02. Zurück in Boston
Ich laufe mit meinem Handgepäcks-Koffer zum Empfangsterminal, um mich dort nach Michael umzuschauen. Michael, der nach all den Jahren immer noch für meine Familie arbeitet, obwohl er längst um die sechzig ist, übernimmt seit jeher sämtliche Rollen, die anfallen. Babysitter, Fahrdienst, Putzhilfe und Koordinator. Mein Vater nennt ihn gerne »Das Mädchen für alles.« Ich fand die Bezeichnung schon immer respektlos ihm gegenüber, weil ohne Michael nichts im Haushalt funktionieren würde.
Er steht leicht abseits und hält wie üblich ein Schild mit meinem Namen hoch. Ich schmunzele leicht. »Hast du Angst, dass ich dich innerhalb von wenigen Tagen vergessen würde, alter Mann?«, frage ich lachend und er zuckt grinsend mit seinen Schultern.
»Traditionen bleiben Traditionen«, erklärt er und holt aus seiner Manteltasche eine Packung Sour-Patch-Kids heraus, meine liebsten Gummitiere hier in Amerika. Seit ich denken kann, hat er mich schon immer mit einem Schild und einer Packung saurer Gummitiere abgeholt. »Und wen nennst du hier bitte alt? Ich würde dich noch immer in einem Wettlauf besiegen.«
»Ich war 5 Jahre alt!«, lache ich.
»Und so langsam wie eine Schnecke«, stichelt er weiter und will nach meinem Koffer greifen, doch ich lasse ihn nicht gewähren. »Das ist doch meine Aufgabe, dafür werde ich bezahlt.« Michael ist jemand, der seine Arbeit möglicherweise noch ernster nimmt, als meine Eltern es tun, weil er sie vehement zufriedenstellen möchte. Ich verstehe das, schließlich wird er für seine Arbeit auch entsprechend entlohnt, bekommt einen Wagen gestellt, um das Haus meiner Eltern zu erreichen, und lebt kostenfrei im Gästezimmer unseres Kellers, für den Fall, dass seine Dienste früh am Morgen bereits benötigt werden. Über seine Aufträge hinaus steht es ihm völlig frei, quer durch die Stadt zu fahren oder zu nächtigen, wo er will, doch weil er weder Frau noch Kinder hat, bleibt er meistens bei uns. Erst am Wochenende fährt er zurück in seine eigene Wohnung, um die verdiente Ruhe vor meiner Familie zu bekommen. Auch das verstehe ich, denn es muss unheimlich anstrengend sein, für meinen Vater zu arbeiten.
»Bereit?«, fragt er und zeigt zum Ausgang.
Ich würde jetzt am liebsten laut ›Nein‹ schreien, weil ich nicht nach Hause möchte. Ich bin weder bereit dafür, mit meinen Eltern Zeit zu verbringen, noch dafür, Medizin an der Harvard Universität zu studieren. Dabei geht es nicht einmal um das Medizinstudium an sich, sondern um die Universität, an der ich bereits meinen Bachelor in Pädagogik absolvieren musste. Wenn schon vierjähriges nicht-medizinisches Bachelorstudium als Voraussetzung für ein Studium an der Medical School, dann wenigstens an einer Universität meiner Wahl. Da meine Eltern das Studium jedoch finanzieren sollten, spielten meine Wünsche keine Rolle. Ich musste mich fügen und ich muss es schon wieder.
Für meinen Vater gibt es eben nur eine Medical School, die er akzeptieren würde: Harvard. Er hat nicht nur meine Mutter dort kennen- und lieben gelernt, sondern auch eine Familientradition fortgesetzt. Nachdem er, sein Vater, Großvater und Urgroßvater in Harvard Medizin studiert haben, soll ich nun in die großen Fußstapfen der erfolgreichen Pierce-Männer treten.
