Ein Augenblick
Jisung PoV
Der Englischunterricht war normalerweise einer der wenigen Momente, in denen ich mich halbwegs entspannen konnte.
Nicht, weil ich besonders gut in Englisch war, sondern weil unser Lehrer, Christopher Chan, es irgendwie schaffte, die Atmosphäre im Raum angenehm zu halten.
Nun, angenehm für die meisten jedenfalls.
Heute war es schwer, diese entspannte Atmosphäre zu spüren.
Ich ließ meinen Blick über die Klasse schweifen und unterdrückte ein Seufzen.
Fast die Hälfte meiner Mitschüler saß verträumt da, ihre Köpfe leicht geneigt, ihre Blicke starr auf Mr. Chan gerichtet, als wäre er der Protagonist einer kitschigen Liebesserie.
Es war fast lächerlich, wie offensichtlich sie in ihn verschossen waren.
Selbst mein bester Freund Seungmin hatte diesen leicht belustigten Ausdruck, als würde er all die Schwärmereien im Raum genießen.
„Ist ja fast wie ein Live-Romantik-Drama," murmelte ich, während ich einen Blick auf meinen Notizblock warf, den ich seit zehn Minuten mit belanglosen Kritzeleien füllte.
Seungmin lehnte sich zu mir herüber und flüsterte: „Wenigstens bist du immun gegen seinen Charme."
„Oh, bitte," sagte ich, meine Stimme leise, aber mit genug Genervtheit, um meinen Punkt zu verdeutlichen.
„Es ist ein Wunder, dass er überhaupt unterrichtet, wenn die halbe Klasse ihn anstarrt, als wäre er ein Kunstwerk im Louvre."
„Man könnte meinen, du bist eifersüchtig," neckte Seungmin mit einem schiefen Grinsen.
„Ich? Auf diesen ganzen Zirkus?" Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Außerdem habe ich schon genug mit einem bestimmten Problem zu tun."
Seungmins Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Du meinst Minho?"
Allein der Klang seines Namens ließ mein Blut kochen.
„Ja, genau den. Dieser arrogante, selbstgefällige, viel zu gut aussehende Mistkerl. Kannst du dir vorstellen, was er zu mir gesagt hat?"
Seungmin zuckte mit den Schultern, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Neugier und Vorsicht.
„Was denn?"
„Er hat mich indirekt als jemanden bezeichnet, der keine Ahnung von der Welt hat!" zischte ich, während ich versuchte, meine Stimme nicht zu laut werden zu lassen.
„Nur weil er in seiner glitzernden kleinen Blase lebt, denkt er, er könnte über alle anderen urteilen. Und dann diese selbstgerechte Art, wie er mich angesehen hat... Ich schwöre, Seungmin, dieser Typ macht mich wahnsinnig!"
Seungmin grinste leicht, wahrscheinlich mehr über meine leidenschaftliche Wut als über irgendetwas anderes.
„Du redest ziemlich viel über ihn, weißt du?"
„Ja, weil ich ihn nicht ausstehen kann!"
Ich riss meinen Blick von meinem Notizblock los und funkelte Seungmin an.
„Ich meine, wer glaubt er eigentlich, wer er ist? Nur weil er in einem Anzug herumläuft und mit diesem perfekten Lächeln alle um den Finger wickelt, heißt das nicht, dass er besser ist als wir. Er ist nichts weiter als ein verwöhntes, selbstverliebtes..."
„Mr. Han?"
Die Stimme war ruhig, aber klar und unüberhörbar.
Ich erstarrte, mein Kopf ruckte in Richtung des Lehrerpults.
Christopher Chan sah mich mit einem hochgezogenen Augenbrauenpaar an, während der Rest der Klasse plötzlich wieder aus ihrem verträumten Zustand erwachte und mich anstarrte.
„Ähm... ja?" brachte ich schließlich hervor, obwohl meine Stimme mindestens zwei Oktaven höher war als üblich.
„Da Sie so angeregt mit Ihrem Sitznachbarn diskutieren, gehe ich davon aus, dass Sie die Aufgabe verstanden haben," sagte er mit einem leichten Lächeln, das nicht ganz unfreundlich war, aber definitiv genug Druck aufbaute, um mich noch nervöser zu machen.
Mein Herz begann schneller zu schlagen.
