Kapitel 17
Kapitel 17
Zwei Tage vor Thanksgiving saß Agent McNamara in einem unauffälligen Beschattungswagen des FBI vor dem St. Elizabeth Krankenhaus und wartete darauf, dass Hilfspfleger Henry Moore seine Schicht beendete. Für McNamara war es ein Leichtes gewesen, den Namen des blonden jungen Mannes herauszufinden. Natürlich hätte er einfach die Führerscheinbehörde durchforsten können, wie sein Kollege vorgeschlagen hatte. Aber McNamara flog in dieser Sache unter dem offiziellen FBI Radar und er wollte noch keine Aufmerksamkeit erregen.
Nachdem er den Namen wusste, hatte er alles über Henry Moore ausgegraben, was es zu finden gab. Führerschein, Sozialversicherungsnummer, Steuer- und Finanzunterlagen, Schule, Universität, Familienangehörige, Strafzettel – es gab keine – und sogar die Schuhgröße. Agent McNamara wusste jetzt alles, was es über Henry zu wissen gab. Nur nicht, was er mit dem Sohn des Chefs der New Yorker Cosa Nostra zu schaffen hatte. Aus seinen Unterlagen ging hervor, dass Henry Moore ein rechtschaffender, um nicht zu sagen langweiliger, Bürger war. Er hatte keine Vorstrafen, keine Anklagen und nur die üblichen Schulden, die jeder Medizinstudent hatte. Das einzig Interessante in seiner Vorgeschichte war der Unfall der Eltern vor ein paar Jahren, aber auch daran war nichts Verdächtiges zu finden gewesen. Für McNamara war Moore ein Rätsel. Was hatte er mit Anthony Garibaldi zu tun? Warum hatte er den verletzten Luca Rossi in seiner Wohnung behandelt? Denn Agent McNamara zweifelte keine Sekunde daran, dass genau das in der Nacht geschehen war.
Zuerst hatte McNamara gedacht, dass die Mafia Moors Ausbildung bezahlte, damit er später als Arzt für die Mafia tätig werden konnte, aber das schien nicht der Fall zu sein. Hatte Moore Schulden bei der Mafia? Auch dafür gab es keine Anhaltspunkte. McNamara wusste, dass Toni außerhalb der Familie keine Freunde hatte, er hielt sich fern von sozialen Kontakten und tat eigentlich nichts außer zu Arbeiten. Daher kam in McNamara gar nicht erst der Gedanke auf, dass Toni und Henry befreundet sein könnten. Nein, er vermutete, dass mehr dahintersteckte. Und aus diesem Grund hatte er beschlossen, Henry Moore zu beschatten.
Bisher hatte er allerdings nichts gefunden und er wurde langsam ungeduldig. Seine Vorgesetzten wollten Ergebnisse sehen. Auch wenn sie McNamara an der langen Leine ließen und er viele Entscheidungen zu seinem Vorgehen selber treffen konnte und er seinen Vorgesetzten nur das Nötigste vom dem was er tat erzählte, so erwarteten sie doch, dass er Ergebnisse erzielte. Das FBI wollte die Cosa Nostra endlich ins Gefängnis bringen. Wenn das nicht gelänge, denn immerhin agierte die italienische Mafia schon seit Jahrzehnten in New York, dann wollte man die Strafverfolgungskosten wenigstens so gering wie möglich halten. McNamara hatte seinen Vorgesetzten davon überzeugt, dass er Ergebnisse liefern konnte. Jetzt musste er seine Worte nur noch wahr machen.
Und deshalb saß er nach Mitternacht in seinem Wagen auf dem Parkplatz vor dem St. Elizabeth Krankenhaus und beobachtete den Eingang mit seinem Fernglas. Wo blieb der Junge nur? Seine Schicht war vor einer halben Stunde zu Ende gewesen, dass wusste er, denn er hatte seinen Dienstplan in Erfahrung gebracht. Also wo war er?