Nach weiteren kleinen Streitereien gibt Michael endlich nach und ich trage meinen Koffer selbst zum Wagen, der vor dem Terminal geparkt ist. Meine Laune passt sich dem Wetter hier an; düster und bewölkt. Die Wahrscheinlichkeit für Regen ist in Boston drastisch höher als noch im warmen, sonnigen Kalifornien. Und kaum sitzen wir im Wagen, fängt es an zu nieseln. Ein schöneres Willkommen hätte ich mir wirklich nicht wünschen können. Ich würde am liebsten auf der Stelle wieder aussteigen, einen Flug buchen und verschwinden. Ich schnalle mich jedoch stattdessen schweren Herzens an und bewundere abermals, wie penibel sauber Michael den schwarzen Geländewagen hält. Nicht nur von innen, sondern auch von außen. Wahrscheinlich fällt ihm nichts Besseres ein, als neben den ganzen anderen Aufträgen den Wagen einmal pro Woche in die Waschanlage zu fahren.
Nach ungefähr einer halben Stunde erreichen wir die Innenstadt von Boston und halten vor einem hübschen, dunkelroten Reihenhaus. Meine Eltern haben sich im Zentrum niedergelassen, damit sie es nicht weit zur Arbeit haben. Mein Vater besitzt zwei Blöcke weiter eine eigene Schönheitsklinik, während meine Mutter im Massachusetts General Hospital in der Kardiologie als angesehene Herzchirurgin arbeitet. Ich habe mich letztlich für die Kinderchirurgie entschieden und ich bin überzeugt, dass ich durch mein Studium ein Händchen dafür haben werde.
Wir steigen aus und ich lasse diesmal Michael den Koffer nehmen, weil mein Vater ihm die Leviten lesen würde, wenn er mitbekommt, dass ich ihn selbst tragen muss. Allerdings laufe ich ihm voraus, um wenigstens die Tür zu öffnen, wofür er mir ein Lächeln schenkt.
»Vielen Dank«, sagt er. Mühelos hebt er meinen Koffer über die Schwelle, ganz so, als wäre es völlig normal, in seinem Alter noch derart fit zu sein. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn jeden Abend im Fitnessstudio vermuten, um nicht in seiner Arbeit nachzulassen.
»Selbstverständlich«, sage ich und lasse ihn an mir vorbei ins Foyer unseres Hauses treten. Selbst wenn unser Haus von außen nicht besonders groß wirkt, besitzt es vier Etagen. Ein Erdgeschoss, zwei Obergeschosse und ein bewohnbares Untergeschoss, wo sich auch das Gästezimmer von Michael befindet. Mein eigenes Zimmer liegt neben zwei Badezimmern und einem weiteren Gästezimmer im ersten Obergeschoss. Die oberste Etage nehmen meine Eltern mit ihrem Schlafzimmer und dem Badezimmer ein. Im Erdgeschoss erfreuen sie sich jeden Tag über ihre geräumige Küche, das hübsche Wohnzimmer, das Büro meines Vaters sowie ein Esszimmer und eine weitere Toilette.
Während Michael meinen Koffer auf mein Zimmer bringt, spaziere ich direkt zu meinem Vater in sein Büro, weil ich weiß, dass es von mir erwartet wird. Er sitzt in seinem Stuhl, liest eine medizinische Fachzeitschrift und pafft seine geliebten Kirschzigarren.
»Guten Morgen«, räuspere ich mich, weshalb er aufschaut, seine Zeitschrift weglegt und seine Zigarre ausdrückt.
»Begrüßt man so seinen Vater?«, fragt er mit gerunzelter Stirn, ein leicht vorwurfsvoller Unterton ist zu hören.
Ich komme seiner Aufforderung nach und überbrücke die sichere Distanz zu ihm, um ihn zur Begrüßung auf die Wange zu küssen, wobei ich unweigerlich auch den Gestank seiner Zigarre einatme. Es ist lustig, dass er mir das Rauchen verbietet, aber selbst süchtig nach diesen Dingern ist. Am Wochenende raucht er vermehrt, während er sich in der Woche immer nur eine nach seinem Arbeitstag gönnt.
»Ist Mutter zuhause?«, erkundige ich mich förmlich, woraufhin er seinen Kopf schüttelt.