„Ähm... die Aufgabe?"
Seungmin flüsterte leise aus dem Augenwinkel: „Übersetze den letzten Satz von Absatz zwei."
„Genau, Mr. Han," fügte Mr. Chan hinzu und nickte ermutigend.
„Absatz zwei, der letzte Satz. Bitte übersetzen Sie ihn für uns."
Meine Hände waren schweißnass, und mein Kopf fühlte sich plötzlich so leer an wie eine Wüste.
Ich griff nach Seungmin's Lehrbuch, da ich meins nie mit hatte, und suchte hektisch nach dem entsprechenden Absatz.
Innerlich verfluchte ich Minho, Seungmin und die gesamte Existenz des Englischunterrichts.
Endlich fand ich die Stelle und begann zu stottern: „Ähm... ‚The dreams we chase often reveal... äh... much more about ourselves... äh... than about the goals we aim for.'"
„Sehr gut," sagte Christopher, und ich konnte schwören, dass er ein kleines Grinsen verbarg.
„Ein bisschen zögerlich, aber die Übersetzung ist korrekt. Vielen Dank, Jisung."
Die Klasse begann zu murmeln, und ich konnte spüren, wie meine Wangen rot anliefen.
Ich sank tiefer in meinen Sitz, während Seungmin neben mir versuchte, sein Lachen zu unterdrücken.
„Hör auf zu grinsen, Seungmin," murmelte ich, immer noch halb in den Boden versinkend.
„Ich sag ja nur," flüsterte er zurück, „wenn Minho dich so aufregt, warum redest du dann die ganze Zeit über ihn?"
Ich murmelte leise: „Weil er mich nervt."
„Oder vielleicht... weil er dich interessiert?"
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick, aber bevor ich kontern konnte, drehte sich Mr. Chan wieder zu uns um und sprach weiter.
Zum Glück lenkte das die Aufmerksamkeit der Klasse wieder auf ihn - und weg von meinem offensichtlich glühenden Gesicht.
Doch während ich so tat, als würde ich die nächste Aufgabe bearbeiten, drängte sich Seungmins Kommentar immer wieder in meine Gedanken. Interessiert an Minho?
Niemals.
Oder...?
Der Unterricht zog sich in die Länge, als Seungmin plötzlich in einer für ihn typischen, schelmischen Art flüsterte: „Hey Jisung, was würdest du anziehen, wenn du auf ein Date gehst?"
Ich drehte mich irritiert zu ihm. „Was? Warum willst du das wissen?"
Seungmin zuckte mit den Schultern. „Ach, keine Ahnung. Es könnte wichtig sein."
„Du bist echt seltsam, weißt du das?"
Er grinste nur, aber ich bemerkte, dass er dann kurz überlegte, bevor er mit einem Augenzwinkern antwortete: „Na ja, ich glaube, es könnte für... jemanden wichtig sein."
Ich starrte ihn an, die Verbindung in meinem Kopf setzte plötzlich ein. „Moment... Du willst also wirklich mit Jeongin ausgehen, oder?"
Seungmin zog eine Augenbraue hoch und tat dann so, als wäre es ihm völlig egal.
„Wer weiß? Vielleicht. Aber das ist nicht die Frage hier. Du weißt doch, dass ich immer darauf achte, was ich anziehe."
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, auch wenn ich in meinem Inneren immer noch mit den Gedanken über Minho kämpfte.
Doch Seungmin lenkte mich schnell ab.
„Also, was würdest du anziehen?" wiederholte er seine Frage.
„Etwas Lockeres? Oder doch lieber was Formelles?"
„Warum interessiert dich das so sehr?" fragte ich skeptisch.
Doch bevor er antworten konnte, unterbrach uns plötzlich die ruhige, aber autoritäre Stimme von Christopher.
„Könnt ihr bitte ruhig sein, Mr. Han und Mr. Kim?" sagte er und drehte sich zu uns um, während die Klasse in sich zusammenzuckte.
„Ich versuche hier zu unterrichten."
Seungmin verdrehte die Augen, aber murmelte
„Ja, Herr Chan" und ließ sich wieder in seinem Stuhl zurückfallen.
Doch das Gespräch war für mich noch nicht beendet.
Ich flüsterte weiterhin mit Seungmin.
