03. Willkommen in Harvard
Nur wenige Stunden später sind alle meine Sachen in Kisten verpackt und im Auto verstaut, weil ich bereits vor meinem Kurztrip nach San Francisco mit dem Packen angefangen habe. Ich sitze auf meiner geliebten Fensterbank, die direkt neben meinem leeren Bücherregal steht und schaue auf das bepackte Auto unten auf der Straße. Michael klopft kurz an die Tür und betritt mein altes Kinderzimmer. »Bist du soweit? Die Anmeldung beginnt demnächst. Dein Vater wartet bereits unten im Auto.«
Ich war natürlich nicht überrascht, als mir mein Vater vorhin eröffnet hat, dass er mich heute begleiten möchte. Er will sich einen Überblick über mein Wohnheim verschaffen sowie den Kursplan studieren und meine Professoren kennenlernen. Und wie ich ihn kenne, wird er sich heute nur beschweren oder mit seiner beruflichen Laufbahn prahlen. Dasselbe ist nämlich passiert, als ich meinen Bachelor angefangen habe. Er hat mit mehreren Professoren gestritten, weil er diese als nicht würdig eingestuft hat und immer aus denselben Gründen. An keiner Elite-Universität studiert, nicht genug Erfahrung oder weil es Demokraten sind. Mein Vater findet immer einen Grund, nicht zufrieden zu sein. Ich habe gelernt, ihn machen zu lassen, denn wenn ich mich einmische, wird er ungemütlich.
»Ja, ich komme«, teile ich Michael mit und erhebe mich von der Fensterbank. Ich bleibe noch einen Moment davor stehen, anstatt das Zimmer direkt zu verlassen, und schaue mich noch einmal gründlich um. Ich habe hier dreiundzwanzig Jahre lang gewohnt, habe gelacht und geweint. Ich verbinde unendlich viele Erinnerungen mit diesem Zimmer, ob nun gut oder schlecht.
»Ich hätte eigentlich gedacht, dass du die Erste im Auto bist.« Michael lächelt mich traurig an, weil er die letzten Jahre mitbekommen hat, was los ist. Wie ich mich verändert habe. Er kennt meinen Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit zu gut, weil wir uns oft darüber unterhalten haben. Ich hätte auch angenommen, dass ich dieses Haus so schnell wie möglich verlassen würde und trotzdem zögere ich ein wenig. Nicht, weil ich unbedingt hierbleiben will, sondern weil ich das wohlbehütete Umfeld verlasse und auf eigenen Beinen stehen werde. Ich habe keine Ahnung, was mich erwarten wird. Auch wenn ich hier keine großen Freiheiten hatte, kannte ich meinen Platz, wusste, wo ich hingehöre und was ich zu tun habe.
Ich habe Angst, es nicht zu schaffen, weil ich noch nie auf mich allein gestellt war. Ich hatte immer meine Eltern, die mich gelenkt haben. Manchmal glaube ich, nicht einmal zu wissen, wer ich denn ohne meine Eltern bin.
Wer weiß ... vielleicht bin ich mit nahezu grenzenloser Freiheit auch vollkommen überfordert und versaue alles?
Ich laufe zu meinem leer geräumten Schreibtisch hinüber und schnappe mir Handy, Portemonnaie und meinen Rucksack für die Universität. Ich überprüfe noch einmal, ob ich auch wirklich alle Unterlagen eingepackt habe, und setze ihn dann endlich auf. Michael geht bereits vor, ich folge ihm bis zur Tür, wo ich mich nochmal kurz umdrehe und einen letzten Blick durch mein Zimmer streifen lasse. Ich sehe, wie mich mein Vater diszipliniert, weil eine Zwei nicht gut genug ist oder ich nur drei Stunden am Stück gelernt habe. Ich sehe aber auch die Erinnerungen, wo mich Michael oder meine Großmutter aufgeheitert und in die Arme genommen haben, wenn ich mit meinen Nerven am Ende war. Meine Oma weiß genau, was ich durchgemacht habe, da mein Vater sein Verhalten von seinem Vater und ihrem Ehemann gelernt hat. Selbst die Fürsorglichkeit seiner liebevollen Mutter hat ihn nicht retten können, weil er zu sehr von seinem herrschsüchtigen Vater geprägt war. Im Gegensatz zu mir wollte er sich nicht ändern und hat zu seinem Vater bewundernd aufgesehen. Nur Gott weiß, warum.
Ich habe meine Oma oft gefragt, warum sie sich nicht von ihm trennt, wenn sie unter ihm leidet. Sie hat diese Frage oft mit einem Achselzucken weggesteckt oder gesagt, dass sie einfach nicht dazu in der Lage sei.
