chapter 46
Zurück waren wir durch die Schatten gewandert. Ramiel hatte mir erzählt, dass das innerhalb einer Welt für ihn kein Problem war. Dass er aber nicht von einer in die andere Welt schattenwandeln konnte. Etwas ähnliches hatte ich mir bereits gedacht. Und obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, mochte ich seine Schatten und ihre Dunkelheit, sie lösten etwas in mir aus, dass ich nicht greifen konnte.
Ramiel strich sich geistesabwesend über die Brust. Ich hatte die Geste schon mehrmals bei ihm beobachtet und fragte mich, was sie bedeutete. Wir betraten den Raum neben Ramiels Schlafzimmer und die anderen schauten uns alarmiert an. Schon wieder sahen sie derart besorgt aus, dass ich genervt schnaubte.
„Was?", fuhr ich sie an. Sogar Ale wich meinem Blick aus und widmete sich wieder dem Dokument vor ihr. Kopfschüttelnd widmete ich mich den gläsernen Vitrinen, in denen ein paar Bücher ausgestellt waren.
„Ramiel, zeig ihr doch die Bibliothek", schlug Cael vor und ich hörte, was er nicht zu sagen brauchte. ‚Dann können wir ungestört weiterreden.' Ich verstand seine Abneigung mir gegenüber nicht und so langsam begann mich wirklich zu nerven, wie offensichtlich er diese auslebte.
Erneut öffnete sich ein Durchgang und ich fühlte mich als wäre ich direkt in einem Märchen gelandet. Ich brabbelte irgendwas Unverständliches und dann stürmte ich los und rannte dabei Ramiel fast über den Haufen.
Ich war vollkommen sprachlos, absolut erschüttert und wahnsinnig verliebt. Denn ich stand auf einer Empore und um mich herum befanden sich Bücher. Es war eine Bibliothek, die aus mindestens sieben Etagen bestand, riesige Kronleuchter hingen von der Decke und erleuchteten die Regale, die bis oben hin mit Büchern gefüllt waren. Auf der obersten Etage, auf der ich mich befand, waren Leitern angebracht, damit man auch an die obenstehenden Bücher herankam. Die Buntglasfenster warfen bunte prismenförmige Lichtflecken auf die Buchrücken und ich dachte nur eins.
Ich war nicht in der Hölle. Ich war im Himmel.
„Ihr habt mir das hier verschwiegen?" Ich machte eine ausladende Geste. „Die ganze Zeit?" Fassungslos starrte ich die anderen an.
„Wo sollte sich die Bibliothek sonst befinden, wenn nicht bei Ramiel? Er hat schließlich einen großen Teil der Bücher selbst ausgesucht und nahezu alle gelesen."
„Ist klar. Ihr verarscht mich? Sumi hat letztes Jahr 159 Bücher gelesen, aber das hier sind Millionen!"
„Genau 300450348." Ramiel grinste mich schief an und ich dachte an ihn mit einem Buch in der Hand und errötete prompt. Dreihundertmillionenvierundfünfzigtausenddreihundertachtundvierzig!
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Die nächsten Stunden blendete ich alles aus, blätterte durch Bücher, die älter waren als alles, was ich bisher angefasst hatte. Ich war voll in meinem Element, vertieft in Sprache, die nicht mehr gesprochen wurden und als ich dann in einer Ecke mit lauter Büchern über Runen und Engel landete, gab es kein Halten mehr. Ich war fast sicher, dass Ramiel und Ale zwischendurch versuchten, mich anzusprechen, aber ich hatte gerade Wichtigeres zu tun.
Nach einer Weile fielen mir beim Lesen fast die Augen zu. Es kam mir vor wie Minuten, dabei müssen es bereits Stunden gewesen sein, die ich hier verbrachte. Ich saß über ein Buch gebeugt, das so dick wie mein Oberarm war und meine Finger wanderten unaufhaltsam über die tintenschwarzen Runen. Da war der Baum, der Kraft bedeutete und die mondförmige Sichel, die für Klarheit stand. Ein X für ein Geschenk, ein um 90 Grad gedrehtes V für Visionen, Offenbarung und Kreativität. Immer weiter fuhren meine Finger über die Kerben der Federkiele auf dem rauen Pergament.
