Schatten Auf Papier
Jisung PoV
Ich saß an meinem Schreibtisch, den Bleistift locker in der Hand, während ich über das Papier fuhr.
Die leise Geräuschkulisse von Felix' Stimme im Hintergrund beruhigte mich mehr, als ich zugeben wollte.
Er lehnte an der Tür, ein Croissant in der einen und sein Handy in der anderen Hand.
„Also, ehrlich, Jisung, du hättest sehen sollen, wie Changbin heute in der Cafeteria einen ganzen Tablettstapel umgeworfen hat. Es war wie ein Dominoeffekt. Einfach köstlich!“
Felix lachte, ein freies, sorgloses Lachen, das den Raum erfüllte.
„Klingt nach einem weiteren typischen Changbin-Moment,“ murmelte ich abwesend, die Spitze meines Bleistifts erneut auf das Papier setzend.
Meine Striche wurden kräftiger, bestimmter, als ob meine Gedanken sich durch die Linien ausdrücken wollten.
„Aber genug davon,“ fuhr Felix fort und musterte mich neugierig.
„Was ist mit dir und diesem reichen Typen, Minho oder wie er heißt? Ihr scheint euch irgendwie anzuziehen, obwohl du ihn ständig schlecht machst.“
Ich spürte, wie meine Hand für einen Moment zögerte.
„Er ist…“
Ich seufzte und ließ den Bleistift sinken.
„Arrogant, überheblich und—“
„Attraktiv?“ Felix hob eine Augenbraue, und sein Grinsen sprach Bände.
„Komm schon, Jisung, du musst zugeben, dass er nicht schlecht aussieht.“
„Das hat nichts damit zu tun!“ protestierte ich, meine Stimme etwas lauter als beabsichtigt.
„Er ist einfach… kompliziert. Und ich hab genug eigene Probleme, um mich nicht mit seiner chaotischen Welt auseinandersetzen zu müssen.“
Felix zog die Schultern hoch und biss in sein Croissant.
„Klingt eher, als würdest du versuchen, dich selbst zu überzeugen.“
Ich ignorierte ihn, obwohl seine Worte wie kleine Nadeln unter meiner Haut stachen.
Meine Finger fanden den Bleistift wieder, und bevor ich es wusste, flogen sie erneut über das Papier. Stück für Stück nahm die Zeichnung Form an.
Ich begann mit den Augen, dunkle, durchdringende Linien, die diesen Hauch von Geheimnis einfingen. Dann die markanten Wangenknochen, die sich mit einer sanften Kurve in den Schatten verloren.
Seine Lippen, leicht geöffnet, als würde er im nächsten Moment etwas sagen – vielleicht eine weitere seiner provokanten Bemerkungen.
„Jisung, bist du noch bei mir?“ fragte Felix und trat näher, sein Blick wanderte neugierig zu meinem Skizzenblock.
„Warte… das ist doch nicht etwa wieder—?“
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich realisierte, was ich getan hatte. Unter meinen Händen war erneut Minho entstanden, dieses Mal in einer intensiven, nachdenklichen Pose, mit einer Mischung aus Stolz und Verletzlichkeit, die ich nicht einmal absichtlich eingefangen hatte.
Die Tischlampe warf ihr warmes, goldenes Licht auf die Skizze.
Es tanzte über die fein schattierten Details, verlieh den Augen Tiefe, den Lippen einen Hauch von Lebendigkeit.
Der Schatten des Lichts ließ es fast lebendig wirken, als könnte Minho jeden Moment aus dem Papier heraustreten.
Ich starrte auf die Zeichnung, während mein Brustkorb sich schwer hob und senkte.
Es war, als würde das Bild mich aus einer unsichtbaren Distanz heraus betrachten.
„Warum…“ flüsterte ich, fast zu mir selbst, „zeichnet meine Hand ihn immer wieder?“
„Weil er dir nicht egal ist,“ sagte Felix leise, seine vorherige Leichtigkeit verschwunden.
Er legte eine Hand auf meine Schulter.
„Und vielleicht solltest du dir endlich eingestehen, dass das okay ist.“
Ich senkte den Kopf, ließ den Bleistift auf den Schreibtisch rollen. „Vielleicht,“ murmelte ich, ohne den Blick von der Zeichnung zu lösen. Aber in mir tobte ein Sturm aus Verwirrung und Angst, eine Mischung aus Gefühlen, die ich nicht definieren konnte.
