hatte eine makellose, beinahe leuchtende Qualität.
Das Licht, das durch die Fenster fiel, legte sich sanft auf seine Schlüsselbeine, die wie feine, elegante Linien hervortraten.
Seine Brust war definiert, aber nicht übermäßig muskulös, eher schlank und geschmeidig, mit einer subtilen Stärke, die man erst auf den zweiten Blick bemerkte.
Ich bemerkte den leichten Schatten unter seinem Brustkorb, wo die Konturen seiner Rippen und Bauchmuskeln sichtbar wurden, wenn er sich bewegte – eine natürliche Schönheit, die nicht gekünstelt wirkte.
Meine Augen glitten weiter, über die zarte Linie seiner Taille, wo seine Hose etwas locker saß.
Die Art, wie sein Atem seine Brust leicht hob und senkte, machte mich nervös.
Es war intim, fast zu intim, ihn so zu betrachten, als wäre ich der einzige, der ihn in diesem Moment sehen durfte.
„Faszinierend, oder?“ Seine Stimme unterbrach meine Gedanken, und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden.
„Stillhalten,“ murmelte ich und zwang mich, den Blick auf das Papier zu richten, obwohl das Bild seines Oberkörpers sich bereits tief in mein Gedächtnis eingebrannt hatte.
„Beeindruckt?“ fragte er mit einem Augenzwinkern.
Mit jedem Strich, den ich auf das Papier setzte, wurde ich ruhiger.
Es war seltsam – obwohl Minho mich ständig aus der Fassung brachte, fühlte ich mich beim Zeichnen konzentriert und geerdet.
Seine Züge entstanden unter meinen Händen, und ich konnte nicht anders, als die Perfektion seiner Proportionen zu bewundern.
Er war ein Ärgernis, ja, aber er war auch eine faszinierende Muse.
Minho sprach nicht, und ich war dankbar dafür.
Doch irgendwann spürte ich, wie er sich leicht bewegte, als wollte er mich berühren.
Ohne nachzudenken hob ich die Hand.
„Nicht bewegen.“
Er hielt inne, sah mich an und lächelte dann. „Wie du willst.“
Als ich fertig war, lehnte ich mich zurück und betrachtete mein Werk. Es war gut geworden, vielleicht sogar besser, als ich erwartet hatte.
Minho hatte etwas in sich, das sich perfekt in Kunst übersetzen ließ – eine Kombination aus Stärke und Sanftheit, aus Arroganz und Verletzlichkeit.
„Bist du zufrieden?“ fragte er schließlich.
Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich mit der Zeichnung oder mit meinen Gefühlen ihm gegenüber zufrieden war.
Plötzlich zog Minho etwas hinter sich hervor – einen Strauß roter Rosen.
Er reichte ihn mir mit einem leichten Lächeln.
„Für dich.“
Ich blinzelte überrascht.
Woher hatte er die?
Und warum gab er sie mir?
Ich nahm den Strauß vorsichtig, betrachtete die satten, roten Blüten und den schimmernden Tau auf den Blättern.
„Ich mag keine Rosen,“ sagte ich schließlich und schob den Strauß zurück in seine Hände, während ich mich an ihm vorbeidrückte.
Als ich zur Tür hinausging, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Minho war ein Rätsel, eines, das ich vielleicht niemals lösen würde – aber vielleicht war das genau das, was mich an ihm so faszinierte.
🌹
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro