09. Nochmal Glück gehabt
Ich atme schwer, während mein Herz droht, aus meiner Brust zu springen. Ich richte die Träger meines Kleides und streiche es glatt, derweil knöpft sich Antonio sein Hemd zu. Seine Stirn steht in Falten, als würden sich tausend kleine Rädchen in seinem Kopf drehen, bevor er sich besorgt über seinen Mund fährt und mit seiner freien Hand auf dem Schreibtisch abstützt. Er tippt nervös mit seinen Fingern auf der Holzplatte herum und sucht scheinbar nach den richtigen Worten. »Das hätte nicht passieren dürfen. Hätten wir noch einmal miteinander geschlafen, wären wir in Teufelsküche gelandet. Das kann nicht noch einmal passieren, Scarlet.«
»Ich weiß.«
Ich will mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn uns jemand erwischt hätte. Ich glaube nicht, dass Ava uns verpetzt hätte, doch es hätte heute jeder in dieses Büro kommen und uns erwischen können. Eine Affäre mit Antonio, meinem verflixten Professor, ist es nicht wert, meine gesamte Zukunft aufs Spiel zu setzen. Und so, wie er mich gerade anschaut, denkt er genau dasselbe. Bis vor wenigen Minuten haben wir behaupten können, dass wir in San Francisco nichts von dieser Professor-Studentin-Verbindung gewusst haben. Heute Abend aber sind wir dieses Risiko bewusst eingegangen, weil wir uns von unseren Gelüsten leiten lassen haben. Ein Fehler, welchen wir beiden zutiefst und unleugbar bereuen.
»Scarlet? Wo bist du?«, hören wir die Stimme von Ava erneut rufen, doch diesmal ist sie näher als zuvor, weshalb wir beide plötzlich ziemlich besorgt sind.
»Geh zu ihr, bevor sie einen Blick hier reinwirft«, fordert Antonio mich auf. Sein Büro ist als einziges erleuchtet und damit ein einfaches Ziel. Ich nicke und will sein Büro verlassen, als er mich jedoch am Arm festhält, sodass ich mich noch einmal zu ihm umdrehen muss. »Es tut mir wirklich leid. Ich will dich nicht durcheinander oder in Schwierigkeiten bringen. Ich hätte der Stärkere von uns beiden sein müssen und es nicht soweit kommen lassen dürfen. Du bist eine intelligente, wunderschöne, junge Frau, die noch ihr gesamtes Leben vor sich hat. Ich wäre nur ein Hindernis, dass dich wahrscheinlich alles kosten könnte.« Er lächelt mich schwach an und nimmt die Hand von meinem Arm. »Und nun ab mit dir, wir dürfen nicht erwischt werden. Wir sehen uns Montag im Unterricht. Vergiss deine Hausaufgaben nicht«, weist er mich zwinkernd und schmunzelnd an.
Ich verstehe nicht, wie er innerhalb von wenigen Augenblicken komplett umschalten kann und unschöne Scherze über aufgegebene Hausaufgaben macht. Lässt es ihn wirklich kalt oder setzt er lediglich eine Maske auf, um seine wahren Gefühle nicht vor mir offenbaren zu müssen?
»Natürlich«, nuschle ich.
»Scarlet? Mit wem redest du?«, fragt Ava plötzlich und kommt mir entgegen, weil sie mich erkannt hat, da ich auf der Schwelle zum Flur stehe. Antonio drückt sich schnell an die Wand neben der Tür, um nicht gesehen zu werden, während mir vor Schreck beinahe die Tasche zu Boden fällt.
