01. Der Taxidieb
»Verflucht!«, schimpfe ich.
Der Ausgang der Metro-Station ist bereits sichtbar, doch durch die Menschenmassen komme ich nicht schnell genug voran. Der Bahnbetrieb wurde erneut eingestellt, da es einen Noteinsatz auf der Strecke gibt und ich bin weit von meiner eigentlichen Haltestelle entfernt. Ich quetsche mich weiter nach vorne, wobei ich versuche, niemandem auf die Pelle zu rücken. Normalerweise würde ich mich nicht beeilen, da ich selbst entscheiden kann, wann ich anfange, doch ich habe in einer halben Stunde einen wichtigen Termin. Bei den Treppen angekommen, werde ich erneut durch einige alte Damen aufgehalten. Ich verlasse die Station und befinde mich unweit des 9/11 Memorials.
»Taxi«, rufe ich.
Nachdem unverzüglich eins gehalten hat, will ich gerade einsteigen, als sich jemand unsanft an mir vorbeidrängelt und mir das Taxi vor der Nase wegschnappt. »Sorry, ich hab's eilig«, sagt der blondhaarige Mann mit einem starken britischen Akzent zu mir.
Ich stampfe mit meinem Fuß auf, da ich mir langsam echt verarscht vorkomme. Heute läuft einfach nichts nach Plan und irgendein dahergelaufener, teetrinkender Brite stiehlt mir mein Taxi. »Geht's dir noch gut?«, blaffe ich. »Ich weiß ja nicht, wie ihr Engländer es am anderen Ende des atlantischen Ozeans macht, aber hier, in New York City stiehlt man keine Taxis! Das war meins, du britischer Einfallspinsel!«, blaffe ich.
Er stöhnt genervt. »Jetzt nicht mehr.«
Die Unterhaltung ist von seiner Seite aus vorbei, da er die Autotür schließt und mir ein bittersüßes Lächeln schenkt, doch da hat er die Rechnung ohne mich gemacht. Noch bevor das Taxi losfahren kann, springe ich davor, um es zu stoppen und klopfe danach nochmal an seine Tür. Der Brite weist den Fahrer an loszufahren, doch dieser hält aus Angst, dass ich ihm nochmal vor den Wangen springe, inne. Er öffnet grimmig sein Fenster und schaut mich ungeduldig an. »Was?«, fragt er bissig. »Ich hab's eilig!«
Nachdem ich meine Wasserflasche heimlich aus meiner Tasche genommen habe und den Deckel entfernt habe, spritze ich ihm die Flüssigkeit ins Gesicht und auf seinen teuren Anzug. »Britischer Eierkopf!«
Als sich sein geschocktes Gesicht in die pure Wut und Aggressivität verwandelt, mache ich schnell auf meinem Absatz kehrt und lasse ihn zurück, um mir ein anderes Taxi zu schnappen. Trotzdem war es mir wert, da er eine dringende Abkühlung verdient hat. Dieses englische Arschloch ist zu weit gegangen. Natürlich sind New Yorker nicht gerade die freundlichsten Menschen, sondern ziemlich egoistisch und eigensinnig. Doch es gibt zwei ungeschriebene und allgegenwärtige Gesetze in New York - stehle niemals ein Taxi und wag es nicht, dich in einem Coffeeshop vorzudrängeln.
Wobei letzteres schlimmer ist.
Stelle dich niemals zwischen einen ausgepowerten, erschöpften New Yorker und den dringend benötigten Kaffee. Tu's nicht - du wirst gemeuchelt.
Mit meinem Telefon in der Hand verlasse ich mein Taxi am Columbus Circle und halte einen Moment inne, um den Wolkenkratzer vor mir zu bewundern. Ein modernes, atemberaubendes Gebäude aus dunkelblauem Glas. Durch die Farbe der Glasfenster kann man nicht hinein, aber hinaus blicken. Im Erdgeschoss befindet sich eine Sicherheitsfirma, die alle Ausweise der Angestellten überprüft. Die unteren und mittleren Stockwerke gehören einer New Yorker Klatschzeitung und einem IT-Unternehmen. In den obersten Stockwerken befindet sich »B. Records«, ein erfolgreiches Musiklabel, bei dem ich seit über sieben Jahren angestellt bin. Wir konzentrieren uns seit vielen Jahren auf die Newcomer der Musikbranche, den unbekannten und unerfahrenen Künstlern.
