chapter 53
"Some people feel the rain. Others just get wet." - Bob Marley
Wir lagen unter der großen Eiche, abseits von den viel belaufenen Wegen des Uniparks und starrten durch die Äste in den Himmel hoch. Ich liebte den Kontrast der immer grüner werdenden Knospen an den verästelten Zweigen und dem strahlenden himmelblau dahinter. In unserer Nähe plätscherte das Wasser in dem kleinen Brunnen. Ansonsten gab es nur den Wind, der durch die Bäume raschelte.
Unsere Unimotivation hat nicht besonders lange angehalten, aber da ich auch noch zwei Abgaben hatte und Ellie und Sumi sogar zusätzlich noch eine Klausur schreiben mussten, blieb uns nichts anderes übrig, als uns nochmal dranzusetzen. Wir schwärmten zwischendurch aus, um uns Snacks zu holen und ich startete die Kaffeemaschine in der Bibliothek erneut, froh, dass von Hildegard nichts zu sehen war. Morty hatte ein paar von meinen Schichten in den letzten Wochen übernommen. Zum Glück musste ich jetzt, wo bald die Semesterferien starten würden, eh weniger arbeiten, da viele Studierende nicht in der Uni bleiben würden.
Als ich die mittlere der Treppen nach oben ging, konnte ich meine Aufpasserin im Augenwinkel sehen. Heute trug sie einen leuchtend gelben Hidschab, der perfekt zu ihrem dunkelblauen trägerlosem Top passte. Ich verdrehte die Augen, sie grinste schulterzuckend und folgte mir weiter. In meinem Studierzimmer hatte ich einen kleinen Notfallsnack hinterlegt, den ich mir schnappte, bevor ich wieder kehrtmachte und fast mit meiner Verfolgerin zusammenstieß.
„Wie heißt du eigentlich", fragte ich sie, weil das eine Frage war, die mich schon ewig beschäftigte und es nervte mich außerdem sie immer nur meine Verfolgerin nennen zu können.
„Nakir." Sie hatte eine weiche, angenehme Stimme.
„Freut mich, Nakir." Ich grinste. „Gummibärchen?" Ich hielt ihr meine Beute vor die Nase. „Sind ohne Gelatine", fügte ich hinzu, als ich ihren kritischen Blick sah.
„Danke, aber daran liegt es nicht." Sie verzog noch immer das Gesicht und ich konnte sie das erste Mal von Nahem ansehen. Sie trug schöne silberne Ohrringe, die ihr fast bis auf die Schultern baumelten, eine enge Halskette und eine schwarze, lockere Stoffhose, die bis über ihre Füße fiel. „Ich bin kein Fan von dem da." Sie wedelte mit der Hand. „Eurem menschlichen Essen."
„Achso?" Ich musterte sie erneut. „Was isst du denn dann?"
„Er hat mich vor deiner Neugier gewarnt."
„Azael?" Ich verdrehte die Augen. „Der sollte besser aufhören über mich zu reden, sonst endet der nächste Kampf nicht gut für ihn", prophezeite ich düster und Nakirs Miene hellte sich auf.
„Nein, nicht Azael." Jetzt grinste sie wieder. „Aber wenn du ihn schlagen willst, musst du weiter an deiner Beinstellung arbeiten und außerdem solltest du aufhören dich zurückzuhalten, selbst wenn du ihn mal umhauen solltest, interessiert ihn das so sehr als würde eine Fliege um ihm herumschwirren."
„Netter Vergleich", brummte ich mit zusammen gekniffenen Augen.
„Danke", erwiderte sie, ohne auf meine bissige Miene einzugehen. „Die anderen warten schon auf dich."
Ich ging die Treppe runter und drehte mich dann nochmal um, um sie zu fragen, ob sie einen Kaffee wollte, doch sie war verschwunden. Achselzuckend füllte ich unsere Becher und transportierte sie mit einem Tragebehälter sicher zu unserem Platz.
