10 - Lukes Geheimnis
Kapitel 10
Als ich aus dem Haus trat, schlug mir der Geruch von Regen in die Nase.
Der September war inzwischen voll und ganz seinem Nachfolger gewichen. In der Nacht hatte es gewittert. Man konnte nun an jeder Ecke des Hofes erkennen, dass es kalt wurde. Die Eichen am Hoftor trugen nur noch vereinzelt Blätter, und wenn, waren sie braun und von Löchern durchpflügt.
Fröstelnd schlug ich den Kragen meiner Jacke nach oben.
Es war Sonntag. Sonntags hatten unsere Beritt- und Schulpferde ihren Ruhetag. Marengo wollte also schnellstens auf die Weide befördert werden.
Beschwingt klaubte ich sein Halfter aus dem Spind, hüpfte weiter im menschlichen Kreuzgalopp (oder wie auch immer man dieses peinliche Auf- und Abgehopse, das ich da veranstaltete auch nennen mochte) und schnappte mir wahllos drei weitere Halfter von den Halfterhaken der Schulpferde.
Ich galopphüpfte da also fröhlich durch den Stall, zwinkerte unterwegs Lily zu, die gerade Quentin mit Mähnengummis und -spray malträtierte und verfiel in einen lässigen Schlenderschritt, als ich eine etwas ältere Einstellerin entdeckte, die völlig überfordert versuchte ihren fünf Tonnen Tinker Ares (Ja, auch ich empfand es als eine Frechheit den perfekten Kandidaten für „Deutschland sucht das Schwabbelpferd" nach dem griechischen Kriegsgott zu benennen.) dazu zu bringen, den Huf zu heben.
Belustigt schaute ich zu, wie sie sich zuerst mit aller Macht gegen seine Brust, daraufhin gegen die Schulter drückte.
Der Schecke nahm kaum Notiz von ihr und fing genüsslich an, auf dem Ende des sorgfältig zum Panikknoten verarbeiteten Glitzerstrick herumzukauen.
„Hallo Birgit", säuselte ich und setzte mein bestes Lächeln auf.
Nur damit ihr mich nicht gleich für ein Monster haltet: Birgit war zwar nicht gerade der größte Stern am Reiterhimmel, dafür aber im Lästern die unangefochtene Nummer eins. Sie ließ auch nicht das kleinste Fettnäpfchen aus und mutierte auf der Tribüne zum Pferdeprofi.
Und wer hasste so jemanden schon nicht wie die Pest?
Außerdem trieb es meine Mutter regelmäßig zur Weißglut, wenn Einsteller zu ihr kamen und behaupteten, mein Bruder und ich würden unfreundlich oder gar überheblich mit ihnen umspringen.
Birgit, die bei solchen Vorfällen eine unserer Hauptverdächtigen war, sah mich nun erschrocken an und versteckte verlegen den Hufkratzer hinter ihrem Rücken.
„Hallo Florenze. Was machst du denn hier?", rief sie und lächelte mich beinahe genauso falsch an, wie ich es ihr gerade vorgemacht hatte. Meinen Namen sprach sie grundsätzlich und (zumindest wenn man Lily und mich fragte) auch mit Absicht möglichst deutsch aus, denn sie war der Meinung, in Deutschland spräche man Deutsch und nur Deutsch. Und wenn man mich noch mehr provozieren wollte, als mit irgendwelchen wilden Gerüchten, dann schaffte man das auf jeden Fall mit dem Namen „Florenze".
„Wohnen", antwortete ich knapp auf ihre nun wirklich unnötige Frage.
Birgit lachte und tat so, als wäre das ein freundschaftlicher Scherz gewesen. Den Hufkratzer hatte sie inzwischen wieder hinter ihrem Rücken hervorgezaubert, legte ihn in den silbernen Glitzerputzkasten, der mit Sicherheit ein halbes Vermögen gekostet hatte, und hantierte nun gewollt fachmännisch mit der Kardätsche an ihrem Pferd herum.
„Ich soll dich übrigens von meinem Vater fragen, ob du den Basispass nächsten Sommer noch ein Mal probieren willst. Die Gruppe ist schon ziemlich voll, aber vielleicht wird's jetzt was." Nur mit Mühe konnte ich mir ein höhnisches Lächeln verkneifen: „Aller guten Dinge sind drei."
Statt auf ihre Antwort zu warten, ging ich an Ares' dickem Hintern vorbei (wenn man es nicht schon fast quetschen nennen wollte).