Ah, da kam er endlich. McNamara beobachtete, wie Henry das Krankenhaus verließ und Richtung U-Bahn davonging. Der Agent stieg aus und verfolgte Henry zu Fuß. Er hatte ihn die letzten Tage mit dem Auto verfolgt, wusste daher, dass Henry in die U-Bahn steigen und er ihn dann verlieren würde. McNamara war jedes Mal zu Henrys Wohnung gefahren, wo dieser dann auch jedes Mal aufgetaucht war. Aber McNamara wollte wissen, ob Henry unterwegs einen Zwischenstopp einlegte, ob er sich mit jemandem traf. Daher hatte er sich entschieden, an diesem Tag die Verfolgung zu Fuß aufzunehmen.
Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs und McNamara hielt einigen Abstand zu Henry. Dieser ging zielstrebig in Richtung U-Bahnhaltestelle, den Kopf gesenkt, aber McNamara konnte nicht erkennen, ob er Ohrstöpsel trug. Wenn er Musik hörte, war die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden statistisch gesehen geringer und er könnte näher zu ihm aufschließen. Der Agent entschied sich, zur Sicherheit Abstand zu halten. Die Nacht war kalt, es war Ende November, und er zog seinen Mantel enger um sich. Wenn der Wind nur nicht so frisch wäre, dachte er, bevor er Henry über eine Kreuzung folgte.
Er konnte schon das beleuchtete U-Bahnschild ein paar Straßen weiter sehen. Da sah er, wie ein roter BMW neben Henry abbremste und dann anhielt. Die Fahrertür ging auf und ein Mann stieg aus. Henry blieb stehen, er schien den Mann zu kennen. McNamara drückte sich in einen Hauseingang. Von seiner Position konnte er den Fahrer nicht erkennen, aber er kannte den BMW. Der Fahrer war vermutlich Luca Rossi. Der Mann aus dem BMW deutete auf eine Gasse hinter Henry, dann ging er voran in die Schatten der Gasse. Nach einem kurzen Zögern folgte Henry ihm. McNamara beobachtete wie in dem Moment ein zweiter Wagen am Straßenrand hielt. Aus dem silbernen Ford stiegen zwei junge Männer. Sie folgten dem Mann aus dem BMW und Henry in die Gasse.
Jetzt wird es interessant, dachte Agent McNamara und schlich so leise wie er konnte ebenfalls zu der Gasse. Er war noch ein paar Schritte entfernt, als er einen dumpfen Aufprall hörte, einen unterdrückten Schrei und dann schnelle Schritte. Er späte um die Ecke in die Gasse.
Der Mann aus dem BMW – es war in der Tat Luca Rossi – zeigte mit erhobenem Zeigefinger auf Henry, der mit dem Rücken an der Wand der Gasse stand. Die beiden anderen Männer versperrten den Ausgang der zurück zur Straße ging. Für Henry gab es keine Fluchtmöglichkeit. Henry sah von den beiden Männern zu Rossi und zurück, offensichtlich verwirrt.
„Ich will, dass du dich von Toni fernhältst, verstanden?" zischte Luca, auf Henry deutend. „Du rufst ihn nicht an, du schickst ihm keine Nachrichten und du triffst dich nicht mit ihm."
„Aber, was soll das?" fragte Henry und sah sich verstört um. „Ich verstehe nicht, was du eigentlich von mir willst."
Luca trat einen Schritt näher, bedrohlich nahe. „Was gibt es daran nicht zu verstehen? Für dich ist Toni gestorben, basta. Du kennst ihn nicht."
Noch immer mit dem Rücken zur Wand versuchte Henry auf Luca einzureden. „Luca, ich habe dir das Leben gerettet. Und jetzt fängst du mich mitten in der Nacht mit deinen Kumpels ab, um...? Um was eigentlich? Wenn Toni mich nicht mehr sehen will, dann würde er mir das selber sagen."