„Dieses Ding war auf jeden Fall eine Investition wert!" Sumi grinste und nahm ihren Kaffee entgegen.
„Das stimmt." Ich schaute nach oben. Es war noch immer keine Wolke zu sehen, aber es war April, also konnte man da nicht besonders viel draufgeben. Wir schafften es noch eine Stunde mehr oder weniger konzentriert zu lernen oder zu schreiben, dann beschlossen wir, es für heute gut sein zu lassen.
„Soll ich deine Haare flechten?" Alex aß gerade die letzten Gummibärchen.
„Gerne!" Ich stand auf und setzte mich im Schneidersitz vor sier. Alex war unglaublich talentiert, was Frisuren und Flechten anging und wir sagten nie nein, wenn sier Lust hatte uns zu stylen.
Sumi schob mir die letzten Oreos hin und Ellie begann sich die Nägel in einem hellen grün zu lackieren. „Die Farbe ist so toll!", schwärmte ich und schnappte mir ein Stück Banane, bevor ich mich über die Oreos hermachte.
„Das hier ist auch einfach so eine coole Farbe, Vio!" Alex hatte meine Haare geöffnet und begann sie am Scheitel zu flechten. Ich hatte mich leicht gedreht, damit ich mir nicht den Nacken verrenkte. „So hellblond, dass sie fast weiß sind und irgendwie noch ein aschiger Stich darin. Und dass ohne das sie kaputt sind", schwärmte sier. „Das würde beim Friseur echt niemand hinkriegen. Und ich liebe den Kontrast zu den pinken Strähnen immer noch. Inzwischen haben sie auch die perfekte Intensität."
Tatsächlich mochte ich meine neue Haarfarbe auch. Ich vermutete, dass die Tage in der roten Ebene und das Höllenfeuer sie verändert hatten. So ähnlich wie die Sonne, nur eben krasser. „Mir gefallen deine Haare auch richtig gut!" Als ich vor zwei Wochen meine Strähnen nachgefärbt hatte, war noch etwas übriggeblieben und das hatten wir mit dem pastellblau, dass jetzt in Strähnen durch Sumis Haar verlief, zu einem hellviolett gemischt, das jetzt wiederum Alex Spitzen zierte.
Wir waren auch zusammen bei Georg, in dem Shop, wo Ellie immer ihre Haarprodukte kaufte, aber sie hatte doch zu viel Angst, dass sie ihre empfindlichen Haare durch das Färben schädigen könnte. Zum Ausgleich wollte sie sich superschöne neue Haarbänder gekauft, die George ihr im Endeffekt geschenkt hatte. Eines davon, ein knallorangenes, hatte sie gerade um ihren Dutt geschlungen.
„Nun sag mal, Vio", begann Sumi plötzlich. „Wir haben jetzt ewig darauf gewartet, dass du das Thema von allein anschneidest." Meine Muskeln spannten sich unwillkürlich an.
„Wir merken, dass es dir nicht besonders gut geht. Du beantwortest zwar Fragen, die sich auf ihn beziehen, aber immer nur knapp und du hast dann immer diesen Gesichtsausdruck...", fuhr Ellie fort. Ich atmete zitternd aus. Heute trug ich dasselbe weite T-Shirt wie vor über drei Wochen. Dasselbe T-Shirt, das mir Ramiel nicht nur angezogen hatte, sondern was vermutlich auch ihm gehörte. Was für eine Ironie, dass sie es zufällig genau heute ansprachen.
„Wir wollen gar nicht, dass du uns jetzt alles brühwarm erzählst, denk einfach darüber nach. Wahrscheinlich geht es dir besser, wenn du es mit uns teilen kannst. Wir sehen, wie verletzt du bist, dass du dir immer wieder gedankenverloren über den Hals oder dein Brustbein streichst." Ich hielt in der Bewegung inne und ließ meine Hand zurück in den Schoß sinken. Ein pochender Schmerz durchzuckte mich.