»Sie ist im Krankenhaus, eine 24-Stunden-Schicht. Sie ist also erst morgen früh wieder zurück. Willst du nicht doch erst morgen zur Universität fahren oder ganz hier wohnen bleiben? Ich glaube, dass es wirklich besser für dich wäre«, will er mich überreden.
Es ist unmöglich, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen und die aufkommende Wut zu unterdrücken, also versuche ich es gar nicht erst. So oft haben wir schon über dieses Thema gesprochen, so oft hat er versucht, mich zum Bleiben zu überreden, einfach weil er absolut unfähig ist, unseren Kompromiss zu akzeptieren. Dabei hatte ich lediglich zwei Forderungen, wenn ich schon in Harvard studieren muss. Ich will auf dem Campus wohnen, um mich auf mein Studium zu konzentrieren und nicht tagtäglich mit meiner anstrengenden Familie konfrontiert zu werden. Und ich will ohne seine Hilfe an der Universität angenommen werden. Wie ich ihn kenne, hätte er sonst nämlich irgendwelche Fädchen im Hintergrund gezogen, damit er sich auch zu einhundert Prozent sicher sein kann, dass ich an seiner heißgeliebten Universität studieren werde.
»Ich dachte, wir hätten das geklärt«, wehre ich also dementsprechend ab und öffne das Fenster, um den Qualm rauszulassen.
»Ich würde mich einfach besser fühlen, wenn du zuhause bleibst. Es hat doch auch funktioniert, als du hier in Boston deinen Bachelor gemacht hast«, gibt er mir zu bedenken und ich versuche angestrengt, nicht meine Augen zu verdrehen.
»Die Universität war auch nur wenige Minuten von hier entfernt«, erwidere ich so diplomatisch wie möglich, wenngleich seine bloße Anwesenheit Stress in mir auslöst. »Ich brauche aber ungefähr eine Dreiviertelstunde nach Harvard. Ich würde kostbare Zeit verlieren und das möchte ich nicht.«
Er nickt völlig unbeeindruckt von meinem Argument, wie üblich darauf fokussiert, dass es gerade nicht nach ihm geht. Statt allerdings noch etwas zu sagen, hakt er das Thema mit der Unterbringung vorerst ab und steht auf, um zum Bücherregal zu gehen.
»Die Rechnung?«, fragt er, nachdem er einen dicken Ordner daraus hervorgezogen hat. Ich hole die Unterlagen aus meiner Handtasche und reiche sie ihm zögerlich. »Ich habe dich gestern Abend auf deinem Hotelzimmer angerufen, doch du bist nicht rangegangen. Wo warst du?«, will er wissen.
So unschuldig sein Ton zur Abwechslung mal gehalten ist, erwischt er mich mit dieser Frage dennoch eiskalt. Ich wusste nicht, dass er einen Kontrollanruf gab, weshalb ich so schnell keine plausible Antwort parat habe.
»Scarlet?«, fragt er scharf nach, weil ich noch immer still und zurückhaltend bin.
»Entschuldigung, ich war kurz in Gedanken«, erwidere ich hastig und tue, als würde ich ihn erst jetzt gehört haben. »Ich war gestern bereits früh im Bett, weil mein Flug heute ziemlich zeitig ging. Ich muss wohl schon fest geschlafen haben, tut mir leid.«
Die Lüge klingt lahm, aber was soll ich schon machen? Ich kann ihm ja wohl schlecht antworten, dass ich gestern Nacht endlich meine Jungfräulichkeit verloren habe, nachdem er mich jahrelang mit Adleraugen bewacht hat. Meine Schulzeit habe ich auf einer Eliteakademie für Mädchen verbracht, weshalb ich keine wirklichen Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht machen konnte. Und während meines vierjährigen Bachelors hat mein Vater dafür gesorgt, dass mich die männlichen Studenten gemieden haben. Er hat sich mit Hilfe von Spenden und Investitionen in die Boston University eingekauft und bekam dadurch die Chance, in viele Entscheidungen mit einbezogen zu werden. So hat er irgendwie auch sofort mitbekommen, als ich mich mit einem jungen Studenten zum Kaffee verabredet habe. Seine Kontrollsucht und Wut gingen so weit, dass er dafür gesorgt hat, dass dieser unschuldige Student von der Universität flog. Die Geschichte hat sich natürlich schnell rumgesprochen, weshalb mich nicht nur die männlichen Studenten gemieden haben, sondern alle Studierenden, weil sie Angst vor meinem Vater hatten und dadurch nicht mit mir befreundet sein wollten.