Am Ende der Stallgasse angekommen öffnete ich Marengos Box und halfterte den Apfelschimmel in einem Zug auf. Er schaubte entspannt, wohlwissend, dass die Weide schon auf ihn wartete.
Kurz darauf band ich ihn vor dem kleinen Stall neben der Reithalle an, in dem die Schulpferde untergebracht waren. Dort müsste ich mir nur noch die drei Pferde, deren Halfter ich mitgebracht hatte schnappen und danach hätte ich alle Zeit der Welt.
Ich zog Romeo, einen kräftigen Haflinger, und das zierliche New Forest Pony Shiva bereits hinter mir her, als mir das Plastikschild am dritten Halfter auffiel: Kamilla.
Milla war ein schneeweißer Welsh Cob mit einer extra großen Portion Stutenmanier. Für mich fing jetzt das Puzzeln an. Wie ich es hasste.
Shiva fiel schonmal als potentielle Nachbarin für Milla weg, da ich möglichst vermeiden wollte, den dritten Weltkrieg auszulösen und Romeo war schon in den Reitstunden mit Millas Hufen gestraft, sobald ihr Reiter sie nicht einhundertprozentig im Griff hatte.
Oft genug stellte ich mir die Frage, warum wir unsere Reitschüler dieser Zicke eigentlich regelrecht zum Fraß vorwarfen. Dann fiel mir jedes Mal wieder ein, dass sie neben niedlichem Blick und Struppelmähne unterm Sattel zum Traum von einem vielseitigen Reitpferd mutierte.
Buckeln tat sie auch nie und solange man genug Abstand zu Vorder- und Hintermann hielt, lief Milla wie eine eins.
Trotzdem war sie am Sonntag der Schwarze Peter, der für gewöhnlich dem Letzten überlassen wurde. Es fand sich aber auch niemand, der sie im Alleingang wegbringen wollte. Und heute hatte ich also aus meiner guten Laune heraus ganz vergessen, dass ich spät dran und Milla natürlich noch im Spiel war.
Darum band ich Romeo und Shiva neben Marengo bei den Ringen an der Außenfassade an und schlenderte zu Kamillas Box.
Die kleine Stute begrüßte mich mit einem grunzen und bis zum Anschlag angelegten Ohren.
„Hallo kleine Maus", begrüßte ich sie und klopfte ihren Hals, während ich auch die untere Boxentür aufzog. Als sie mich erkannte und begriff, dass ich ihr das Futter weniger streitig als voll machen würde, entspannte sie sich sichtlich und ließ sich bereitwillig aus der Box führen.
Wie konnte ein Tier nur so sprunghaft sein?
So sprunghaft wie eine gewisse Person, die mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte? Jedes Mal, wenn ich an Luke dachte, spielte mein Magen verrückt, als wollte er sich vollends von meinem Körper verabschieden. Aber diese Übelkeit hatte nichts Schlechtes an sich. Ich hatte einfach nur zu viel Freude in mir.
Kamillas energisches Brummeln ließ meine Gedanken wieder klar werden. Wie lange hatte ich da jetzt einfach vor mich hingestarrt?
Draußen angekommen nahm ich Marengo und Shiva an meine rechte und Romeo und Kamilla an die linke Seite. Da musste er wohl mit zurecht kommen. Kaum verließen wir das Gelände, schon giftete Milla ihn an. Der kräftige Wallach fiepte empört auf und tänzelte demonstrativ ein Stück von unserer kleinen Karawane weg.
Wie sollte ich bei dem Tohuwabohu denn noch einen klaren Gedanken an meine eigentlichen Probleme verschwenden? Wenigstens Shiva und Marengo schupperten aufgeregt aneinander herum und schienen sich recht gut zu verstehen. Die vom Weidegang erhoffte Ruhe konnte ich wohl trotzdem in die Tonne treten.
Wie so oft war ich erleichtert, dass die Schulpferde nur einige hundert Meter vom Hof entfernt standen. Das Tor war schon in Sicht und Romeo hatte sich vorausschauend dazu entschieden, seine Annäherungsversuche ad akta zu legen. Schlaues Pferd.
Am Weidetor angekommen öffnete ich die Pforte und schickte die drei Pferde davon. Während Shiva elegant und erhobenen Schweifes davontrabte, veranstalteten unsere Streithähne vom Dienst eine Mischung aus Prügelei und Furzwettbewerb. Wenn das die kleine Lena aus der Dienstagsmittagsgruppe gewusst hätte, die Romeo immer als ein „Gentlepferd" zu betiteln pflegte, als sei er das letzte Einhorn zwischen Ackergäulen...