Ich schreckte hoch, als ich ein tiefes Grollen hörte. Ich befand mich noch immer in dem Sessel in der Bibliothek und das Grollen, das mich geweckt hatte, schwoll an. Als würde ein Vulkan, der sich direkt unter mir befand, ausbrechen.
„Ramiel? Ale?" Ich stand mit wackligen Beinen auf und stieg eine Treppe hoch, zurück auf die siebte Etage und ging ins Schlafzimmer. Mein Zeitgefühl war so durcheinander, weil es hier immer hell war und ich daher keine Ahnung hatte, wie lange ich geschlafen hatte.
„Lauf, Vio." Ich zuckte so heftig zusammen, dass es wehtat. Ich drehte mich und dann drehte ich mich nochmal. Doch von Ramiel war keine Spur zu sehen. „Vio, du musst weglaufen. Wünsch dich zurück in deine Welt. Jetzt!" Seine Stimme war eindringlich und ich stand, wie bedeppert, direkt neben dem Bett, dass wir letzte Nacht noch geteilt hatten und wusste nicht, was ich tun sollte. Denn in Ramiel Stimme lag etwas, das ich bisher bei ihm weder gesehen noch gehört hatte. Es war Sorge.
Tränen stiegen mir in die Augen. Ich versuchte es, ich versuchte es wirklich.
„Du machst mir Angst", flüsterte ich zitternd. Es blieb eine Weile still.
„Du solltest Angst haben, Vio. Du musst es schaffen, denn sonst..." Schritte durchbrachen die Stille, das Grollen schwoll wieder an.
Ich hatte schon öfter an zuhause gedacht, aber wollte ich bei dem Gedanken auch wirklich zurück? Oder gab es einen Teil in mir, der bleiben wollte? Bei Ale, Cael, Azael und Ramiel? Hatte der Offizier eine neue Möglichkeit gefunden, mich umzubringen? Jetzt wollte ich definitiv von hier weg. Denn ich wusste genau, welche Dämonen derart ungeheuerlich waren, dass sie statt ihrer mühelos lautlosen Bewegungen das Trampeln schwerer Stiefel erklingen ließen. Ich zitterte und wich zurück, wollte zurück in die Bibliothek, doch da wo vorher der Durchgang war, stand nun nur die massive glattgeschliffene Goldwand.
Ramiel hatte mir erzählt, dass Halbengel keine Flügel besaßen. Doch, außer dem Balkon gab es keinen Ausweg mehr. Unter die lauter werdenden Schritte schlich sich ein metallenes Klicken, als befänden sich Sporen an den Stiefeln.
Ich sah über die Balustrade nach unten. Wir waren so weit oben, dass ich den Boden nur erahnen konnte. Wenn ich springen würde, würde sich das Fallen ganz anders anfühlen als vorhin. Wieder konzentrierte ich mich auf zuhause. Ich sah mein Wohnheimzimmer, roch Ellies Kaffee, dachte an den Kalender an unserer Wand, an die Sternbilder über unseren Betten, an die Box mit meinen Aufzeichnungen unter meinem Bett. Ich versuchte es so sehr und ich hätte schwören können, dass ich Ellie einen Moment sehen konnte. Sie tigerte nervös durch unser Zimmer, ihr Handy in der Hand und trug noch immer ihr rotes Seidentuch um ihr Haar gebunden. Dann war der Moment vorbei.
Ich spürte wieder die brennende Hitze und das viel zu laue Lüftchen und dann nahm ich die Veränderung wahr und öffnete meine fest zusammengekniffenen Augen. Ich hörte keine Schritte mehr und der Grund dafür stand vor mir.
Der Offizier und zehn weitere Dämonen hatten sich vor mir aufgebaut.
„Ich habe Anspruch auf dich erhoben und mein Anspruch wurde bestätigt. Ich bin jetzt dein Meister. Du gehörst jetzt mir." Ich versuchte krampfhaft meine Magie zu rufen oder Ramiels Schatten. Doch weder Ramiel noch meine Magie antworteten. „Und wir werden gleich mit deiner ersten Lektion beginnen."
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Findest du, dass zu viel passiert? Oder hast du allgemein Verbesserungsvorschläge oder offene Fragen, die du gerne beantwortet hättest?
Danke fürs Lesen, Voten und Kommentieren 💚
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