Vermutlich – das habe ich mir jedenfalls als Erklärung überlegt – ist es einfach schwierig, nach all den Jahren, in denen man so gelebt hat, sein komplettes Leben auf den Kopf zu stellen. Viele fragen sich sicher auch, weshalb ich mir all diese Unannehmlichkeiten von meinem Vater gefallen lasse. Ich habe keine zufriedenstellende Antwort, außer, dass man mir seit der Kindheit beigebracht hat, gehorsam, fügsam und folgsam zu sein. Wenn ich mich nicht daran gehalten habe, habe ich es oft auf die harte Tour lernen müssen. Ich wurde in meinem Zimmer eingesperrt, habe öfters kein Abendbrot bekommen oder mir eine Ohrfeige eingefangen. Außerdem habe ich miterlebt, wie es ist, wenn man aus der Gnade meines Vaters fällt. Und das ist etwas, vor dem ich mich bis heute fürchte.
Oft habe ich überlegt, einfach abzuhauen und ein neues Leben anzufangen, doch ich wusste nie, wie ich das schaffen soll. Ich wäre nicht in der Lage, mein Studium zu finanzieren, und könnte nicht meiner Leidenschaft der Humanmedizin folgen.
Und eben deshalb bedeutet dieser Auszug mehr als nur ein neues Studium anzufangen; es ist eine Chance auf einen Neuanfang und um mich abseits meiner Familie kennenzulernen. Ich möchte mich entfalten, neue Erfahrungen machen und wissen, wie es sich anfühlt, nicht ganz im Kontrollbereich meines Vaters zu leben. Allein die Gewissheit, dass er nicht bestimmen und überprüfen kann, wann ich abends ins Bett gehe, lässt mich schmunzeln und vor lauter Elan beinahe innerlich platzen. Ich schlage zweimal gegen den Türrahmen, bevor ich die Zimmertür endgültig schließe und zum Auto herunterlaufe. Sowohl Michael als auch mein Vater sitzen schon im Wagen, als ich hinter dem Beifahrersitz einsteige.
Er schaut missbilligend auf seiner Armbanduhr und schüttelt dann seinen Kopf. »Das hat eindeutig zu lange gedauert. Wir werden uns definitiv verspäten!«
Wir wären wahrscheinlich schon viel früher losgefahren, wenn er uns beim Verladen des Autos geholfen hätte. Selbstverständlich würde mein Vater nicht einmal im Traum daran denken, seine kostbaren Chirurgenhände dreckig zu machen. Natürlich würde ich ihm diesen Vorwurf auch niemals ins Gesicht sagen, denn dazu fehlt mir schlicht und ergreifend der Mut. Ich bin noch jung. Ich versuche noch, zu wachsen. Irgendwann werde ich vielleicht können.
»Entschuldigung, es hat länger gedauert, als ich gedacht habe«, erkläre ich stattdessen und sehe im Rückspiegel, wie Michael seinen Kiefer anspannt, weil er anscheinend einen ähnlichen Gedanken hatte wie ich.
»Was habe ich dir über Pünktlichkeit beigebracht, Scarlet?«, möchte mein Vater nun wissen.
Ich seufze schwer, was ihm vermutlich ebenfalls missfällt. »Es ist keine Tugend, sondern eine wichtige Voraussetzung, um später erfolgreich zu sein.«
Er nickt zufrieden. Offensichtlich ist es ein tolles Gefühl, eine Tochter zu haben, die einem exakt nach dem Mund plappert. »Und dann denkst du nicht, dass es heute sehr wichtig ist? Was soll Harvard bitte von dir denken, wenn du direkt am ersten Tag zu spät kommst?«, fragt er kaum zwei Sekunden später bereits wieder enttäuscht.
»Heute werden viele zu spät kommen. Es reisen schließlich Studenten aus aller Welt an, um in Harvard zu studieren«, versuche ich mein Verhalten zu entschuldigen.
Wie erwartet ging der Schuss ohnehin nach hinten los, denn mein Vater schnarrt jetzt: »Mir sind die anderen Studenten sowas von egal, es geht mir um deinen Eindruck! Alles, was du tust, fällt später auf mich zurück!«
Also geht es nicht um mich.
Sondern um ihn.
Wie üblich.
»Haben wir uns da verstanden?«, fragt er, als wären seine letzten Worte noch nicht genug gewesen, und verlangt damit eine Reaktion, die mehr als den Blick abzuwenden beinhaltet. Er denkt wohl, dass ich mich, jetzt, wo ich nicht mehr unter seinem Dach und damit unter seiner Fuchtel lebe, benehmen werde wie eine freche Göre von der Straße. Dabei würde er alles dafür tun, dass ich ihn nicht blamiere.