Ohne Vorwarnung versetzte Luca Henry einen rechten Haken, der seinen Kopf zur Seite riss. Er strauchelte, doch er fing sich an der Wand ab. Luca dahingegen zuckte zusammen und fasste sich an seine verletzte Seite. „Scheiße, Mann", zischte er durch zusammengebissene Zähne. Dann gab er seinen beiden Begleitern ein Zeichen mit dem Kopf. „Na los."
Ohne ein Wort zu sagen gingen sie auf Henry los. Schläge trafen sein Gesicht, seinen Oberkörper. Er versuchte sich zu verteidigen, doch gegen zwei Schlägersoldaten hatte er keine Chance. Ein Schlag traf ihn hart am Kinn, sodass sein Hinterkopf gegen die Backsteinmauer in seinem Rücken krachte. Er sackte benommen an der Wand zu Boden und alles was er noch tun konnte, war, zu versuchen sein Gesicht mit den Armen zu schützen. Einer der zwei Schläger versetzte ihm einen gemeinen Fußtritt, der Henry aufschreien ließ. Der Schläger wollte gerade nachtreten, als Luca die Hand hob. „Genug." Die Schläger traten zurück.
Für einen Moment blickte Luca auf den am Boden liegenden Henry hinab. McNamara konnte es nicht genau erkennen, aber er meinte für einen Moment Bedauern in seinem Blick zu sehen. Doch dann wurde sein Gesicht verdeckt, als er sich zu Henry hinab beugte. McNamara konnte nicht verstehen, was er sagte, aber nach einigen Augenblicken stand Luca wieder auf, gab seinen Kumpanen ein Zeichen und sie verließen die Gasse. Schnell zog sich der Agent ein paar Schritte in den Schatten eines geparkten Autos zurück. Er beobachtete, wie Luca in seinen roten BMW stieg, die zwei Schläger in den silbernen Ford und alle drei dann wegfuhren.
McNamara befand sich in einem Zwiespalt. Der Angriff war so schnell erfolgt, dass er nicht hatte eingreifen können. Nicht, dass er das gewollt hätte. Jeder, der sich mit der Mafia abgab, hatte nichts Besseres verdient. Aber er konnte den jungen Mann auch nicht einfach verletzt in der Gasse liegenlassen. Wenn der junge Pfleger schwer verletzt war, würde es Untersuchungen eben, Kameras würden ausgewertet werden und dann müsste er unangenehme Fragen beantworten. Außerdem konnte er vielleicht etwas in Erfahrung bringen, wenn er mit ihm sprach. Daher stand McNamara auf und ging in die Gasse. Es stank nach Müll und Verwesung, und der Agent rümpfte die Nase. Henry lag nach wie vor am Boden, die Beine angezogen und den Kopf zwischen den Armen, als ob er den nächsten Schlag erwartete.
„Hey, Sie. Sind die okay? Sind sie überfallen worden oder so?" McNamara hatte beschlossen, sich nicht als FBI Agent zu erkennen zu geben. Auf seine Worte hin stöhnte Henry leise und nahm die Arme herunter.
„Scheiße, Mann, Sie sehen gar nicht gut aus." McNamara ging neben Henry in die Hocke. Henrys Wange war aufgeschürft, seine Nase und Lippe bluteten und er hatte eine aufgeplatzte Augenbraue. Außerdem konnte der Agent selbst im schummrigen Licht der Gasse sehen, dass sich bereits jetzt ein riesiger blauer Fleck an seinem Kinn ausbreitete. Als Henry versuchte sich aufzusetzen, griff ihm der Agent hilfreich unter die Arme.
„Langsam, immer schön langsam."
„Geht schon", sagte Henry, dann hob er eine Hand zu seinem Hinterkopf. Er zuckte zusammen und als er die Hand herunternahm, waren seine Fingerspitzen blutig. „Mist", murmelte er.