Nachdem ich den Aufzug verlassen habe und im 56. Stock ausgestiegen bin, halte ich am Schreibtisch meiner Assistentin an, der sich vor meinem Büro befindet. »Beth, kannst du dich bitte erkundigen, wie der Videodreh von Anastasias Musikvideo läuft?«, bitte ich. Anastasia ist erst seit kurzem bei uns unter Vertrag und steht noch in den Startlöchern. Die meisten Künstler bewerben sich bei uns, doch Anastasia wurde in einer Karaokebar von Jonathan Birmingham entdeckt, dem ehemaligen Geschäftsführer von B. Records, der letzte Woche bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Seitdem hat der stellvertretende Geschäftsführer das Sagen, sein Sohn, Issac Birmingham. »Gibt es sonst noch Nachrichten für mich?«, möchte ich wissen. »Hat sich Derek Daugherty zurückgemeldet?«
Sie nickt. »Mr. Malcolm hat sich vor einer halben Stunde gemeldet, es gibt einen neuen Künstler für dich. Er braucht die Einwilligung bis spätestens Freitag«, kündigt sie an. Die normale Vorgehensweise ist, dass die neuen Künstler an den Abteilungsleiter, dem Chief-Manager geschickt werden. Dieser teilt die Künstler an die Manager oder in besonderen Fällen an die Senior-Manager auf. Manchmal muss man einen neuen Künstler verweigern, da man bereits zu viele hat oder sich mit mehreren in der Anfangsphase befindet, wo alles geplant und vorbereitet werden muss. Beth geht mit Unbehagen auf meine andere Frage ein. »Ja, er verneint die Anfrage, aber-«, sie bricht ab, da ihr der nächste Teil sehr unangenehm ist. »-er würde es sich anders überlegen, wenn du mit ihm zu Abend essen würdest.«
Meine Augen verdrehen sich von allein, da mich diese Neuigkeit nicht überrascht. Um die Karriere meiner neuen Künstlerin Anastasia anzukurbeln, versuche ich sie seit ein paar Wochen in die Abendshow von Derek Daugherty zu bekommen. Dieser hat bisher dreimal abgelehnt, da sie ihm noch zu unbekannt ist. Ihre Debütsingle erscheint erst in zwei Wochen, weshalb ihr Name bisher noch in keinem Munde ist. »Natürlich hat er das angeboten«, sage ich genervt. »Du kannst ihm gerne mitteilen, dass ich für eine Verhandlung seines Angebots offen bin.«
»Natürlich, Juliet«, antwortet sie unverzüglich, während sie weiterhin an ihrem Computer arbeitet. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragt sie.
»Nein, danke.«
Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setze, stelle ich mich vor die beeindruckende Fensterfront meines Büros. Selbst wenn ich nur ein kleines Büro zur Verfügung habe, ist die Aussicht atemberaubend. Gegenüber befindet sich der weltbekannte Central Park, wo ich während meiner Mittagspause immer spazieren gehe, um dem chaotischen und stressigen Arbeitsalltag für eine halbe Stunde zu entgehen. Bis vor einem halben Jahr habe ich mir ein fensterloses Büro mit zwei Kolleginnen geteilt. Ich wurde vor kurzem zur Managerin befördert, weshalb ich mich endlich selbstständig um Künstler kümmern kann. Davor habe ich als Junior-Managerin nur richtigen Managern unter die Arme gegriffen, damit diese entlastet werden. Die Manager werden durch die Senior-Manager überwacht und kontrolliert. Es ist bisher erst einmal vorgekommen, dass mir ein Senior einen Künstler weggenommen hat, da dessen Karriere über Nacht einen Höhenflug gemacht hat. Dadurch, dass die Seniors mehr Erfahrung im Umgang mit der Branche haben, sollen sie sich um die Megastars dieses Musiklabels kümmern.
Mein erster Termin ist geschafft, weshalb ich gerade die E-Mail bezüglich des neuen Künstlers durchgehen will, als Beth hektisch in mein Büro gerannt kommt. »Juliet, die Dreharbeiten des Musikvideos von Anastasia wurden gerade unterbrochen.«
Ich schaue sie verwundert an. »Wovon sprichst du?«, möchte ich von ihr wissen, da ich gerade nicht folgen kann. »Vor einer halben Stunde war doch noch alles in bester Ordnung?«, werfe ich ein, da sie mir alle 30 Minuten ein Update zum Videodreh gibt. Das Video wird in unserem Studio in Brooklyn gedreht. Es wurde auf einem riesigen Industriegelände errichtet. Hier werden inzwischen nicht nur unsere Musikvideos gedreht, sondern auch Filme oder Musikvideos von anderen Labels und Medienunternehmen. Zudem befindet sich hier auch unser eigenes Tonstudio, wo ab und zu auch Verlage Hörbücher aufnehmen. Der B. Records Studio Park ist eine wichtige Einnahmequelle unseres Labels, denn hier werden rund 40 Prozent eingetrieben. Seit diesem Jahr werden auch Führungen für Touristen durchgeführt.
Beth schüttelt schnell mit ihrem Kopf. »Der Chief-Produzent hat alle Projekte der Newcomer, die die letzten Monate unter Vertrag genommen wurden, auf Eis gelegt!«, erklärt sie, während sie hibbelig redet. »Es ist ernst, wirklich ernst! Der Videodreh von Anastasia ist nicht als einziges betroffen, mehrere Projekte wurden gerade angehalten!«, teilt sie mir aufgeregt mit.
