CHAPTER 56: Über Instinkte und dem Bewusstwerden
Es gab Augenblicke im Leben, in denen man einfach genug hatte. Alles was man auf dem Herzen hatte, alles was sich anstaute, irgendwann war kein Stauraum mehr da. Man hatte keinen Platz mehr, um alles zu speichern.
Am Beispiel eines Ballons: Der Ballon füllt sich kontinuierlich mit Wasser. Er wird immer größer. Die einst dicken Gummiwände werden immer dünner, bis sie das Wasser irgendwann nicht mehr halten können. Der Ballon platzt.
Doch wie kann ich es bei mir beschreiben? Ich verstand mich nicht mehr, ich werde auch nicht mehr versuchen, meine vergangenen Handlungen irgendwie zu verstehen. Wieso ich was getan habe. Irgendwann kommt dieser eine Punkt, da realisiert man, wie sehr man in der Vergangenheit gräbt, auch wenn es zu spät ist.
Der Moment, wenn mehrere Männer mit verhüllten Gesichtern in den Raum gelaufen kommen und die Wachen an den Türen umbrachten. Der Moment, wenn die hohe Priesterin zusammen mit Pepe und José auf die Knie gezwungen wurden und Isabella und Ríco durch Kopfschüsse starben. Der Moment, als die Menschen schreiend von den Tribühnen verschwanden. Der Moment, als der Mann von dem ich dachte, dass er er wäre, dir ins Gesicht schlägt. Der Moment wenn du Bekanntschaft mit dem Boden machst und er dir den Lauf einer Waffe an die Schläfe presste.
Da bemerkte ich, wie sehr ich mich selber verlore habe. Ich habe vergessen nach vorne zu schauen, die Situation sachlich zu sehen, ich habe vergessen warum ich hier war, warum ich das mache was ich mache, warum ich wieder zurück will. In diesem Moment vergaß ich alles.
Und ich verließ mich seit langem endlich wieder auf meine Instinkte.
So lange habe ich versucht meinem Herz zuzuhören, zu verstehen was es mir sagen will. Doch in diesem Moment schlug es nicht. Meine Organe hörten auf zu arbeiten, ich hörte auf zu Denken und ich hörte auf zu fühlen. Meine Instinkte leiteten meinen Körper.
Ich konnte wieder alles wahrnehmen. Die verzweifelten Schreie von José, das Wimmern der hohen Priesterin und das siegessichere, kurze Lachen des Mannes über mir. Ich trat ihm heftig gegen die Wade und nahm ihm die Waffe ab, erschoss in meiner Überlegenheit seine drei Begleiter und stand langsam auf.
Meine Wange pochte noch immer durch die harte Ohrfeige, doch noch schlimmer waren die Schmerzen der falschen und kurzen Hoffnung meinerseits. Ich atmete tief durch.
Es ist okay Schmerzen zu haben, es ist okay zu schreien und zu weinen, um sich zu schlagen und seinen Gedanken und Gefühlen Platz zu geben. Das brauchte man, es ist nötig. Das zu realisieren hat mich beinahe mein Leben gekostet. Es hat das von zwei Mitgliedern der Resistencia gekostet. Und zwar weil ich zu unfähig war, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Man kann nicht alles auf einmal machen, man kann aber auch nicht an einer Sache fest halten, während man weiterging. Das war einfach nicht möglich.
,,Es ist noch genau eine Kugel in diesem Magazin", erklärte ich dann und entsicherte die Pistole.
,,Und jetzt wirst du mir mindestens einen Grund nennen, warum diese sich nicht in deinen Kopf bohren sollte."
Ich betrachtete den am Boden liegenden Mann genauer. Seine Augen waren geweitet, sein Atem ging schnell. Sein Haar hing ihm über die hellblauen Augen.
,,Es würde Verschwendung sein...", der Mann räusperte sich: ,, ..denn ihr seid verloren. Ihr seid alle verloren."
,,Falsche Antwort", flüsterte ich und schoss ihm zwischen die Augen. Achtlos ließ ich die Waffe fallen und ging zu der Priesterin, um ihr aufzuhelfen. Sie krallte ihre Finge in meinen Arm und schaute panisch zu mir auf.
