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~Gedanken auf Papier~
•Vinisha•
Manchmal glauben wir, ein Buch - eine Geschichte - sei schlecht, weil alles flach ist. Aber ist das Leben wirklich so anders? So voller Tiefe, wie wir es in manchen Geschichten erleben? Das glaube ich nicht. Und ich glaube auch nicht, dass ich Tiefe besitzen würde. Ich bin nur ein Mensch inmitten der großen Masse. Eine Nichtigkeit im Meer der Nichtigkeiten. Doch das ist okay. Ich mag es, dem Durchschnitt zu entsprechen. Nicht aufzufallen. Meine kleinen Erfolge, in einem kleinen Umfeld zu sammeln. Nicht zu viel und nicht zu wenig zu sein. Eben durchschnittlich.
Während ich über mich selbst grübele, ziehe ich Linien auf einem Blatt Papier. Viele Linien, geschwungen, gebogen oder gerade. Aber immer Linien, niemals Punkte. Herr Kräus hat uns heute die Aufgabe gegeben ›Gedanken auf Papier fließen zu lassen‹, und das tue ich in diesem Moment. Ich denke und lasse währenddessen meine Hand, in der ein Stift liegt, über das Papier gleiten. Manchmal mit kaum etwas an Druck, sodass die Linien nur wie Schatten wirken, und manchmal mit so viel, dass die Mine bricht oder das Papier reißt.
Ich höre, wie viele angeregte Gespräche führen, aber ich starre nur das Blatt vor mir und den Stift in meiner Hand an. Gefangen in meinen Gedanken, die mich festhalten und niemals loslassen wollen. Aber das müssen sie, weil Herr Kräus in diesem Moment das Wort an die Klasse richtet und ich wie aus einer Trance erwache und nun wieder alles viel klarer wahrnehme. Aurelia stößt mich mit dem Ellbogen an und ich sehe in ihren Zügen, dass sie sich fragt, wo ich mit meinen Gedanken schon wieder war. Aber ich weiß es ja selbst nicht, warum Tagträume mich so vereinnahmen - als würde ich völlig abdriften.
»Ich bitte um etwas Aufmerksamkeit«, sagt Herr Kräus und räuspert sich. »Ich denke, dass die meisten mit der Einstiegsaufgabe fertig sind und ich würde euch nun gerne das neue Thema mitteilen.« Er faltet die Hände ineinander. »Aufgabe wird es sein, in zweier Paaren einen Kurzfilm zu drehen, zu einem Thema, das ihr euch selbst aussuchen dürft. Vorgabe ist nur, dass es ein Thema sein muss, auf das ihr Achtsamkeit lenken wollt. Ich bitte also darum, keinen Actionfilm oder dergleichen zu drehen.« Streng sieht er sich um, wobei sein Blick auf manchen länger liegen bleibt, als auf anderen. »Dass sowohl ich, als auch die Schule, keine unangebrachten oder diskriminierenden Inhalte dulden werden, versteht sich von selbst.«
Jane - ein Mädchen mit blonden Locken und Brille mit runden Gläsern und Gestell in einer Gold Optik - meldet sich. Hat sie jetzt schon eine Frage? Was Herr Kräus bisher erklärt hat, war doch wohl begreiflich.
»Ja, Jane«, ruft er sie auf.
»Dürfen wir unsere Partner selbst wählen?« Wieso ist sie so ungeduldig? Dazu wäre er doch sicher jetzt gekommen. Verwirrt ziehe ich die Brauen zusammen, während ich meinen Stift in der Hand drehe.
»Genau darauf wollte ich noch eingehen«, entgegnet Herr Kräus. »Ich möchte, dass ihr mit jemandem arbeitet, den ihr in euren Fähigkeiten ergänzen könnt. Und da ich euch nun seit einiger Zeit unterrichte, werde ich die Teams auswählen.«
Ich kann regelrecht spüren, wie die Stimmung im Raum eine Klippe runterstürzt. Ist das sein ernst? Und ich habe schon gehofft, wir wären endlich über das ›arbeitet mit jemandem, mit dem ihr sonst nichts zu tun habt‹ hinaus. Da habe ich mich wohl getäuscht.
Rasch beginnt er Partner zuzuteilen und schnell ist klar, dass Aurelia nicht mit mir zusammenarbeiten wird. Und auch alle anderen, mit denen ich mich einigermaßen verstehe, werden schnell in Teams eingeteilt.
Irgendwann werde ich dann aber doch noch aufgerufen.
»Vinisha und«, beginnt Herr Kräus und ich hänge angespannt an seinen Lippen. »Roux.«
Ich seufze entnervt. Ist das wirklich nötig? Natürlich muss ich so ein Pech haben. Es hätte gar nicht anders kommen können. Aber Roux? Ernsthaft? Der wohl eingebildetste Typ der ganzen Stufe? Schlechter hätte es mich nicht treffen können. Noch dazu redet er eigentlich mit niemandem, zumindest nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Kann ich mich über die Partnerauswahl beschweren? Vermutlich nicht. Erstmal würde Herr Kräus das überhaupt nicht gefallen und noch dazu würde mich jeder für unhöflich und taktlos halten. Das kann ich nicht tun.
Dann muss ich mich wohl damit abfinden, mit Roux ein Team für die Projektarbeit zu bilden. Hoffentlich können wir uns auf ein Thema einigen …
...
Sobald alle Teams zugeteilt sind, dürfen wir die restliche Stunde schon nutzen, um mit der Planung zu beginnen. Hin und her gerissen zwischen meinen Gefühlen, begebe ich mich zu Roux.
»Hi«, sage ich, ohne zu wissen, worauf ich damit hinaus will.