Das Licht der Lampe spiegelte sich in meinen Augen, und das Porträt vor mir schien mit jedem Augenblick realer zu werden – so real, dass ich nicht wusste, ob es mich faszinierte oder erschreckte.
"Aber wieso sollte er mir wichtig sein, wenn ich ihn gerade mal eine Stunde kenne?", fragte ich.
"Liebe auf den ersten Blick?", meinte Felix und setzte sich auf mein Bett.
"Ach hält die Fresse, du hilfst mir auch nicht weiter," fauchte ich zurück.
Felix lachte leise, ein ruhiges, wissendes Lachen, das mich noch mehr irritierte.
„Reg dich ab, Jisung. Ich sag doch nur, was ich sehe.“
Ich drehte mich zu ihm um, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Und was siehst du, hm? Ein komplett verwirrtes Wrack, das keine Ahnung hat, was es tut?“
„Vielleicht ein bisschen,“ gab er frech zurück, zog aber schnell die Schultern hoch, als ich ihn finster anstarrte. „Aber ich sehe auch jemanden, der sich gerade selbst überrascht. Jemanden, der jemanden gefunden hat, der ihn herausfordert.“
„Ich brauche keine Herausforderung,“ sagte ich abwehrend und drehte mich wieder zum Schreibtisch.
Doch meine Augen fanden sofort die Zeichnung – sein Gesicht, das mich fast vorwurfsvoll anblickte.
Mein Herz zog sich zusammen.
„Das sagst du jetzt,“ fuhr Felix fort. „Aber du hast ihn trotzdem gezeichnet. Schon wieder. Und das spricht Bände, mein kleiner Bruder.“
„Hör auf, das zu analysieren,“ murmelte ich, die Finger auf der Tischplatte trommelnd.
„Vielleicht war es nur…“
„Instinkt?“
Felix hob eine Augenbraue, als ich mich erneut zu ihm umdrehte. „Zufall? Klar, red dir das ruhig weiter ein.“
„Kannst du nicht einfach mal ernst sein?“ fauchte ich.
Er wurde still, sah mich mit einem ungewohnt weichen Blick an.
„Ich bin ernst, Jisung. Manchmal passieren Dinge, die keinen Sinn machen, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht echt sind. Vielleicht solltest du einfach mal aufhören, gegen alles anzukämpfen, und sehen, wohin es führt.“
Ich lachte trocken.
„Du lässt es so klingen, als wäre das hier ein romantischer Film.“
„Und wenn es das ist?“
Felix grinste wieder, schmiss sich in die Kissen auf meinem Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Manchmal ist das Leben kitschiger, als man denkt.“
Ich stöhnte frustriert und fuhr mir durch die Haare.
Meine Gedanken kreisten wieder um Minho.
Seine intensiven Augen, die lässige Art, wie er mich provozierte, als wüsste er genau, wie er mich aus dem Gleichgewicht bringen konnte.
Und doch… etwas an ihm fühlte sich an wie ein Puzzle, das ich unbedingt lösen wollte – oder musste.
Meine Hand wanderte wieder zum Bleistift, fast ohne es zu merken.
Ich strich über die bereits gezeichneten Linien, verstärkte hier und da den Schatten, fügte Details hinzu, die ich zuvor ausgelassen hatte.
Die Lampe auf meinem Tisch ließ die Striche lebendig wirken, als ob Minho mich direkt ansah.
„Vielleicht hast du recht,“ flüsterte ich schließlich, fast mehr zu mir selbst. „Vielleicht überrascht er mich.“
Felix hob den Kopf, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.
„Natürlich habe ich recht. Ich bin schließlich der klügere Han-Bruder.“
„Das war ein Fehler, das zuzugeben,“ murmelte ich und warf meinen Radiergummi nach ihm, den er spielend leicht auffing.
Doch trotz unserer üblichen Neckereien blieb ein Teil von mir still und nachdenklich.
Denn so sehr ich es auch leugnen wollte, Felix hatte recht: Minho war kein gewöhnlicher Gedanke, der einfach verschwand.
Er war wie ein Schatten, der mich verfolgte.
Vielleicht musste ich erst kosten, um ihn loszuwerden.
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