Ich ergreife blitzschnell mein Telefon und halte es an mein Ohr, während ich in den Flur trete, damit sie nicht in das Büro kommt. »Ja, versprochen, ich werde sofort nach Hause gehen«, täusche ich ein Gespräch vor und tue danach so, als würde ich genervt auflegen. »Mein Vater, ich habe doch gesagt, er würde es herausfinden.«
Sie schaut mich irritiert an und kratzt sich am Hinterkopf. »Aber wie hat er das denn überhaupt herausgefunden und wieso gehst du überhaupt ran, wenn er dich mitten in der Nacht anruft? Ist doch klar, dass er den Braten dann sofort riecht«, erklärt sie – was natürlich eine äußerst sinnvolle und sehr kluge Erwiderung ist. Normalerweise würde ich das auch niemals tun, weshalb ich gezwungen bin, meine Notlüge etwas weiter auszubauen, um nicht aufzufliegen.
»Es war mein Fehler, ich wollte dich anrufen, weil ich dich einfach nicht mehr gefunden habe. Doch irgendwie habe ich dummerweise meinen Vater angerufen.«
Sie sieht mich entschuldigend an und verzieht schuldbewusst die Lippen. »Ich hätte dich doch nicht zum Trinken verleiten sollen. Ist dein Vater sehr sauer?«, erkundigt sie sich und hofft, dass sie mich dadurch nicht in Schwierigkeiten gebracht hat.
Ich überlege kurz, denn meine Antwort muss so realistisch wie möglich rüberkommen. »Ziemlich sauer, ja. Ich werde mir Sonntag wahrscheinlich mehrere wütende Predigten von ihm anhören müssen. Aber mach dir keine Gedanken, es ist nicht deine Schuld. Ich hätte auch nein sagen können, Ava. Und weil ich es nicht getan habe, werde ich nun mit den Konsequenzen leben müssen.«
»Ich fühle mich trotzdem schuldig«, gibt sie kleinlaut und beschämt zu.
Weil Antonio noch immer wenige Meter von uns beiden entfernt ist, steigt in mir das dringende Bedürfnis, unser Gespräch woanders zu beenden als hier. »Alles gut, wirklich. Lass uns jetzt aber bitte zurück ins Wohnheim gehen, ich will den Geduldsfaden meines Vaters nicht noch weiter strapazieren. Ich könnte ihm wirklich zutrauen, dass er mir in der nächsten Stunde einen Überraschungsbesuch abstattet, um mich zu kontrollieren«, erkläre ich überzeugend und lege ihr einen Arm um die Schulter, damit ich sie von seinem Büro wegzuführen kann.
Wir sind in paar Meter vorangekommen, als sie sich plötzlich umdreht und zu seinem Büro zurückgeht. »Du hast das Licht nicht ausgemacht. Ich werde das mal eben schnell erledigen. Warte kurz.«
Um Himmels Willen, wenn meine Nerven weiter überanstrengt werden, dann bekomme ich heute Nacht sicherlich noch einen verdammten Herzinfarkt.
Ich hole sie kurz vor der Tür ein und halte sie fest, damit sie es nicht betreten kann. »Das musst du doch nicht tun. Ich habe es vergessen auszumachen, also ist das natürlich meine Aufgabe!«, erkläre ich und schiebe sie auf den Flur zurück, um ein wenig Abstand zwischen Antonio und Ava zu bringen.
Sie hebt die Augenbraue, doch lässt mich gewähren. »Na gut, aber es hätte mir wirklich nichts ausgemacht.«
»Natürlich, weiß ich doch.«
Ich laufe ins Büro zurück und stelle mich neben Antonio, der unweit der Lichtschalter steht. Auf seiner Stirn haben sich mehrere Schweißperlen gebildet und er presst angespannt seinen Kiefer zusammen. An seiner Halsschlagader kann ich erkennen, dass sich sein Herzschlag erhört hat. Wahrscheinlich dachte er gerade für wenige Sekunden, dass wir nun aufliegen, weil Ava beinahe sein Büro erreicht hätte.
»Entschuldigung«, hauche ich tonlos.
»Du bringst mich noch ins Grab«, flüstert er leise und schüttelt seinen Kopf, während er sich beschützend über sein Herz fasst.
