Zweiter Teil
Menschen brauchen Hirngespinste, Phantasien, um sich das Leben, die eigene Existenz, erträglicher zu machen.
Sie hatten ihren Geist von Anfang an bereits in Ketten gelegt.
Ihn mit strengen Regeln gefesselt.
Diese Ketten nutzten sie seit vielen Jahren, eigentlich schon zu Anbeginn, wo alles mit primitiver Verehrung der Natur anfing, um mit gewissen Dingen fertig zu werden, wofür sie keine Erklärung hatten.
Personifizierungen.
Eine einfache Methode, um mit den Unbekanntem fertig zu werden.
Menschen brauchen immer jemanden, oder etwas, zu dem sie emporsehen können.
Etwas, dem sie dienen können.
Etwas, woran sie glauben können.
Und sie nutzten diese Ketten, welche mittlerweile keine einzelnen Ketten mehr waren, sondern eine einzige gigantische, um einige ihrer Taten zu rechtfertigen.
Ohne Glauben würden sich Menschen mitten im Nichts wiederfinden.
Und welchen Sinn hätte das Leben dann?
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,,Im Namen des Vaters, und des Sohnes, und des Heiligen Geistes, Amen." Sprach Clara, welche am Fensterbrett niederkniete und die kleinen Hände gefaltet hatte.
Mit einem breiten Grinsen, dem einige Zähne fehlten, da die Milchzähne angefangen hatten auszufallen um Platz für die neuen zu schaffen, sah sie zu ihrer Mutter hoch.
,,Kann ich jetzt noch etwas Lesen, Mama?"
Ihre Mutter, welche leicht Geistesabwesend aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Tochter, hinab in den zugewachsenen Hintergarten gesehen hatte, schüttelte langsam den Kopf und tätschelte Clara's Schulter.
,,Nein Schatz, es ist schon spät."
,,Aber es ist doch noch hell, Mama."
,,Ja Schatz, weil es Sommer ist. Da bleibt die Sonne noch etwas länger auf."
,,Dann kann ich doch auch etwas länger aufbleiben!"
Ihre Mutter verkniff sich ein schmunzeln.
,,Nur weil ich dich ab und an einen Sonnenschein nenne, heißt das noch lange nicht, dass du dir den selben Schlafrhythmus aneignen sollst."
Clara erhob sich. Ihre hellbraunen Locken reichten ihr bis zu den Knien. Nachdem sie umständlich in ihr Hochbett geklettert war und Mutter sie zudeckte, murmelte sie: ,,Ihr Erwachsenen seit voll komisch. Wenn ich müde bin, muss ich aus dem Bett und wenn ich wach bin, muss ich ins Bett..."
Madeleine Thompson seufzte und gab ihrer Tochter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Nun, in diesem Alter werden alle Kinder ein wenig aufmüpfig. Aber das geht wieder vorbei. Manchmal sogar schneller, als es einem als Elternteil lieb ist.
,,Mama, liegt Papa immernoch im Garten? Wenn ich schlafen gehen muss, dann er aber auch! Es ist doch bestimmt schon kalt draußen."
Die vierzigjährige Frau lächelte.
,,Deine Sorge rührt ihn. Aber ich glaube, dass er noch ein weilchen dort bleiben wird."
Clara nickte traurig. Sie vermisste Vati. Seitdem ihre Eltern so doll miteinander geschimpft hatten, verbrachte er viel Zeit im Hintergarten. Er brauchte offenbar ein Wenig Zeit für sich. Aber da er sowieso Gärtner war, fand Clara das ganz in Ordnung. Wenn es ihn glücklich machte...wenigstens war dann Matti nicht mehr so allein.
,,Wenn ich Astronaut bin, kann ich so lange wie ich will aufbleiben."
Madeleine zog beide Augenbraue hoch.
,,Warum denn das, Schatz?"
Clara verdrehte die Augen.
,,Weil im Weltraum keine Sonne scheint! Da gibt es kein Morgen oder Abend." sprach sie in einem Tonfall, als wäre dies offensichtlich.
,,Außerdem kann mich Gott dann viel besser hören, wenn ich da oben bin."
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und hob mahnend einen Zeigefinger.
,,Clara Schatz, Gott hört dich überall. Ebenso sieht er dich auch überall, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Außerdem weißt du doch mit Sicherheit noch, was mit den Menschen geschehen ist, die einen Turm zu Gott in den Himmel bauen wollten, oder?"
