
Vergessene Tränen
Es wäre nicht das erste Mal, dass Tygran von etwas träumte, dass ihm Angst machte. Aber es war das erste Mal, dass es um Dani ging. Tygrans Herz pochte so schnell in seiner Brust, dass es wehtat. Er wusste nicht, ob er träumte. Und dennoch musste es so sein. Denn der Körper, den er umarmte, war kalt und steif, wie der einer Leiche in Totenstarre.
Tygran wagte es nicht, sich zu rühren. Nur ein Traum, es war nur ein Traum. Er biss sich auf die Unterlippe. Kein Schmerz, nur ein Traum. Dennoch, es wirkte so echt. Der Raum war dunkel und still, Tygran hielt die Luft an, um Dani atmen zu hören. Doch er tat es nicht. Er blieb kalt und regungslos.
"Dani...?", entfuhr es Tygran leise. Er spürte einen Luftzug hinter sich, Wind, der nicht da sein konnte. Die Zimmerlampe fing an zu flackern und Tygran erstarrte vor Angst. Im Wechsel von Hell und Dunkel sah er Danis Gesicht. Seine Haut war bleich und starr, seine offenen Augen stumpf und leblos. Tygran öffnete seinen Mund, um zu schreien, doch er brachte keinen Ton hervor.
Schnell atmend und mit klopfendem Herzen wachte er auf, seine Augen verklebt und seine Wangen feucht. Er hatte geweint. Seine Arme umschlangen einen warmen, lebendigen Körper und er lauschte Danis Atem für eine Weile. Tygran drückte ihn noch fester an sich. Was würde er tun, sollte er Dani jemals verlieren? Er sah ihn vor sich, wie er lachte, die Wärme in seinen klaren, blauen Augen...
Wie sollte Tygran ohne ihn leben? