chapter 68
Ich saß am Stamm einer Eiche, genau an dem Platz, wo wir im Regen getanzt hatten, und legte den Anker, mein Lesezeichen zwischen die Seiten von Kingdom of the Wicked. Gestern hatte ich mit einem Pfleger aus der Clayton gesprochen, weil ich mich gewundert hatte, dass mich noch niemand kontaktiert hatte. Aber er hatte mir bestätigt, dass meine Oma, seit ich darum gebeten hatte, informiert zu werden, keine lichten Momente mehr hatte. Damit war das bisher die längste Zeitspanne, in der ich nicht mit ihr gesprochen hatte und ich hatte Angst, was noch kommen würde.
Es war Freitag und ich freute mich auf unser Buchclub Treffen nachher in der Bibliothek. Da würden wir die letzten Absprachen zu unserem Edinburgh Trip machen. Ellie hatte sogar mit ihrem Bruder gesprochen und wir würden ihn am Sonntag treffen. Ich habe ihn bisher erst einmal gesehen, im Frühling letzten Jahres. Das war das einzige Mal, dass seine Pflegeeltern es ihm erlaubt hatten, seine Schwester zu besuchen.
Ich nippte an meinem To-Go-Becher, doch von meinem Kaffee war nicht mehr viel übrig. Die letzten Tage hatte ich viel mit Azalee unternommen. Ich liebte ihre Gesellschaft, ihre trockene, direkte und unerschrockene Art, doch zwischendurch erwischte ich immer mal wieder einen Blick auf ihre besorgte Miene und meistens war das, worüber wir vorher gesprochen hatten, Ramiel oder die Hölle gewesen.
Gestern hatte Ellie uns alle mit einem geletterten Zitat auf hübschem Design Papier überrascht. Sumi hatte ihr geliebtes Hamlet Zitat aus Crave bekommen und Alex eins von George Eliot. „Es ist nie zu spät. Das zu werden, was man hätte sein können."
Und mit meinem hatte Ellie mir einen kleinen, lieb verpackten Arschtritt verpasst. „Nichts kann geändert werden, bis man sich ihm stellt", von James Baldwin. Ich holte das Papier heraus, dass ich zwischen die Seiten meines mit Stickern beklebten Notizbuchs gesteckt hatte. Es war in verschiedenen Abstufungen von blau gehalten, der Farbe von Täuschung und List und ich musste unwillkürlich lächeln, als ich an Ellie dachte, wie sie sich an diesen Abend erinnerte und meine Karte farblich dementsprechend aussuchte.
Ich hatte die letzten Nächte alle bei Ramiel verbracht. Er schien einiges zu tun zu haben und neue Aufträge erledigen zu müssen, denn es dauerte immer, bis er sich entspannte und seine ausdruckslose Miene, die ich noch zu gut kannte, langsam ablegte. Er sprach nicht darüber und ich wollte ihm den Raum geben, den er brauchte. Dennoch gab es da eine Sache, die ich bald ansprechen wollte, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mich ansonsten zerdrücken würde.
Ich schaffte es Kingdom of the Wicked rechtzeitig zu beenden und pünktlich zu unserem Buchclub Treffen zu kommen. Es war Regen für den Abend angesagt und wir würden unsere Bücher niemals in Gefahr bringen, deshalb trafen wir uns lieber drin. In Sicherheit.
Ich begrüßte Pepper, die es sich auf dem Sessel gemütlich gemacht hatte und stellte meine Vans dann neben Sumis geliebte Chucks. Wir wechselten uns ja immer ab und heute war Sumi mit der Verpflegung dran und sie war schon dabei verschiedene Brotdosen aus ihren Jutebeuteln zu holen und in unserer Mitte zu stapeln.
Ich steuerte auf die Fensterbank zu und machte es mir da mithilfe der Kissen gemütlich. Sumi saß an den Sessel gelehnt, Ellie war gerade dabei sich neben Pepper zu quetschen und Alex war im Yogi Squad und blätterte in ihrer Ausgabe, die wie unsere auch einen Farbschnitt besaß, den ich ziemlich vergötterte. Sier gab ein tolles Bild ab, mit den hohen Bücherregalen im Hintergrund und mit sienem perfekt gezogenen Eyeliner. Ich machte kurzerhand ein paar Fotos, die ich dann in die Gruppe stellte.
„Trägst du verschiedene Ohrringe?", fragte Sumi, die anscheinend mit dem Ausladen ihrer Brotdosen fertig geworden war. Ich nickte und schob meine Haare hinter die Ohren, damit die anderen meine Piercings sehen konnten. Ich trug goldene, filigrane Ohrringe in meinem ersten und zweiten Ohrloch, einen goldenen Ring in meinem Helix und einen doppelten in meinem Conch auf der anderen Seite.
„Sieht cool aus! Vor Allem der hellblaue Stein in dem kleinen Anhänger", befand Ellie, nachdem sie neben Pepper Platz gefunden hatte.
„Ich dachte, es wird mal Zeit meine Standardohrringe zu wechseln." Alex nickte begeistert und beugte sich über die Brotdosen.
„Sommerrollen!"
„Du bist ein Engel, Sumi oder eher eine Dämonin? Sie scheinen mir hier eher als die Guten" Ellie dippte nachdenklich eine Sommerrolle in den Erdnussdip, den Sumi im letzten Jahr perfektioniert hatte.
Ich schnappte mir begeistert ebenfalls eine und biss genüsslich hinein. „Die sind so göttlich!", schwärmte ich und schnappte mir schonmal die nächste.