Roux starrt währenddessen auf das Display seines Handys und scheint meine Anwesenheit gar nicht erst wahrzunehmen. »Wir machen was über Umweltschutz.« Dann weiß er also doch, dass ich mit ihm gesprochen habe. Wie er darauf reagiert hat, ist jedoch ziemlich unhöflich. Also genau so, wie ich erwartet hatte.
»Du weißt schon, dass ich da auch noch ein Mitspracherecht habe, oder?«, frage ich spitz.
»Ja, aber wir machen das, was ich gesagt habe«, erwidert er genervt, immer noch fixiert auf sein Smartphone.
»Könntest du das Teil mal weglegen?« Meine Geduld ist schon bald am Ende. Ich weiß, dass ich nicht allzu viel davon habe, aber er legt es auch darauf an.
»Nein«, antwortet er direkt. Wie unverschämt.
»Ganz ehrlich«, beginne ich weiter zu sprechen. Jetzt habe ich wirklich keine Lust mehr mit ihm zu diskutieren, wenn er dann sowieso nur das macht, was er will. »Ich weiß nicht, warum du dich so verhältst, und es ist mir grundsätzlich auch egal, aber ich möchte nicht das meine Note darunter leidet. Wenn du nicht mit mir an einem Strang ziehst, dann werde ich eben alleine arbeiten.« Ich hasse Partnerarbeiten ohnehin.
»Ist gut«, erwidert Roux. »Reg dich ab. Ich bin ja gleich so weit.«
Ich seufze. »Okay.« Eine bessere Antwort bekomme ich von ihm wohl nicht. Wenigstens etwas.
...
Roux und ich haben beschlossen, nach der Schule direkt loszulegen. Als Location hat Roux den See am Waldrand vorgeschlagen. Dabei waren wir glücklicherweise einer Meinung, denn dieser soll trockengelegt werden, um mehr Wohnfläche zu schaffen und ist dadurch ein gutes Beispiel, wie Menschen die Umwelt nach und nach zerstören.
»Und was genau wollen wir überhaupt machen?«, frage ich Roux auf dem Weg zum See.
»Lass das mal meine Sorge sein.« Hört er sich immer so an, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen?
»Und wie wollen wir dann gleich mit dem Drehen beginnen, wenn du mir nicht verraten möchtest, was?«
»Wie gesagt, lass mich das machen.« Sozial scheint er sich ja nicht gerade viel beteiligen zu wollen. Vielleicht ist das aber auch besser. Für uns beide.
Andererseits soll er endlich damit aufhören, alle Entscheidungen alleine zu treffen. Ich bemerke, dass ich bei einigen seiner Ideen fast schon nach einem Grund suche, ihm zu widersprechen, auch wenn sie nicht schlecht sind.
Schließlich bleibt er stehen und ich sehe ein paar Meter entfernt einen kleinen See, umgeben von einigen Pflanzen, auf denen vereinzelt Insekten krabbeln und über der Mitte schwirrt ein kleiner Mückenschwarm.
Ich bin tatsächlich ein wenig beeindruckt von dem Ort, den Roux ausgewählt hat, auch wenn ich es ihm auf keinen Fall irgendwie zeigen werde. Vermutlich wäre das für ihn nur ein Anreiz, noch mehr Dinge über meinen Kopf hinweg zu entscheiden.
»Okay, das ist nicht schlecht. Von mir aus können wir hier filmen«, sage ich mit möglichst neutraler Stimme.
Er sieht mich nur verständnislos an, so, als hätte ich etwas Offensichtliches gesagt. Vermutlich, weil es für ihn von Anfang an klar gewesen ist, dass er natürlich nur den besten Drehort aussucht. Wie nervig.
»Geh du doch schonmal dort vorne nach einem guten Platz suchen, während ich alles vorbereite«, weist Roux mich an.
»Warum soll ich das machen?«
»Oh Gott, du bist immer direkt beleidigt. Sei doch nicht so trotzig.« Roux fährt sich seufzend durch die kurzen schwarzen Locken mit den weißen Spitzen.
Diese Arroganz in seiner Stimme und in seinem ganzen Benehmen macht mich zusehends immer wütender. Aber ich muss mich zusammenreißen, sonst haben wir am Ende des Tages noch nicht einmal angefangen zu drehen.
Kopfschüttelnd und mit zusammengebissenen Zähnen wende ich mich ab und gehe in die Richtung, in die er gezeigt hat. Wenn er doch schon eine so genaue Vorstellung davon hat, an welcher Stelle des Sees wir drehen sollten, wieso sieht er sich das dann nicht an?
Während ich mir die Gegend ansehe, bemerke ich, wie die Dämmerung langsam beginnt. Ist es schon so spät geworden? Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen, als mein Blick plötzlich auf einen Stein am Ufer trifft, der mir irgendwie merkwürdig vorkommt. Er scheint zu leuchten. Vielleicht fluoreszierende Pflanzen?
Neugierig nehme ich den Stein, der etwa so groß wie ein Tennisball ist, in die rechte Hand und betrachte ihn eingehender. Blaue Linien ziehen sich über die anthrazitfarbene Oberfläche und verflechten sich auf einer Seite zu einem Motiv, das aussieht wie … ein Schlüssel. Ein Schlüssel? Das ist ja lustig.
Plötzlich schießt ein stechender Schmerz durch meinen Kopf und ein hoher Ton löst bei mir das Gefühl aus, als würden mir die Trommelfelle platzen.
Den Stein lasse ich fallen, während ich auf den Boden sinke und mir die Hände auf die Ohren drücke, aber es hört nicht auf und das Geräusch wird immer lauter und höher bis …
›Gute Nacht, Vin.‹
Es verstummt.
Und mein Bewusstsein in eine unendliche Dunkelheit taucht.
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