„Da hat sie aber jemand ganz schön zusammengeschlagen."
„Ja", sagte Henry nur, und McNamara konnte sehen, wie er mit der Zunge seine Zähne abtastete.
„Alle Zähne noch drin?" fragte er.
„Ja, zum Glück." Henry atmete flach und als er aufstehen wollte sackte er wieder auf den Boden. „Aber die Rippen hats erwischt", sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
McNamara wollte lieber keinen Krankenwagen rufen, daher sagte er. „Einen Block weiter gibt's ein Krankenhaus, schaffen Sie es bis dahin?"
Henry nickte und McNamara griff ihm unter die Arme und half ihm auf die Beine. Er stand vornübergebeugt, offensichtlich unter Schmerzen. McNamara entschied, Henry zum Krankenhaus zu begleiten. Vielleicht konnte er noch mehr in Erfahrung bringen. Er sah sich in der Gasse um und entdeckte Henrys Rucksack. Er hob ihn auf. „Na, das waren aber keine guten Diebe, wenn die Ihren Rucksack dagelassen haben."
Doch zu seiner Enttäuschung antwortete Henry nicht darauf. Er streckte die Hand nach seinem Rucksack aus, doch McNamara schüttelte den Kopf. „Den nehme ich für Sie, Sie können ja kaum Stehen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen zum Krankenhaus." Er legte seinen Arm um Henrys Mitte, was diesem einen kleinen Schmerzenslaut entlockte und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zum St. Elizabeth. Sie waren erst ein paar Schritte weit gekommen, als McNamara es erneut versuchte.
„Sie hatten Glück, dass diese Diebe Sie nicht abgestochen haben. Liest man ja immer wieder mal in der Zeitung."
„Huhm", machte Henry nur, doch dann fügte er hinzu: „Das waren vermutlich Junkies. Was weiß ich."
Na gut, dachte McNamara, lüg mich ruhig an. Ich kriege schon raus, was da gelaufen ist. Das war ganz eindeutig eine Abrechnung. Luca Rossi kannte Henry Moore. Außerdem hatte er gehört, wie Rossi gesagt hatte, dass sich Henry von Toni fernhalten sollte. Damit konnte nur Anthony Garibaldi gemeint sein. Aber warum fand Luca Rossi es notwendig, diesem Krankenpfleger eine Abreibung zu verpassen? Wusste Anthony Garibaldi hiervon? Was wurde hier gespielt? Was war zwischen Garibaldi, Rossi und Moore passiert, dass diesen Angriff provoziert hatte?
Da McNamara nicht mehr damit rechnete, Antworten zu bekommen, legten sie den Rest des Weges schweigend zurück. Als die Notaufnahme vor ihnen auftauchte, erkannte eine Pflegerin die vor dem Gebäude stand Henry.
„Henry, oh mein Gott, was ist denn passiert?" Sie nahm McNamara Henry ab und führte ihn ins Gebäude. McNamara reichte ihr den Rucksack. Bevor Henry im Gebäude verschwand, drehte er sich noch einmal um. „Hey, vielen Dank, Mister. Das war sehr nett von Ihnen, hätte nicht jeder gemacht."
„Kein Problem, gute Besserung", sagte McNamara und dann machte er, dass er zurück zu seinem Auto kam. Heute würde wohl nichts mehr passieren, doch McNamara wartete. Wenn es hier um den Sohn des Don ging, lohnte es sich, zu warten. Doch er wurde enttäuscht, denn keine Stunde später führte die gleiche Krankenschwester einen angeschlagenen Henry zu einem Taxi, das dann davonfuhr. Er hatte insgeheim gehofft, dass Henry Anthony Garibaldi anrufen würde, um ihn abzuholen, aber das war nicht passiert. Als McNamara sich sicher war, dass das Taxi zur Wohnung des Krankenpflegers fuhr, brach er die Beschattung ab und fuhr nach Hause.