»Ich habe verstanden, Vater.«
Damit ist das Gespräch für ihn vorbei und er holt sein Tablet hervor, um seinen Terminkalender für die nächste Woche durchzugehen. Es soll mir recht sein, denn so muss ich immerhin nicht weitere Enttäuschungen miterleben. Wie oft habe ich mir einen herzlichen, sorgenden Vater gewünscht, der mich wie eine verletzliche Prinzessin behandelt? Er war weder jemals auf einer Vorführung in der Grundschule noch hat er mich in den Schlaf gelesen oder gesungen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er bei meiner Geburt dabei war oder lieber Geld in seiner Praxis verdient hat.
Da der Verkehr am Sonntag recht überschaubar ist, benötigen wir lediglich eine halbe Stunde bis zur Uni. Der große Parkplatz ist natürlich schon voll, weshalb wir den Wagen ein wenig abseits abstellen müssen. Michael wird beim Auto bleiben, um ein wachsames Auge auf meine Sachen zu haben. Man hat schon etliche Geschichten über Diebstähle am Tag der Anmeldung gehört, weil alle viel zu aufgeregt und unachtsam mit ihrem Gepäck sind. Ich steige aus und spüre mein Herz schneller schlagen, weil ich es kaum erwarten kann, mit meinem Medizinstudium anzufangen. Ich habe die letzten Jahre genau auf diesen einen Augenblick hingearbeitet.
»Scarlet, trödele nicht und beeil dich! Wir müssen dich noch anmelden, bevor der Präsident diesen Tag heute feierlich eröffnen wird!«, schubst mich mein Vater herum.
Ich setze meine Beine in Bewegung und mein Vater und ich laufen zusammen in Richtung des berühmten Eingangstors von Harvard. Mein Grinsen wird breiter, als wir durchschreiten und uns nun auf dem Campus befinden. Überall befinden sich Stände, wo sich Clubs, Mannschaften und Gewerkschaften vorstellen. Es gibt jedoch auch etliche Kuchenbasare, um Geld für gute Zwecke zu sammeln. Gerade kommen wir an einem vorbei, der Geld für Schulen in Mosambik sammelt.
»Mr. Pierce!«, ruft jemand von einem Informationsstand.
»Wären Sie an einer Spende für medizinische Zwecke interessiert?«, bittet eine ältere Frau im Ärztekittel und zeigt zur Tafel. »Wir wollen gegen die Krankheiten in Afrika vorgehen und eine kostenlose Klinik eröffnen.«
Mein Vater hebt eine Augenbraue und überlegt sich wahrscheinlich gerade eine höfliche Ausrede, weil ihm wohltätige Zwecke unwichtig sind. Doch als er plötzlich seine Stimme erhebt und so laut wie möglich spricht, überrascht er mich. »Natürlich. Ich, Jacob Pierce, würde gerne für einen guten Zweck spenden«, versichert er ihr und zückt unverzüglich seine Brieftasche.
»Entschuldigung, dürfte ich ein Foto für die Harvard Daily machen?«, unterbricht uns ein Reporter und hält seine Kamera hoch.
»Sicher doch«, erwidert mein Vater in gönnerhaftem Ton und holt einen Check hervor, um ihn schnell auszufüllen. »Hier sind 1000 Dollar für ihr Krankenhaus in Afrika.« Er verkündet seine einmalige Tat so laut, als wäre der gesamte Campus schwerhörig, während der Reporter ihn fotografiert, wie er den Check überreicht. Ob er wie ich durchschaut, dass mein Vater diese Spende einzig und allein für die gute Presse tätigt, die damit scheinbar in Zusammenhang steht, weiß ich nicht. Vermutlich wäre es ihm aber auch egal. Hauptsache, er bekommt sein Foto von einem der berühmtesten Chirurgen im Umkreis. Mein Vater setzt seine Charade fort, indem er ein kurzes Statement darüber abgibt, was ihm Spenden bedeuten und weshalb er heute hier ist.
»Scarlet!«, holt er mich kurz darauf mit unzufriedener Miene zurück in die Gegenwart. »Wir müssen weiter!«
Am liebsten würde ich über die Widersprüchlichkeit seiner Taten lachen, doch ich bin klug genug, meinen Mund zu halten und den Lacher herunterzuschlucken. Wir laufen weiter zur Widener Library. Im Zentrum von Harvard, auf einem kleinen Square vor der Bibliothek, ist die Hölle los. Hier versammeln sich derzeitig alle Erstsemester mit ihren Freunden und Familien. Es gibt mehrere Pavillons für die Anmeldung, die alphabetisch nach Nachnamen sortiert sind. Wir drängeln uns durch die Massen, um meinen Zuständigen zu finden. »... M, N und O«, lese ich laut vor und zeige auf den nächsten, dem ein großes P übersteht. »Dort!«
Wir stellen uns an und ich befürchte zuerst, dass wir ein wenig warten müssen, da ungefähr noch zwanzig Leute vor mir dran sind. Doch weil es mehrere Betreuer gibt, geht es zum Glück zügig voran. Nicht einmal fünf Minuten später bin ich dran. »Willkommen in Harvard. Name, Papiere und den Ausweis, bitte«, verlangt eine Frau, die wahrscheinlich in der Verwaltung arbeitet.