„Du leidest und versteckst dich hinter unseren Nachforschungen. Selbst wenn wir eine Pause machen, gehst du in dein Studierzimmer und machst weiter." Jetzt hörte ich einen deutlichen Vorwurf in Ellies Stimme. Und Sorge.
„Überleg es dir, bitte." Alex flocht meine Haare weiter. „Du bist stark, das wissen wir und auch, dass es noch mehr Mut erfordert, uns davon zu erzählen. Aber wenn du so weit bist, sind wir für dich da." Ich hob den Blick, um die Tränen zurückzuhalten. Der Himmel hatte sich verdunkelt und einige graue Wolken zogen heran.
Dann hörte ich auf, dagegen anzukämpfen und ließ die Tränen einfach laufen. In den letzten Wochen hatte ich einige kleine Zusammenbrüche, mein Hirn war schlichtweg überfordert und gewöhnte sich nur langsam an meine neue Lebensrealität und an all das, was ich in der Hölle erlebt hatte.
Aber wenn ich an Ramiel dachte. An den Moment oben auf seinem Balkon, als sie ihm mit der Klinge in die Haut geritzt hatten und ihm etwas injizierten, was dafür gesorgt hatte, dass er das Bewusstsein verlor, dann wurde mir schlecht. Und der Schmerz in mir derart allumfassend, dass ich kaum noch Luft bekam. Der rationale Teil in mir wusste, dass es ihm gut ging, aber er kannte eben auch den Grund dafür, dass er überhaupt in diese Situation geraten war. Und der war ich.
Ich presste die Lider fest aufeinander, während mein Gesicht immer nasser wurde. Alex setzte sich an meine andere Seite. Ich wusste, dass sie für mich da waren und mir zuhören und helfen würden. Aber ich wusste nicht, ob ich es konnte, ob ich bereit war alles zu erzählen oder woher ich die richtigen Worte finden sollte. Doch ich nickte und Alex küsste mich sanft auf die Schläfe.
Ich öffnete die Augen und es wunderte mich nicht weiter, als ich sah, dass es um uns herum in Strömen goss. Durch die schützenden Zweige der Eiche wurden wir nicht ganz so nass und allem Anschein nach brachte Sumi unsere Sachen rein, denn von beiden war nichts zu sehen. Ich lehnte mich an Alex. Sier strich mir trösten über die Stirn und die Haare. Sanfte Tropfen fielen auf meine Haut und schwemmten meine Tränen davon.
„Wisst ihr, was wir jetzt tun sollten?" Sumi war zurück und stand wie ein begossener, aber überglücklicher Pudel vor uns. Ellie sah sie skeptisch an. Zurecht. Denn einen Moment später, holte sie eine Musikbox unter ihrem Pullover hervor.
„Wir werden tanzen!" Nein, dachte ich mir sofort. Doch dann ertönten die ersten Klänge, Alex zog mich auf die Füße und wir begannen uns im Takt zu Someone to you zu wiegen. Ich genoss die Regentropfen auf der Haut, das prasselnde Geräusch, wenn die Tropfen auf dem Boden landeten, das Rauschen und den Vorhang, der uns unter unserer Eiche vom Rest der Welt abschnitt.
Und als dann ‚Welcome Home' von Radical Face lief, löste ich mich von Alex, trat unter dem Schutz der Eiche hervor und begann im Regen zu tanzen. Ich drehte und drehte mich, sah Ellie lachend und platschnass neben mir, Sumi sang lautstark den Song mit. Ich schnappte mir Alex Hand, wir drehten uns um Kreis, hüpften, warfen die Hände in die Luft und all das mit dem Gesicht in Richtung Himmel erhoben, mit Regentropfen auf der Haut, die mir ins T-Shirt liefen und meine Schuhe füllten.
Es stimmte. Ich war zuhause.
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