„Also, was würdest du wirklich anziehen?" fragte ich, während ich versuchte, den Unterricht zu ignorieren.
„Ich hab da diese schwarze Hose, die ich gerne mal tragen würde. Was denkst du?"
„Ich dachte, du magst lieber Hoodies?"
„Schon, aber du weißt, manchmal will man sich einfach schick machen, um Eindruck zu schinden."
Seungmin schmunzelte und fügte hinzu: „Ich will nicht, dass Jeongin denkt, ich hätte keinen Stil."
„Ah, du willst also wirklich mit ihm ausgehen," sagte ich grinsend.
„Das ist ja endlich mal was Neues."
Seungmin machte ein schüchternes Gesicht, aber dann lachte er. „Vielleicht, wer weiß?"
Gerade als ich etwas antworten wollte, hörte ich Christopher Chan wieder hinter sich murmeln: „Könnte es bitte ruhig bleiben?"
Er drehte sich mit einem ernsten Blick zu uns um und fuhr fort, die Tafel zu erklären.
Ich konnte es nicht lassen und schrieb heimlich auf einen Zettel, was Seungmin meiner Meinung nach anziehen sollte - ein schlichtes schwarzes Hemd, keine Krawatte, aber dennoch cool und selbstbewusst.
Seungmin nahm den Zettel und schrieb eifrig zurück, was ich anziehen sollte, falls ich je ein Date mit Minho hätte, und schickte mir den Zettel zurück.
Ich schnaubte und wollte gerade einen Kommentar loswerden, als plötzlich Christopher, der uns von der Tafel aus beobachtete, seine Worte so scharf wie ein Messer durch den Raum schnitt.
„Mr. Han! Mr. Kim! Sie beide haben gerade den Unterricht gestört. Bitte kommen Sie mit mir."
Bevor ich überhaupt reagieren konnte, griff er nach meinem Arm und zog mich aus meinem Stuhl. „Zum Direktor", sagte er ruhig.
„Warte, was? Es war doch nur ein bisschen..." versuchte ich zu protestieren, doch es war sinnlos. Unser Lehrer schickte mich einfach ab, ohne eine Diskussion zuzulassen.
Ich seufzte und folgte ihm, während Seungmin mit einem entschuldigenden Blick hinter mir her schaute.
Die Wände des Korridors kamen mir umso länger vor, als wir den Weg zum Direktorat antraten.
Als wir die Tür öffneten, sah ich, dass nicht nur der Direktor, sondern auch Minho und Hyunjin im Raum waren. Sie redeten mit dem Direktor, und ich konnte das Gespräch kaum hören, aber es schien wichtig zu sein.
Ich schluckte schwer, als Minho mich mit einem Blick musterte.
„Was machst du hier?" fragte er dann, mit einem fast schon amüsierten Grinsen, das mir sofort ein unangenehmes Gefühl im Magen beschleunigte.
„Wurde rausgeschickt... wegen Störung", antwortete ich kurz und versuchte, meine Unsicherheit zu verbergen.
Gerade als ich mich abwandte, um auf einen Platz zu warten, stolperte ich plötzlich nach vorn.
Meine Bücher fielen auf den Boden, und ich bückte mich sofort, um sie aufzusammeln.
Doch zu meiner Überraschung war es Minho, der sich niederbeugte und das Buch mit einer schnellen Bewegung aufhob.
„Hier", sagte er und hielt es mir entgegen.
Als er das Buch in der Hand hielt, bemerkte er etwas, das mir zuvor nicht aufgefallen war - die Zeichnungen auf den Seiten.
Meine Skizzen, die ich in einem meiner Notizbücher festgehalten hatte.
„Das sind... deine Zeichnungen?" fragte Minho, seine Stimme hatte einen scharfen, fast interessierten Unterton, als er eine Seite umblätterte.
Ich konnte förmlich spüren, wie mir das Blut in den Kopf schoss, als ich versuchte, das Buch wieder zu greifen.
„Lass das, Minho", murmelte ich, aber er schaute mich nicht an.
„Du zeichnest also", sagte er, und es war keine Frage mehr, sondern eine Feststellung.
Die Art und Weise, wie er mich ansah, war anders - nicht mehr arrogant oder herausfordernd, sondern fast... nachdenklich.
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