Ich lächle ihn traurig an, bevor ich das Licht ausschalte und sein Büro verlasse. Ich realisiere erneut, wie knapp es heute doch war und ich das nicht noch einmal riskieren will. Nicht für einen Mann und nicht für eine belanglose Affäre. Ich werde meine zukünftige Chirurgenkarriere nicht für eine heiße Nacht mit meinem Professor aufgeben. Auch nicht für mehrere heiße Nächte. Ich bin ihm heute zum letzten Mal nähergekommen und werde mich ab jetzt von ihm fernhalten, weil er es nicht wert ist. »Können wir nun nach Hause? Ich bin wirklich durch mit dieser Nacht!«, teile ich Ava gähnend mit.
»Lass uns verschwinden.«
Ungefähr eine halbe Stunde später liege ich im Bett und bin eingeschlafen. Ich habe allerdings eine unruhige Nacht und wälze mich hin und her, weil mich die ganze Situation mit Antonio mehr mitnimmt als gedacht. Doch nicht, weil ich traurig bin, dass wir es beendet haben, bevor es wirklich angefangen hat, sondern weil ich Angst habe, dass es irgendwie doch noch ans Licht kommt. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass niemand von mir und Antonio wissen kann, bleibt die Angst und Sorge bestehen. Das wird sich nicht ändern.
Als ich nach einem unruhigen Schlaf wieder erwache, ist es bereits Mittag, doch ich kann mich nicht überreden mein Bett zu verlassen. Erstens, weil ich emotional nicht dazu in der Lage bin, und außerdem, weil ich tierische Kopfschmerzen durch den Alkohol habe. Beides ärgert mich tierisch, da ich heute noch einiges für die Universität machen muss, weil ich morgen bei meinen Eltern zu Besuch bin. Ich zwinge mich irgendwie aus dem Bett, ziehe meine Hausschuhe an und laufe in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen, damit ich wach werde.
Ava liegt mit ihrem Kopf auf dem Küchentisch und schnarcht, während ihr Kaffee noch unberührt vor ihr steht. Sie hat nur knapp ihr Ziel verfehlt, weshalb ich schmunzeln muss und sie vorsichtig antippe.
»Ava, aufwachen.«
Es dauert einen Moment, bis sie ihren Kopf hebt und mich schläfrig anschaut. »Was machst du in meinem Schlafzimmer? Habe ich verschlafen? Müssen wir zum Unterricht?«, fragt sie gähnend und richtet sich auf, doch sie braucht einen Augenblick, um zu realisieren, dass sie nicht in ihrem Bett liegt. »Warte, ich bin in der Küche?«, fragt sie verwirrt und gähnt erneut.
»Es ist Samstagmittag, ich wollte dich nur wecken, weil du einfach am Küchentisch eingeschlafen bist. Ich schätze, dass dein Kaffee auch kalt ist.«
Ihre Erinnerungen kommen langsam wieder und sie beginnt, zögernd an ihrem Kaffee zu nippen, ehe sie ihn unzufrieden wegstellt. »Jap, kälter als der Nordpol«, bestätigt sie und steht auf, um sich einen neuen Kaffee zu machen. »Und wie hast du geschlafen?«, fragt sie, als ich mich hingesetzt habe.
»Geht so. Deine Nacht scheint auch nicht gerade berauschend gewesen zu sein.«
Sie nickt. »Oh ja.«
Avas gestrige Nacht hielt auch einige Erlebnisse für sie bereit, wie sich auf dem Heimweg herausgestellt hat. Sie hat mir nach anfänglichem Zögern verraten, wieso ich sie ziemlich lange nicht auffinden konnte. Sie hat einen anderen Studenten kennengelernt und sich mit ihm weggeschlichen, um ein wenig rumzumachen. »Ich habe mich übrigens geirrt, ich kenne ihn doch«, gesteht sie und klatscht sich beschämt gegen die Stirn. »Ich habe ihn gestern nicht direkt wiedererkannt, weil ich doch ein wenig betrunken war. Kannst du dich noch an das Mittagessen von Mittwoch erinnern, wo wir mit Heath gegessen haben?« fragt sie mich.
Heath ist ein Klassenkamerad, der direkt neben uns sitzt, weshalb wir uns mit ihm angefreundet haben und oft die Mittagspause zusammen verbringen.