,,Ihr seid in Sicherheit", beschwichtigte ich die Frau.
Dann nahm Pepe sie mir ab und führte sie aus dem Raum, der in diesem Moment mit gefühlt fünfzig schwer bewaffneten Männern geflutet wurde.
,,José!", rief einer von denen und schien erleichtert zu sein: ,,Wie erwartet hast du alle im Alleingang außer Gefecht gesetzt."
José schüttelte ernst den Kopf: ,,Das ist allein Laurentias Verdienst."
Der Mann machte große Augen, als er mich sah.
,,Bist du verletzt?", fragte ich José.
,,Nein...und du?"
Ich zuckte mit den Schultern: ,,Nicht wirklich, nein."
Ich beobachtete, wie ein paar Leute die Leichen einsammelten und aus dem Saal trugen.
,,Tote...ohne Grund", flüsterte einer der Wachen und ich horchte auf.
,,Was haben sie gesagt?"
,,W-was?", die Wache fuhr herum und schaute mich stirnrunzelnd an.
,,Könnten sie wiederholen, was sie gerade gesagt haben?"
,,Es gab wieder Tote ohne Grund-"
,,Was?"
,,Es sind Menschen ohne Grund gestorb-"
,,Wie bitte?"
,,Laurentia, lass die Männer in Ruhe"; begann José, doch ich brachte ihn mit einer abwehrenden Handbewegung zum Verstummen.
,,Ich meine, sie haben gerade 'ohne Grund' gesagt. Dennoch hoffe ich, mich verhört zu haben."
Ich ging einen Schritt auf den riesigen Typen zu: ,,Es sind Menschen umgekommen, ja. Aber es gab einen Grund, sogar mehrere."
,,Bei allem Respekt, aber nennen sie mir auch nur einen", gab der Mann beinahe genervt zurück.
,,Wie heißen sie?"
,,Was hat das mit-"
,,Sagen sie mir einfach ihren Namen."
,,Franco."
,,Franco, was ist ihr Job?"
,,Für die Resistencia zu kämpfen, das wahre Spanien wieder zu seinem alten Glanze zurück zu führen,-"
,,Da reicht mir. Und wenn sie während ihres Jobs sterben, dann haben sie was getan?"
,,Meinen Job. Ich habe meinen Glauben vertreten und-"
,,Und sie hatten einen Grund, für den es sich lohnt zu sterben, richtig? Die zwei Menschen die heute verstorben sind hatten auch ihre Bedeutung und ihre Gründe, auch wenn es nicht danach aussehen mag, haben sie dennoch die ihren versucht zu beschützen. Sie haben nich gesehen, wie Ríco sich vor die Kugel warf, die Isabella golt. Sie haben nicht gesehen, wie Isabella weinend ihren Glauben den Männern entgegenschrie, die sie kurz darauf erschossen. Und wenn sie immernoch keinen Grund in dem sehen, dann suchen sie die Antwort bei sich selbst. Wenn sie ihren Job und ihre Pflicht gemacht hätten, würden sie vielleicht noch leben."
,,S-so habe ich noch nicht darüber nach gedacht.."
Ich zuckte die Schultern: ,,Bevor sie etwas sagen, sollten sie gründlich darüber nachdenken, behalten sie das bitte für die Zukunft."
Ich bahnte mir daraufhin einen Weg zwischen den Menschen hindurch, wurde von José dann aufgehalten.
,,Wo willst du hin? Wir wurden attackiert, wir können uns jetzt nicht-"
,,-Verkriechen? Da gebe ich dir Recht."
,,Ich muss eine Krisensitzung anordnen und eine Zählung durchführen und Befragungen starten und und und..."
Ich befreite meinen Arm aus Josés Griff: ,,Ich werde dabei helfen, ich wollte nur nach Maria und den anderen sehen, bevor wir weiter machen."
José sah mich überrascht an.
,,Ich hab heute zum ersten Mal endlich wieder etwas realisiert. Und bevor ich wieder das Unmögliche möglich mache, will ich mich an etwas nicht so Schwerem versuchen."
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