Clara nickte eifrig. ,,Ja, er hat allen Bauarbeitern verschiedene Sprachen gegeben." sagte sie, stolz darauf, dies im Gedächtnis behalten zu haben.
,,So, und jetzt schlaf schön. Gute Nacht. Oh, und Hände weg von deinem Wackelzahn. Der fällt von alleine raus, auch ohne dein zutun."
Clara zog sich rasch die Finger aus dem Mund.
,,Gute Nacht, Mama."
Ihre Mutter lächelte sie an und warf ihr einen Handkuss zu, und bevor sie die Zimmertür hinter sich schloss, rief sie: ,,Und denk daran, nichts mehr lesen! Gott sieht dich und dein Ungehorsam und wird dich dafür bestrafen. Die Strafe folgt auf dem Fuß."
Clara nickte nur. Als die Zimmertür verschlossen und das Licht im Flur aus war, tastete sie unter dem Kopfkissen nach der Taschenlampe, und dem Buch über Raumfahrten.
Ihr Blick glitt nach oben, doch dort sah sie nur ihre Zimmerdecke und ein paar, im Dunkeln leuchtende, Sterne die Vati auf's Holz geklebt hatte.
Gott würde für heute sicher eine Ausnahme machen.
Immerhin musste er doch auch mal schlafen.
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Auch Furcht ist ein Anker.
Furcht bedeutet Gehorsam.
Liebe bedeutet Respekt.
Furcht war einfacher.
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Am nächsten Tag, nach dem morgendlichen Gebet, als dankeschön dafür, dass der Herr über Nacht die Seele des Kindes von bösen Geistern und dergleichen geschützt hatte, und dem Frühstück, bat ihre Mutter sie darum, Harald etwas zu bringen. Clara sah auf den kleinen Korb hinab, in dem einige Medikamente und etwas Gebäck lag. Sie wusste, dass der Priester schon ein alter Mann war, der immer häufiger krank wurde. Er war immer zu ihr und den anderen Kindern sehr nett. Sie wusste auch, dass er niemanden hatte, der sich um ihn kümmerte. Clara hatte ihn mal gefragt, ob er vielleicht Opa war. Er verneinte lachend. Schade eigentlich. Er wäre bestimmt ein toller Opa. Sein Gesicht war voller Lachfalten. Und er sang gerne. Außerdem hatte er eine schöne Erzählerstimme. Ein gemeinsames Gebet mit ihm machte sehr viel Spaß. Er alberte viel herum. Konnte aber auch ernst und streng sein, wenn es sein musste. Und hinterher ging er mit den Kindern ein Eis oder dergleichen essen. Das so ein netter Mann alleine war, stimmte Clara ein wenig traurig. Natürlich, er hatte Gott. Aber...
Clara nahm sich vor, mit Gott mal ein ernstes Wort zu reden, wenn sie Astronaut war.
Und sie würde ihn darum bitten, den armen Herrn Wagner wieder gesund zu machen.
,,Clara Schatz, willst du denn dein Crossaint nicht essen?"
Clara schüttelte ihren Kopf, so dass ihre langen Locken von der einen Seite zur anderen schlugen.
,,Nah, das lass ich für Papa. Er hat mal gesagt, dass frische Luft hungrig macht. Der hat bestimmt großen Hunger, da er so oft im Garten an der frischen Luft ist."
Das Lächeln ihrer Mutter verschwand.
,,Ich bin mir sicher, dass er sich darüber freuen wird. Jetzt Lauf schnell!"
Clara nickte, wischte sich mit dem Handrücken die Reste der Butter aus den Mundwinkeln und bevor Madeleine etwas dazu sagen konnte, hüpfte sie mit den Korb vom Stuhl und tapste zur Tür hinaus.
Die Sonne schien und der Asphalt sah aus, als würde er brutzeln, wie eine Pfanne auf dem Herd.
Clara wurde in ihrem rosa Röckchen, dem weißen Top mit Blumenmuster und den hellblauen Sandalen schnell zu warm. Und wenn sie sich beeilte, wurde ihr nur noch wärmer.