Nun waren es also Marengo und ich, die den letzten Kilometer zur Waldwiese zurücklegen mussten.
Fröhlich trottete der kräftige Schimmel neben mir her, schaute hier und da einem herabfallenden Blatt hinterher und wirkte rundum zufrieden mit sich selbst und seinem Leben.
Das konnte ich von meiner momentanen Situation nicht so ganz behaupten, denn mein Vater hatte nun entschieden, dass Luke drei meiner fünf Trainingseinheiten mit Marengo und die Turniere übernehmen sollte und sich in keiner Weise an dessen Pflege zu beteiligen hatte. Er sei eine große Erleichterung für Marengos Ausbildung, hatte Papa behauptet und so gut Luke und ich uns in Moment auch verstehen mochten, so viele Schmetterlinge meine Gedanken vernebelten: Das konnte ich ihm einfach nicht gönnen. Ich hätte ja gerne, aber es war mir einfach nicht möglich.
Langsam schlenderte ich mit dem Schimmel über den feuchten Sandpfad. Selten war er so unbeschwert wie jetzt. Selten so fröhlich.
Während ich ihn so dabei beobachtete, wie er neben mir her schritt, fasste ich einen Entschluss. Ich würde meinen Vater davon überzeugen, dass ich das schaffte. Das wir, das Marengo und ich keine Hilfe brauchten.
Selbstzufrieden beschleunigte ich und klopfte Marengo den Hals. Wir waren ein Team. Wir würden das hinbekommen.
In der Nähe wieherte ein Pferd.
Marengos Kopf schoss in die Höhe und seine Nüstern blähten sich auf. Auch wenn es wohl ein Wiehern sein sollte, klang seine Antwort eher nach abgewürgtem Mähdrescher. Mein Griff um den Strick wurde fester. Die Weide war eigentlich noch nicht in direkter Hörweite. Vermutlich nutzte nur einer unserer Einsteller die kurze regenfreie Phase und wagte einen Ausritt.
Huftritte näherten sich und ein schönes schokobraunes Pferd kreuzte den Waldweg. Auf seinem Rücken saß ein breitschultriger junger Mann, der den Trab des Tieres sanft aussaß.
Das Pferd schnaubte geschäftig und verschwand leichten Trittes wieder hinter den Bäumen. Zwei Sachen waren mir bewusst: Zum einen hatte ich dieses Pferd noch nie in meinem Leben gesehen, zum anderen jedoch kam mir der Reiter mehr als bekannt vor und dieser Gedanke ließ mein Herz einen kurzen Moment aus dem Takt geraten. Der Weg auf dem sie unterwegs gewesen waren, führte in dieselbe Richtung, in die Rajans Hänger seit jeher abzubiegen pflegte. Nun stellte sich nur die Frage, warum Luke auf einem fremden Pferd geradezu auf den Stall dieses Monsters zuritt.
Unentschlossen blickte ich von Marengo hinüber zu der Wegkreuzung und band daraufhin kurzentschlossen die Enden des Führstricks in die Halfterringe. Keine Minute später trabte ich auf dem feintrittigen Apfelschimmel über die Schotterstraße.
Der Weg führte durch den Laubwald, der selbst am Morgen etwas gespenstisches hatte mit seinen kahlen Zweigen und beinahe gräulichen Stämmen, die sich dicht aneinander schmiegten. Im Sommer musste diese Allee wunderschön sein.
Aus Bäumen wurden Wiesen, aus dem feinen Schotter wurde Schlamm und ich ritt auf den Grasstreifen, damit Marengo nicht unentwegt in den vom Regen getränkten Sand einsank.
Wir steuerten geradewegs auf einen großen Fachwerkhof zu. Die roten Kacheln leuchteten in unterschiedlichen Nuancen zwischen den dunklen Holzstreben auf.
Von Luke war weit und breit keine Spur.
Konnte ich mir überhaupt sicher sein, dass der Reiter Luke gewesen war? Und wenn ja, warum war ich ihm hinterhergeritten? Durfte man jetzt nichtmal mehr auf anderen Pferden reiten? Vielleicht wollte er mit Sherlock nur unsere Reitanlagen nutzen und hatte ihn deshalb bei uns stehen oder er probierte ein neues Pferd aus. Aber hätte er mir das nicht erzählt? Erzählte er mir überhaupt mal etwas? War er mir das schuldig?