Mein Herz setzt kurz aus. »Ganz sicher?«
Sie nickt. »Ich habe gerade mit der Assistentin des Produzenten gesprochen. Mitten während der Dreharbeiten kam die Ansage, dass der Dreh unterbrochen werden soll. Die Geschäftsführung hat gerade ein paar neue Richtlinien erlassen«, antwortet sie mir und zuckt dann mit ihren Schultern. »Es hat alle überrascht, niemand hat damit gerechnet. Der Produzent hat jetzt alle nach Hause geschickt, da er nicht glaubt, dass sich etwas in den nächsten Stunden verändern wird. Er meint, dass diese Regelung vorerst bestehen bleibt«, erklärt sie.
»Wie bitte?«, frage ich, bevor ich mir frustriert gegen die Stirn fasse. »Man kann doch die Dreharbeiten nicht einfach unterbrechen! Alles wurde seit über einem Monat bis aufs kleinste Detail geplant! Unglaublich! Einen Videodreh einfach zu unterbrechen ist unverantwortlich, alles ist bereits bezahlt! Ich kann es einfach nicht fassen, wie kann man sowas nur machen? Was hat man sich nur dabei gedacht?« In meinen sieben Jahren in diesem Unternehmen ist sowas noch nie vorgekommen, weshalb ich gerade ziemlich schockiert und überrascht bin.
Beth räuspert sich. »Anastasia ist auch ziemlich außer sich, du solltest vielleicht mal mit ihr reden und sie beruhigen.«
Ich atme tief durch. »Du hast recht, ich sollte mich um sie kümmern, doch zunächst muss ich erstmal herausfinden, was gerade passiert ist«, sage ich und überprüfe sicherheitshalber meine E-Mails, um herauszufinden, ob ich die neuen Regelungen bekommen habe. Ich schüttele mit meinem Kopf. »Nein, nichts in meinem Postfach«, teile ich ihr mit und denke dann für einen Augenblick nach. »Das kann doch wirklich nicht wahr sein«, sage ich unzufrieden und schaue auf meinen Terminkalender. »Der einzige Grund, wieso ich heute nicht beim Videodreh bin, ist, weil ich heute unendlich viele Termine wahrzunehmen habe.« Normalerweise bin ich bei jedem Dreh anwesend, um ein wachsames Auge zu haben. Kaum bleibe ich einmal weg, geht alles den Bach hinunter. Perfekt. »Fein, dann werde ich mich eben darum kümmern müssen«, sage ich genervt. »Du hast ja Zugriff auf meine Termine, kannst du bitte meine restlichen absagen und verschieben?«, bitte ich.
Beth zögert. »Nun, ich kenne deinen Terminkalender in- und auswendig. Diese und nächste Woche wird es keine Zeit für andere Termine geben, aber es gibt eine Möglichkeit-«, sie bricht ihren Vorschlag ab, da es ihr unangenehm ist. Ich kann mir schon vorstellen, was sie mir unterbreiten möchte. Zufrieden bin ich nicht. »-Montag.«
Ich hatte mir diesen Tag vor zwei Monaten freigenommen, da mein Vater Geburtstag hat und ich zu ihm nach Fayetteville, Arkansas fliegen wollte, wo ich ursprünglich herkomme. Nachdem ich die High School beendet habe, bin ich nach New York gezogen, um an der NYU Musikmanagement zu studieren. Ich wusste bereits als kleines Kind, dass ich nicht auf der Bühne stehen will, sondern hinter den Kulissen arbeiten möchte. Ich habe eine enge und spezielle Bindung zur Musik, da sie mich durch eine dunkle und traurige Zeit begleitet hat. Meine Mutter war eine begnadete Pianistin, die vor über fünfzehn Jahren an Brustkrebs verstorben ist. Immer wenn ich traurig war, habe ich mich an ihr Klavier gesetzt und habe ihr Lieblingslied gespielt - für Elise.
Für einen Augenblick schweige ich. »Montag«, wiederhole ich und seufze enttäuscht, da es mir eigentlich überhaupt nicht passt. Es wird ein kurzer Aufenthalt werden, da ich aufgrund der Beerdigung von Jonathan Birmingham erst Samstagabend hinfliegen kann und Sonntagabend wegen der Arbeit zurückfliegen muss. Doch ich verbringe lieber 24 Stunden mit meiner Familie als überhaupt keine Stunden. »Meinetwegen, dann streiche ich meinen freien Tag«, entscheide ich genervt.
Nachdem ich mit meinem Chief-Manager gesprochen habe, der keine Antworten auf meine Fragen hatte, beschließe ich mich direkt mit der Geschäftsführung auseinanderzusetzen. Wenn es die Geschäftsleitung beschlossen hat, dann werden sie es sicherlich rechtfertigen können. Ich habe nämlich auch Verantwortung für meine Künstler, die auch auf den neusten Stand gehalten werden wollen - vor allem Anastasia.
Nachdem ich die oberste Etage erreicht habe, die sogenannte Chefetage, will ich mich eigentlich zuerst aus Höflichkeit bei der Assistentin des derzeitigen Geschäftsführers, Issac Birmingham melden, doch verwerfe meinen Plan, als ich sein Gesicht erblicke. Selbst wenn er nicht mehr denselben Anzug trägt, erkenne ich ihn anhand seiner dunkelblonden, kurzen Haare und seinen strahlendgrünen Augen - der Taxidieb.
Der britische Eierkopf.
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