Sie wäre ja gern mit ihrem Roller gefahren, aber beim letzten mal war sie damit hingefallen und hatte sich gleich zwei Zähne aufeinmal ausgeschlagen. Seitdem lispelte sie. Wie gut, dass die Zähne nachwachsen werden. Auf diese musste sie dann aber richtig aufpassen. Sonst brauchte sie vielleicht ein Gebiss, wie Tante Josephine, dass sie dann über Nacht in ein Glas Wasser legen musste.
Ob Harald auch ein Gebiss braucht? Sie würde ihn gleich mal danach fragen.
Der Papa ihrer Freundin fuhr mit seinem Auto an ihr vorbei und sie winkte ihm. Hannah's Papa lag nie im Hintergarten. Sie hatten noch nicht einmal einen Garten. Er hatte einen Bürojob. ,,Deshalb ist er auch immer so weiß. Der Kerl kann bestimmt noch nicht einmal einen Löwenzahn einpflanzen.", hatte Vati gesagt. Er konnte nicht im Haus arbeiten. Selbst wenn er Papierkram erledigen musste, setzte er sich immer damit nach draußen.
Clara ließ allmählich die Häuser des Dorfes hinter sich und ging den Berg hoch, der zu der Kirche führte. Herr Wagners kleines Haus befand sich direkt dahinter. Clara's Blick viel auf den Wald zu ihrer rechten Seite. Sie fühlte sich wie Rotkäppchen und musste grinsen.
Und auf der Bank am Waldrand, mit einer Zigarette in der Hand, saß der große, Böse Wolf.
Clara machte keine Anstalten, weg zu rennen. Warum denn auch? Sie sah nur einen Mann mit angegrautem Haar, dreitage - Bart, Bierbauch, und kantigen Gesichtszügen, der eine Zigarette rauchte und sich, als er sie erblickte, von der Bank erhob und auf sie zu schlenderte.
,,Hallo." sagte Clara höflich. Der Mann lächelte sie an.
,,Hallo, mäuschen. Kann ich dir helfen?"
Clara schüttelte eifrig den Kopf.
,,Wirklich nicht? Auch nicht beim tragen?"
Wieder schüttelte Clara den Kopf.
,,Nö, der ist garnich' schwer."
,,Ach, du bist also schon ein großes Mädchen, wie?"
Freudig nickte Clara, stellte den Korb sich vor die Füße und hielt, nach kurzer Überlegung, sieben kleine Finger in die Luft.
,,Ich bin schon sieben Jahre alt!" sagte sie, nicht ohne Stolz. Der Mann nickte anerkennend. ,,Donnerwetter. Darf ich fragen, kleines, ich meine natürlich großes Mädchen, wo du hin gehst?"
,,Ich darf nicht mit Fremden reden, tut mir leid."
,,Ach, das hat dir wohl deine Mama gesagt?"
,,Nee, mein Papa. Und meine Tante. Also Tante Josephine. Die andere wohnt in Schweden."
Der Mann ging vor ihr in die Hocke und musterte das Mädchen von oben bis unten.
,,Ich heiße Marius. Und wie lautet dein Name, süße?"
Clara zögerte. Sie sollte zwar nicht mit Fremden reden, aber ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass es unhöflich ist, sich nicht vorzustellen.
,,Ich heiße Clara."
Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: ,,Ich habe auch einen Zweitnamen."
,,Und wie lautet dieser?"
,,Finja."
Marius kniff ihr in die Wange, die noch etwas Babyspeck hatte, welcher nur langsam verschwinden wollte.
,,Das ist wirklich ein toller Name. Du kommst nicht aus Amerika, oder?"
,,Ich wurde in Schweden geboren."
,,Donnerwetter! Sprichst du denn auch Schwedisch."
,,Ein bisschen."
,,Nun, das ist doch schonmal was. Wohin gehst du denn jetzt nun eigentlich?"
Clara deutete Richtung Kirche, welche noch ein gutes Stück entfernt war.
,,Dort hin, wirklich? Was willst du denn dort?"
,,Herrn Wagner den Korb geben."
,,Wer ist denn dieser Herr Wagner?"
,,Der Priester. Er ist schon alt."
,,Ach so, ich verstehe..."
Der Mann erhob sich.
,,Nun, Herr Wagner ist leider nicht da."
Clara schob die Unterlippe vor. Jetzt hatte sie sich völlig umsonst auf den Weg gemacht.
,,Aber wo kann er denn sein?"
Erschrocken schnappte Clara nach Luft, als ihr etwas einfiel.