Der Abend war doch noch ganz interessant geworden, dachte er mit Genugtuung. Es brodelte in der Familie Garibaldi, so viel war klar. Eine Schießerei mit der Yakuza, Anthony Garibaldi würde nach Las Vegas gehen – darüber war sich McNamara sicher, er hatte gute Quellen – und jetzt dieser Angriff auf den Krankenpfleger. Da taten sich doch vielleicht ganz neue Möglichkeiten auf.
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Am Tag vor Thanksgiving fand im Corleone eine große Party statt. Da der nächste Tag ein Feiertag war, den die meisten mit der Familie verbrachten, wollte die New Yorker Partyscene noch einmal richtig abfeiern. Die Musik war laut, die Getränke kalt und Toni furchtbar gelangweilt. Er stand in seinem Büro, ein Glas Scotch in der Hand und beobachtete die tanzende Menge. Er hatte Henry eine Nachricht geschickt, aber dieser hatte nur kurz geschrieben, dass er arbeiten musste. Toni hatte gedacht, Henry hatte die Tage rund um Thanksgiving frei, aber er hatte sich wohl geirrt.
Auch Luca hatte er nicht erreichen können, aber er konnte sehen, dass Luca seine Nachricht bekommen und gelesen hatte. Vielleicht hatte er einen Auftrag bekommen und deshalb keine Zeit. Als Toni noch einen Schluck von seinem Scotch nahm und zusah, wie sich leichtbekleidete Frauen an jungen Männern rieben, die sich anscheinend mega-angesagt vorkamen, wurde es ihm zu viel. Er trank den Rest seines Scotchs in einem Schluck, griff sich seine Schlüssel und verließ den Club.
Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, fuhr er ziellos durch die dunklen Straßen. Seitdem sein Vater ihm gesagt hatte, dass er nach Las Vegas gehen würde, hatte der Club seinen Reiz verloren. Toni konnte nicht genau sagen, warum, aber er vermutete, dass sein Unterbewusstsein versuchte, den Schmerz zu dämpfen, den er empfinden würde, wenn er das Corleone hinter sich lassen musste. Die ganze mühevolle Arbeit, die er in den Club investiert hatte, wäre dahin. Vielleicht würde er den Club und seine Arbeit weniger vermissen, wenn er jetzt genervt davon war.
Wie er so durch das nächtliche New York fuhr, sah er die Absperrungen, die wegen der Parade am nächsten Tag aufgestellt worden waren. Er sah sogar ein oder zwei Zelte. Es gab tatsächlich Menschen, die auf der Straße kampierten, um einen guten Platz zu finden. Toni schüttelte den Kopf und bog ab, um zu seiner Wohnung zu fahren.
Natürlich freute er sich darauf, die Parade morgen mit Henry anzusehen. Zuerst würde er auf dem Weg zu Henry frischen Kaffee und Bagels holen, dann würden sie sich einen guten Platz suchen und die Parade genießen. Danach würde er Henry mit in den Central Park nehmen. Dort gab es Stände und Food Trucks, Musik und ein Füllhorn, das mit Spenden der hiesigen Geschäfte gefüllt worden war. Er hatte gelesen, dass es ein spektakulärer Anblick sein sollte. Außerdem wurden im Park einige Truthähne gehalten, die man füttern durfte. Es würden viele Menschen da sein, aber das war Toni egal. Er würde einfach nur mit einem Bekannten durch den Park schlendern, mehr nicht. Und er würde seine Zeit mit Henry genießen und versuchen, Kraft zu tanken für das Essen mit seinem Vater am Abend. Seine Gedanken ordnen, bevor er in das Haifischbecken musste.
Wenn er ehrlich war, fürchtete er sich vor dem Abendessen. Sein Vater würde ihn vor der versammelten Familie nicht angreifen, weder verbal noch physisch, aber sein Onkel hatte gezeigt, wozu er fähig war. Die Sache mit den Yakuza war jetzt schon einige Zeit her und bisher hatte sein Vater ihn nicht darauf angesprochen, was seltsam war. Toni schwor sich, dass er keine Sekunde mit seinem Vater oder Onkel allein sein würde. Er würde esse, trinken und Konversation machen und sobald es möglich war, würde er gehen.