Himmel, danach hatte selbst ich Angst vor ihm, weil er viel zu weit geht, um seine Ziele zu verfolgen. Grenzen existieren für diesen Mann praktisch nicht.
Und eben deshalb habe ich gestern Nacht die Chance ergriffen, endlich diese einmalige Erfahrung machen zu dürfen. Ich bereue diese Entscheidung nicht im Geringsten, weil ich es am liebsten wieder und wieder tun würde. Der Anfang war befremdlich und schwer, doch es hat sich ausgezahlt, nicht immer die brave, unschuldige Tochter meines Vaters zu sein – und ich werde diese Nacht vermutlich nie wieder vergessen. Ich habe nicht nur meinem Vater indirekt die Stirn geboten, sondern auch einen attraktiven Mann verführt, der mir gezeigt hat, dass es manchmal wert ist, die Regeln zu brechen.
Viele sagen immer, dass das erste Mal mit einem besonderen Menschen sein soll. Ich kann diese Meinung noch immer nicht teilen. Wie viele sind heutzutage noch mit dem Partner zusammen, der einen auch entjungfert hat? Nicht der erste sollte der Bedeutsamste sein, sondern der letzte.
»Nun gut, ich dachte schon, dass du dich irgendwo rumgetrieben hast«, sagt mein Vater nun, ohne aufzuschauen, da er konzentriert die Rechnung kontrolliert.
»Niemals«, lüge ich abermals, obwohl ich bezweifle, dass ich das Abenteuer von letzter Nacht in der nächsten Zeit wiederholen werde. Ich muss mich jetzt dringend auf mein Medizinstudium konzentrieren, damit ich es so gut wie möglich absolviere und später eine gute Anstellung bekomme. Nichts ist gewisser als der spätere, blutige Kampf, um eine Stelle als Chirurgin in einem der renommiertesten Krankenhäuser. Es wird schwierig und nervenzerreißend, doch ich werde nicht aufgeben und irgendwann Menschenleben retten.
»Denk bitte daran, dass wir jeden Mittwoch noch zusammen Tennis spielen und Sonntag zusammen Mittag essen!«, erinnert er mich warnend und lässt keinen Raum für irgendwelche Ausreden. Erst recht nicht, wenn es um Tennis geht, seine größte Leidenschaft, welche er mir aufzwingt.
Ich liebe Tennis dennoch, es macht mir wirklich Spaß, allerdings nicht, wenn ich mit ihm zusammenspiele. Er sieht es immer als Wettkampf, um mir zu zeigen, wer die Hosen in der Familie anhat. »Ich werde es nicht vergessen«, versichere ich ihm und schaue dann auf meine goldene Armbanduhr, die mir meine Großmutter zum Bachelor-Abschluss vor wenigen Monaten geschenkt hat. »Ich muss langsam meine Sachen zu Ende packen. Würdest du mich bitte entschuldigen?«, frage ich.
Er macht zur Antwort eine gelangweilte Handbewegung, setzt sich hin und wendet sich wieder seiner Zeitschrift zu, nachdem er die Rechnung weggeheftet hat.
Ich bin schon fast aus der Tür raus, als mich seine raue Stimme innehalten lässt. »Sei bitte keine Enttäuschung. Ein schwarzes Schaf in dieser Familie reicht.«
Mein Herz setzt vor Schmerz eine Sekunde aus und ich versuche, meine Emotionen nicht gewinnen zu lassen. Es ist ein ewiger Kampf in seiner Gegenwart. »Du kannst auf mich zählen«, versichere ich ihm dann ruhig, während ich versuche, dieses Gesicht zu vergessen, das mich seit Jahren quält.
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