,,Ist er etwa im Krankenhaus??? Geht es ihm wieder schlecht?!"
Marius lächelte, auf eine beunruhigende Art und Weise. Eine Art und Weise, welche das kleine Mädchen noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Lächeln, welches sie noch viele Jahre verfolgen würde. Das, und einige andere Dinge.
,,Nein, nein...er ist vor kurzem in...Rente gegangen und befindet sich jetzt in Kur. Seine Wohlverdiente Pause. Ich bin jetzt der neue Priester."
Clara sah ihn skeptisch an. Marius sah garnicht wie ein Priester aus. Harald hatte zwar auch einen dicken Bauch, aber den bekamen alte Menschen offenbar einfach mit der Zeit.
,,Stimmt was nicht, Clara - mäuschen?"
Clara zögerte. ,,Ich werde Harald vermissen. Ich konnte noch nicht mal tschüss und gute Besserung sagen."
Nach einer Weile fügte sie hinzu:
,,Er war oft mit uns Eis essen."
,,Oh, Eis essen können wir beide auch. Na, was sagst du?"
Clara dachte darüber nach. Mutter würde bestimmt wollen, dass sie ein wenig Zeit mit dem neuen Priester verbrachte. Und Herr Wagner bestimmt auch. Er hatte ihn bestimmt nicht grundlos als Nachfolger genommen. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, nahm Marius sie an die Hand und zog sie hinter sich her, Richtung Wald. Weg vom Dorf und weg von der Kirche. Und weg von Herr Wagner's Haus, welches nun wahrscheinlich nicht mehr sein Haus war. Ob Marius jetzt darin wohnen würde?
,,Wohin gehen wir?"
,,Mach dir keine Sorgen, süße. Ich kenne eine Abkürzung zur Eisdiele."
Diese Abkürzung war Clara zwar neu, aber ihre Mutter würde bestimmt wollen, dass sie dem neuen Priester vertraute.
,,Wo sind eigentlich deine Eltern gerade?"
Fragte Marius. Er wirkte angespannt.
,,Meine Mama ist zuhause und mein Papa liegt im Hintergarten, neben Matti, sagt Mama."
,,Matti?"
,,Mein Kanarienvogel. Papa hatte ihn mir zu Weihnachten geschenkt."
Marius sah stur geradeaus. Seine Hand war groß, rau und schwielig. Wie die von Vati.
,,Sag mal, was willst du eigentlich werden, wenn du groß bist?"
,,Astronaut."
Marius blieb so plötzlich stehen, dass Clara gegen ihn prallte und den Korb fallen ließ. Sie befanden sich auf einer Lichtung, mit vielen bunten Blumen und einem Kreuz. Jesus schaute traurig und blutend auf sie beide hinab, mit einer Krone aus Dornen.
,,Aber ist doch kein Beruf, für so kleine süße Mädchen wie dich, oder Clara?"
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Die Strafe folgt auf dem Fuß.
Voraussicht.
Schicksal.
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Es war Abend, als Clara nach Hause zurückkehrte. Das Blut lief ihr die Beine hinunter, floss in ihre Sandalen und tropfte auf die Fußmatte.
Eine Stunde lang verbrachte Clara kniend vor ihrem Fenster und während sie zum dunklen, Sternenlosen Himmel emporsah, hoffte sie, dass Gott sie sehen konnte.
,,Bitte lieber Gott, es tut mir leid."
Ihr Zimmer stank immernoch nach erbrochenem. Ihr Rock stand fast vor getrockneten Blut. Ihre Unterwäsche lag auf der Lichtung.
,,Es tut mir leid, dass ich gestern noch so lange gelesen habe, obwohl Mama es mir verboten hat. Es tut mir leid...es tut mir leid..."
Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Sie konnte nicht mehr schreien, geschweige denn weinen.
,,Es tut mir leid..."
,,Du bist nur wieder Roller gefahren, Clara. Beruhige dich. Sei ein artiges kleines Mädchen, und geh dich jetzt waschen. Vergiss das Gebet vor dem Schlafengehen nicht."
Clara betete so lange, bis ihre Knie auch noch wund waren.
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Gott bestimmt das Schicksal. Und das von Clara Finja Thompson war noch lange nicht vorbei. Denn sie wurde noch von jemanden sehnsüchtig erwartet. Er wartet auf sie.
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