Wenn wenigstens Luca zu dem Essen eingeladen wäre, dachte er, als er seinen Porsche in die Tiefgarage fuhr. Aber auch wenn Lucas Vater als Capo eingeladen war, so war Luca nur Soldat. Er würde erst an diesen Essen teilnehmen dürfen, wenn er in den Rängen der Organisation aufgestiegen war. Und das, dachte Toni, wird noch Jahre dauern. Wenn es so weit war, gab es seinen Vater vielleicht gar nicht mehr und auch nicht mehr diese furchtbaren Essen. Mit diesen tröstlichen Gedanken schloss Toni seine Haustür auf. Er hörte noch etwas Musik und schickte Henry eine Nachricht, aber anscheinend hatte Henry viel zu tun, denn er konnte sehen, dass seine Nachricht nicht gelesen wurde. Gegen Mitternacht schickte er noch eine Nachricht.
„Habe dich heute vermisst. Hattest du einen schönen Tag?"
Es dauerte ein paar Minuten, aber dann reagierte Henry. „War ok. Viel zu tun."
„Bist du sehr müde? Soll ich morgen erst später vorbeikommen? Dann kannst du ausschlafen."
Henry antwortete nicht sofort. Auf Tonis Display erschienen drei Punkte und die Mitteilung „... schreibt...". Dann verschwand die Mitteilung. Eine Minute passierte nichts, dann erschien wieder die Mitteilung, dass Henry eine Nachricht schrieb. Dann verschwanden die Punkte wieder, ohne dass eine Nachricht eingegangen wäre. Toni runzelte die Stirn. Das musste ja eine lange Nachricht sein, die Henry da schrieb. Dann, endlich, erschien mit einem Pling Henrys Nachricht auf seinem Display.
„Ich kann morgen nicht. Muss arbeiten. Sorry."
Tonis Stirnrunzeln wurde noch stärker. Aber Henry hatte doch extra eine Schicht getauscht, damit er Thanksgiving frei hatte. Und warum hatte er für diese kurze Nachricht so lange braucht? Frustriert und auch enttäuscht schickte Toni eine Nachricht zurück.
„Warum das denn? Ich dachte du hättest frei."
„Ich muss einspringen, es geht nicht anders."
Lag es an ihm oder waren Henrys Nachrichten seltsam? Normalerweise benutzte Henry Voice-to-text und seine Nachrichten waren länger und angefüllt mir Smileys oder GIFs. Doch diese Nachrichten waren beinahe unhöflich kurz. Toni setzte sich in seinem Bett auf.
„Das ist schade, aber wenn es nicht anders geht... Können wir uns morgen trotzdem sehen? Oder soll ich jetzt noch vorbeikommen? Es ist noch nicht spät."
Wieder erschienen die drei Punkte die anzeigten, dass Henry eine Nachricht tippte. Er schien unendlich lange zu brauchen, um diese zu verschicken. Als die Nachricht schließlich eintraf, verzog sich Tonis Gesicht vor Enttäuschung.
„Nein, ich bin müde, muss ins Bett."
Für einen Moment schwebte sein Finger über dem Anrufknopf und Toni überlegte, Henry einfach anzurufen. Aber dann tat er es doch nicht.
„In Ordnung, dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Schlaf gut."
Er überlegte noch ein „ich liebe dich" oder ein „xx" hinterherzuschicken, aber so weit waren sie in ihrer Beziehung noch nicht. Zumindest hatten sie es sich noch nicht gesagt. Toni scrollte durch die Emoticons auf der Suche nach einem passenden Smiley den er noch schnell hinterherschicken konnte, bevor Henry antwortete, aber er hätte sich nicht zu beeilen brauchen. Denn Henry antwortete nicht mehr.