Eine Stunde später waren wir vollkommen in unsere Schwärmerei über Emilia und Wrath vertieft und kamen viel später als geplant zu der finalen Planung unseres Trips, zu dem wir Montag aufbrechen wollten. Ellie hatte am Wochenende noch ein paar Extraschichten eingeschoben und da ich morgen auch mal wieder arbeiten musste, plante Sumi bereits eine ihrer berühmten Runden, bei der sie zuerst Kaffee und Donuts bei Ellie abstaubte und mich dann von der Arbeit abhielt und noch ein paar Bücher mitgehen ließ.
Alex hatte uns von ihrem gelungenen Date mit Jessi erzählt, aber auch davon, wie viel Angst Jessi hatte, sich aus der Sicherheit des heterosexuellen Seins herauszubewegen. Vor Allem, weil es da ja auch noch Robyn gab. Ich wunderte mich inzwischen darüber, dass die beiden zum angesagtesten Couple der Uni zählten, aber dennoch nicht übernatürlich waren. Sie bewegten sich nicht in denselben Kreisen wie Alicia und Olivia und ihrer Elite, aber dennoch gehörten sie eindeutig zum beliebten Inner Circle der Ávila. Ganz anders als wir vier. Nicht, dass ich dazu gehören wollte, aber dennoch irritierte es mich, dass sie die meisten Sterblichen einfach komplett ausschlossen, Jessica und Robyn jedoch nicht. Vielleicht würde ich Azalee mal danach fragen. Ich hatte ihr angeboten mitzukommen, aber sie hatte noch was zu erledigen gehabt und deshalb würden wir uns erst nachher sehen.
Ale schlief zwar nicht, gönnte sich nachts aber gerne ein paar ruhige Stunden mit einem guten Buch und verbrachte die Nächte bei uns im Zimmer, weil da die ganzen Bücher warteten, die ich ihr wärmstens empfohlen habe.
Als wir nachts zurückkamen, lag sie ausgestreckt auf meinem Bett und blätterte in Ein Fluch so ewig und kalt. „Wie findest du es?", fragte ich, während ich meine Waschsachen zusammensuchte.
„Das mit den Flüchen ist so eine Sache." Ihre Miene war nachdenklich und in sich gekehrt. Als wir vom Waschraum zurückkamen, war sie auf den Schreibtischstuhl umgezogen. „In der Bibliothek ist es doch tausendmal gemütlicher als hier", wunderte ich mich.
Ale zuckte nur mit den Schultern. „Das geht schon", wickelte sie ab.
„Was sagt Zenda eigentlich zu deinem Aufenthalt hier?" Ale grinste und spielte mit etwas goldenem in ihrer Hand.
„Wir waren schon öfter mal über einen längeren Zeitraum hinweg voneinander getrennt."
„Ist das die Münze?", fragte ich ungläubig, als ich meinte erkannt zu haben, was in Ales Hand so golden funkelte.
„Jap. Ich habe sie immer dabei."
„Wieso das denn?"
„Für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle, dass mich jemand umbringen will und erfolgreich ist." Ellie wandte sich demonstrativ ihrem Buch hin.
„Du glaubst an Charon, den Fährmann? Und an den Styx?"
Ale zuckte wieder mit den Schultern. „Man kann nie wissen."
„Du meinst wegen dieser Klinge?" Einen Moment veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und ich hätte wetten können, dass sie gerade die Umgebung nach unerwünschten Lauschern überprüfte. „Und ist Ramiel deshalb auch in der Hölle geblieben heute Nacht?"
„Es gibt mehrere Gründe dafür, aber in der Hölle geht gerade alles etwas drunter und drüber. Die Elite ist in die Hölle zurückgekehrt und macht die alte Garde nervös. Das ist alles nicht so einfach gerade und ja, es würde helfen, wenn wir wissen würden, dass die Engel nicht jeden Moment mit einer neuen Klinge auftauchen, die uns ohne Probleme umbringen kann."
Ich seufzte, während ich es mir gemütlich machte und genau wusste, dass ich diese Nacht kein Auge zutun würde. Das wäre immerhin besser, als wieder von diesem gefallenen Engel in der Hölle zu träumen, dessen Stimme immer mal wieder in meinem Bewusstsein nachhallte. „Wenn ich morgen in der Bibliothek fertig bin, werde ich nochmal alles durchsehen, was ich von meinen Eltern habe."
Ich nahm meine Armbanduhr ab und legte sie auf meinen Nachttisch. Es war bereits nach zwei Uhr und der Mond stand längst am Himmel. Es war eine wolkenverhangene Nacht, keine Sterne, kein heller Mondschein und ich versuchte mich mit dem Gedanken an Edinburgh aufzuheitern. An den Bücherflohmarkt, den wir gefunden hatten, das süße Appartement und den Tattoo Termin, die wir gebucht hatten. Und dennoch erschien, sobald ich die Augen schloss dasselbe Bild.
Ein mit blutigen Striemen bedeckter Rücken, schwarze Tattoos, die gegen das blutrot farblos aussahen. Einen Moment meinte ich eine der fremden Sigillen wiederzuerkennen. Dann wanderte mein Blick weiter zu den hoch erhobenen, weit ausgebreiteten Flügeln, die funkelten wie der schönste Nachthimmel. Seine melodiöse, lauernde Stimme: „Hast du Angst?"
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Wahrscheinlich kommt das nächste Kapitel schon morgen ❤️
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