»Hast du mit Heath geknutscht?«, frage ich mit weit geöffnetem Mund.
Sie schüttelt schnell mit ihrem Kopf. »Schlimmer - mit Marcus, seinem Freund, der sich Mittwoch zu uns gesetzt hat«, erklärt sie und ich schaue sie verwirrt an, weil ich nicht nachvollziehen kann, wieso das schlimmer ist.
»Ich verstehe nicht...«, gestehe ich.
»Kannst du dich nicht daran erinnern, wie er erzählt hat, dass er eine feste Freundin hat?«, versucht sie mir auf die Sprünge zu helfen.
»Oh.« Jetzt verstehe ich. Ich habe tatsächlich nicht direkt daran gedacht, doch jetzt, wo sie es explizit erwähnt hat, fällt es mir doch wieder ein. »Ok, aber vielleicht haben sie sich ja getrennt? Man muss ja nicht immer direkt vom Schlimmsten ausgehen, oder? Wir können am Montag einfach mal bei Heath nachfragen. Natürlich ganz unauffällig«, schlage ich vor und sie nickt einverstanden.
»Gut, denn ich will keine Frau sein, die einem Kerl hilft, seine Freundin zu betrügen. Sowas geht einfach überhaupt nicht!«
Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, bevor ich ihr zustimme. »Sehe ich genauso. Ich hasse Menschen, die fremdgehen«, teile ich ihr mit und sie schüttelt sich.
»Lass uns lieber das Thema wechseln, sonst drehe ich nur noch wegen ihm durch«, sagt sie aufgebracht und atmet dann durch. »Und du konntest wegen deinem Vater nicht schlafen?«, fragt sie mich schuldbewusst.
Heute einmal nicht, aber das kann ich ihr natürlich nicht verraten. Sonst würde meine Notlüge aufliegen. »Ja, ich fürchte mich ziemlich vor seiner Reaktion«, lüge ich und halte dann mein Telefon hoch. »Ich habe auch vorhin eine Nachricht erhalten, dass er das niemals von mir gedacht hätte«, schmücke ich die Lüge aus, damit diese nicht auffällt. Ich hatte schon immer ein Händchen für unangebrachte Übertreibungen.
Sie schüttelt enttäuscht ihren Kopf, weil sie meinen Vater durch meine Erzählungen überhaupt nicht leiden kann. »Es tut mir wirklich leid, ich wollte es nicht schlimmer für dich machen«, entschuldigt sie sich erneut.
Ich lächle sie schwach an und schüttele ebenfalls mit meinem Kopf. »Ava, es ist wirklich nicht deine Schuld. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen«, versichere ich ihr, weil ich nicht möchte, dass sie sich deswegen schlecht fühlt. »Ich gehe mal schnell ins Badezimmer«, erkläre ich und lasse sie für einen Augenblick allein.
Nachdem ich den eigentlichen Grund für den Besuch des Badezimmers erledigt habe, wasche ich noch schnell meine Zähne und spritze mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Danach suche ich im Schrank nach ein paar Kopfschmerztabletten. Als ich zurück in die Küche komme, steht meine Mitbewohnerin mit meinem entsperrten Telefon in der Hand am Backofen und legt ein Kräuterbaguette hinein. »Hm, Ava? Wieso hast du mein Telefon?«, frage ich streng nach.
Sie lächelt mich erleichtert an, während sie mir mein Telefon reicht. »Du musst dir bezüglich deines Vaters keine Sorgen mehr machen. Ich habe ihm erklärt, dass letzte Nacht allein meine Schuld war.« Ich schlucke und schaue mit schwerem Herzen auf meine Anrufliste und hoffe, dass das gerade ein schlechter Scherz ist. Ich will mir nicht ausmalen, was morgen beim Familienessen passiert, wenn er von letzter Nacht erfährt. Und die Gewissheit lässt mich erstarren, denn ich bin sowas von erledigt.
Ausgehender Anruf - an Vater.
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