Enttäuscht, dass er Henry morgen nicht sehen konnte, legte er sein Handy weg und schaltete das Licht aus. Er lag noch eine ganze Weile wach, denn seine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. Er hatte ein Gefühl im Magen, als ob er etwas vergessen hätte. Das Gefühl das man hatte, wenn man sich erinnerte, dass man den Herd angelassen hatte und man schon Meilen weit von zu Hause weg war. Das unbestimmte Gefühl, dass eine Katastrophe bevorstand, die man nicht verhindern konnte. Aber so sehr Toni sich auch den Kopf zermarterte, er wusste nicht, wodurch das Gefühl ausgelöst worden war.
Am nächsten Tag wollte er erst gar nicht aufstehen. Er war früh wach, wie immer, doch auch der strahlende Sonnenschein konnte ihn nicht aufheitern. Ohne Henry hatte er keinen Plan, was er machen sollte, bevor er abends zu seinem Vater musste. Was hatte er denn letztes Jahr getan, dachte er? Seine Gedanken schweiften zurück zum Thanksgiving im letzten Jahr. Er war mit Luca zu einem Taccowettessen in der Bronx gegangen, genau. Sie hatten auf den Sieger gewettet und haushoch verloren. Luca hatte sich danach an den scharfen Chilis versucht, für die es ebenfalls ein Wettessen gab. Er hatte schon nach der zweiten scharfen Schote aufgeben müssen, sein Gesicht so rot wie eine Tomate. Toni hatte gelacht, als er einen Becher Milch nach dem anderen hinunterwürgte, nur damit das Brennen aufhörte.
Es war ein guter Tag gewesen und die Erinnerungen an den Vormittag hatten ihm durch das furchtbare Abendessen geholfen. Und dabei war die Stimmung im Hause Garibaldi im vorigen Jahr noch bedeutend besser gewesen. Er könnte Luca anrufen und fragen, ob er etwas mit ihm unternehmen wollte. Ja, das könnte er tun. Toni griff sich sein Telefon und wählte Lucas Nummer. Beim ersten Mal nahm Luca nicht ab, beim zweiten Mal drückte er den Anruf weg.
Toni legte einen Arm über seine Augen und warf das Handy frustriert auf Bett. Ging Luca ihm aus dem Weg oder was war los? Ja es war noch früh und Luca schlief lange, aber normalerweise nahm er ab, wenn Toni anrief. Verärgert und wenn er ehrlich mit sich war auch ein wenig im Selbstmitleid badend, ging Toni ins Bad, duschte und machte sich für den Tag fertig. Als er vor seinem Kleiderschrank stand und gerade einen seiner Anzüge herausholen wollte, sah er die Jeans, die er getragen hatte, als er und Henry mit dem Motorrad durch New York gebraust waren. Er nahm sie in die Hand. Das war ein guter Tag gewesen, unbeschwert und frei. Ob Henry ihn irgendwann nochmal auf der Harley mitnehmen würde?
Er setzte sich aufs Bett und sah aus dem Fenster. Der Himmel war blau und es war keine Wolke zu sehen. Es würde ein sonniger, wenn auch kalter Novembertag werden. Perfektes Wetter um zu fotografieren, dachte er. Seine Augen fanden das Bild aus Coney Island, das an seiner Schlafzimmerwand hing. Warum eigentlich nicht, dachte er. Bevor er es sich anders überlegen konnte, schlüpfte er in die Jeans, ein schwarzes T-Shirt und einen langärmeligen grauen Pullover, schnappte sich seine Kameraausrüstung und Jacke und verließ seine Wohnung. Als er auf der Straße stand und die kalte Luft einatmete, fühlte er sich wacher, frischer. Für einen Moment wusste er nicht, wohin er gehen sollte. Er wollte nicht mit dem Porsche fahren, denn er hatte das Gefühl, dass er dann ein genaues Ziel brauchte, wohin er fahren sollte. Aber heute wollte er sich treiben lassen. Schon seit Jahren hatte er nicht mehr fotografiert, er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Daher schlang er die Kameratasche über eine Schulter und ging die Straße entlang Richtung U-Bahn.