Ich hätte ihm sowas auf jeden Fall erzählt. Er hatte also ein Geheimnis, das etwas mit Rajan zu tun hatte. Das musste ich lüften.
Unbedingt!
Jetzt durfte er mich bloß nicht entdecken...
Vorsichtig saß ich ab und schnürte meine Halfter-Gedächtnis-Konstellation auseinander, sodass ich Marengo wieder ordentlich – versteckt im Schatten einer kleinen Baumgruppe – anbinden konnte. Kaum hatte ich von ihm abgelassen, da graste er auch schon begeistert drauflos. Wenigstens konnte ich das als Ersatz für seinen verlorenen Weidegang werten.
Ich fühlte mich wie ein Detektiv auf Spurensuche, wie ich so hinter dem Haus entlang auf den Hof schlich. Gut, ich war kein Genie der Extraklasse. Vielmehr hatte ich nicht den blassesten Schimmer, was ich warum hier tat.
Der Hof war zwar klein, die Häuser aber eigentlich ganz hübsch.
Ein kleiner Reitplatz lag dicht an dicht mit Stall und Wohngebäude. Die Backsteine der Häuser waren an den Ecken teilweise abgesprungen und vom Regen ausgehöhlt. Trotzdem hätte ich diesen Hof ohne zu zögern als idyllisch und niedlich bezeichnet.
Aus dem langen Gebäude, an dessen Seite das Fallrohr der Regenrinne authentisch in eine schmutzige Badewanne mündete, drangen dumpfe Geräusche. Luke musste dort hineingegangen sein.
Vorsichtig watete ich durch den matschigen Boden auf das Tor zu, stets darauf bedacht nicht aufzufallen. Der Stall bestand aus einer Wand mit Sattel- und Zaumzeugen und einer Reihe kleiner Holzboxen, aus deren Türen mir vereinzelt zottige Pferdegesichter entgegensahen.
Luke stand am Ende des Ganges, weshalb ich den Spalt im Tor, durch den ich die Szene beobachtete, ein Stück weiter aufschob.
Er hatte die Zügelschlaufe des kleinen Braunen locker in der Armbeuge hängen und lehnte sich mit einem frechen Grinsen in eine der Boxen. Einen kurzen Moment verlor ich mich in seinem Anblick, bis ich den Grund für sein Lächeln entdeckte: Sie war strohblond und groß, vermutlich etwas älter als er. Das Mädchen hatte sich auf eine Mistgabel gestützt und lachte ein schallendes Lachen. Es war eins von denen, die zwar laut und aufgekratzt klingen, aber so authentisch und witzig sind, dass man einfach mitlachen muss. Luke lachte nun auch, aber er lachte nicht wie sonst mit zusammengekniffenen Augen und dieser schmalen Falte auf der Stirn, sondern wie ein kleiner Junge, der gerade das lustigste Spiel aller Zeiten entdeckt hatte.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch verwandelten sich gerade in Motten. Eklige eifersüchtige, braune Motten.
Luke sagte: „Du bist die Beste!"
Er klang dabei so aufgeregt und ehrlich, dass ich ihn auf der Stelle hätte küssen können, wären diese Worte nicht an ein anderes und zu allem Überfluss auch noch umwerfendes Mädchen gerichtet gewesen.
„Dafür bin ich bekannt", kicherte die Blonde und warf neckisch ihr Haar in den Nacken.
Luke ging sofort auf ihr offensives Flirten ein, denn er lachte auch und sagte dann in einem plötzlichen Ernst: „Nein ehrlich, Jo. Du bist wahrscheinlich der einzige Grund, aus dem ich morgens noch aufstehe."
Ich dachte an das, was er am Abend zuvor noch gesagt hatte. Es war mir vorgekommen, als wäre ich das einzige, das tollste Mädchen auf der Welt gewesen.
All das zerbrach gerade auf dem kalten Steinboden unter meinen verdreckten Stiefeln.
Hastig machte ich kehrt und rannte über den Hof in die Richtung, aus der ich gekommen war. Zumindest hoffte ich, dass ich das tat. Ich konzentrierte mich nämlich mehr darauf, nicht auszurutschen und versuchte diese Jo weitestgehend zu ignorieren, denn sie kicherte schon wieder vor sich hin.
Auf einmal hörte ich Luke „Was war das?" rufen und hörte Schritte im Stall.
Er rief meinen Namen, aber ich war schon hinter dem Haus verschwunden, wo Marengo ungeduldig auf mich wartete.
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