»Scarlet Pierce«, stelle ich mich vor und übergebe ihr alle wichtigen Unterlagen.
Sie steht auf und geht zu einer Box mit dem Namen »P« drauf, um einen Umschlag rauszusuchen. »Hier drinnen befindet sich dein Studentenausweis, welchen du immer bei dir haben musst. Es ist eine magnetische Schlüsselkarte, die dich auch in dein Zimmer im Wohnheim lässt. Zusätzlich kannst du dort Geld drauf speichern und damit überall auf dem Campus bezahlen; in Cafeteria, Shops und Cafés«, erklärt sie mir und holt dann eine Karte heraus. »Du bist im Wohnheim Buckingham. Finde dich nachher einfach dort ein und man wird dir dein Zimmer zuteilen«, teilt sie mir mit und kreist mir netterweise das Wohnheim ein, bevor sie mir die Karte reicht.
»Viel Erfolg.«
Ich stecke die Unterlagen in meine Tasche und laufe zu meinem Vater hinüber, der bereits ungeduldig auf mich wartet. »Es geht gleich los, lass uns zur Bibliothek gehen«, weist er mich an und ich gehorche ihm, weil ich auch auf die Rede des Präsidenten von Harvard gespannt bin. Anstatt sich quer durch die Masse zu quetschen, gehen wir von der Seite weiter nach vorne, weil hier weniger Menschen sind. Die lange Treppe der Bibliothek ist leer, offensichtlich wurde sie für den heutigen Anlass extra gesperrt.
Und pünktlich um zwölf kommt er aus der Bibliothek gelaufen, während ihn seine Frau und ein Bodyguard begleitet. »Ihr habt es geschafft«, verkündet Lawrence Bacow und die Menge tobt erfreut. »Für dieses Jahr haben sich 39.506 Studenten beworben und 2.037 wurden angenommen.«
Ein erstauntes Raunen geht durch die Menge, die Studenten wirken, als wollten sie sich am liebsten voller Stolz auf die Schulter klopfen. »Vier Prozent der Bewerber haben es geschafft; ihr seid diese vier Prozent! Jeder von euch wurde persönlich auserwählt, man hat euch hart geprüft und viel abverlangt, um einen der wenigen Plätzen dieser Universität zu bekommen. Doch ihr habt es noch lange nicht geschafft, denn der schwierige Part fängt erst jetzt an. Man wird mehr von euch verlangen, als ihr geben könnt. Ihr müsst über auch herauswachsen, dürft nicht aufgeben und müsst diese einmalige Chance nutzen. Absolventen dieser Universität steht das Leben danach offen, weil sich sämtliche Firmen, Arbeitgeber oder Investoren um euch reißen werden«, verkündet er feierlich.
Wir alle wissen, dass er recht hat, da alle, die ihr Studium an der Harvard Universität erfolgreich absolvieren, niemals mehr um einen guten Arbeitsplatz bangen müssen.
»Seit 1636 lehren wir junge, ambitionierte Leute, die mehr aus ihrem Leben machen wollen. Die sich durch nichts abbringen lassen, ehrgeizig und zielsicher sind. Harvard ist die älteste Universität in den Vereinigten Staaten und seit jeher immer unter den Spitzenplätzen der Eliteuniversitäten.«
Ich seufze und drifte gedanklich ein wenig ab, während er weiter über die tollste Universität der Welt spricht und kaum ein Lob auslässt. Natürlich fühle ich mich geehrt, angenommen worden zu sein, aber trotzdem ist Harvard nicht meine erste Wahl gewesen, weshalb ich mich nur schwierig für das Studium hier motivieren kann. Ich werde allerdings wieder sehr hellhörig, als er eine überraschende Neuigkeit verkündet.
»Ich bin stolz, sagen zu können, dass wir uns um eine weitere Bibliothek erweitern werden. Es wird eine für unsere etablierte Medical School werden, die dieses Jahr noch gebaut und eröffnet werden wird. Und weil die Bibliothek eine Stiftung ist, werden wir diese nach dem Gönner benennen«, verkündet er.
»Jacob-Pierce-Bibliothek.«
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