Den ganzen Morgen schlenderte Toni durch New York. Er mied die Parade und die Menschenmassen, suchte nach Motiven in den Nebenstraßen und Parks. Vor allem im Central Park fand er viele Motive, und auch wenn er das Gefühl hatte, dass er eingerostet und seine Bilder vermutlich furchtbar waren, machte es ihm Spaß. Wie er so durch die Straßen zog, die Menschen um sich herum beobachtete und seine Gedanken schweifen ließ, fühlte er sich beinahe frei. Das hatte er schon seit Jahren nicht mehr getan, sich einfach treiben lassen, keinen Gedanken an die Cosa Nostra verschwenden und einfach nur das tun, wozu er gerade Lust hatte.
Gegen Mittag verließ er die Innenstadt und fuhr mit der U-Bahn weiter nach Norden. Er wollte gerade aussteigen, als er eine Idee hatte. Er fuhr weiter, immer Richtung Norden, dann stieg er ein paar Mal um. Er musste noch einige Blocks laufen und verlief sich zwei Mal, bis er endlich vor der alten Nervenheilanstand stand, die Henry ihm gezeigt hatte.
In der blassen Sonne des Novembertages schien der weiße Stein des Gebäudes zu leuchten. Die Bäume auf dem Gelände hatten ihre Blätter Rot und Golden verfärbt, einige waren schon blattlos. Aber das Unkraut und Efeu war nach wie vor von sattem Grün. Toni ging in das Gebäude und machte Aufnahmen von der Treppe im Eingangsbereich, von den verwitterten Säulen und den leeren Zimmern. Vor allem der Baum, der mitten in der Halle wuchs, hatte es ihm angetan.
Als er in den Innenhof kam, setzte er sich auf die steinerne Bank, auf der er mit Henry gesessen hatte. Es sah jetzt anders aus, als noch vor ein paar Wochen. Trockene Blätter lagen auf den Wegen, die Schatten schienen dunkler und es war kalt. Dennoch erfasste ihn eine tiefe innere Ruhe. Er schloss die Augen und nahm sie in sich auf. Dies war wirklich ein heilsamer Ort, erkannte er. Er dachte an den Tag mit Henry zurück und ein wehmütiges Seufzen entfuhr ihm. Was würde er jetzt dafür geben, dass Henry an seiner Seite saß. Er dachte an seine blonden Haare, die golden in der Sonne funkelten, seine Sommersprossen, die sich wie Farbspritzer über seine weiche Haut zogen. Die breiten Schultern, die schmalen Hüften. Das offene, freundliche Lachen, die intelligenten Augen. Henrys Mut, seinen Weg zu gehen, nachdem er einen Schicksalsschlag erlebt hatte. Seinen Stolz, seine Intelligenz, seinen Charme und Witz. Toni ließ den Kopf sinken und seufzte.
Er hatte Henry erst vor ein paar Tagen gesehen und trotzdem vermisste er ihn schrecklich. Um nicht ganz in Wehmut zu verfallen stand er auf und ging wieder ins Haus. Er erklomm die Stufen zu dem Balkon, auf dem er mit Henry gestanden hatte. Das Panorama war auch jetzt, im Herbst, atemberaubend und Toni machte einige Aufnahmen. Es war schon beinahe vier Uhr, als er sich endlich von dem Gebäude losriss und zurückfuhr. Er würde noch zu spät zu dem Essen mit seinem Vater kommen.
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Anmerkung: Ohhhh.....das war wirklich nicht leicht zu schreiben, aber diese Story braucht einfach ein wenig Angst....
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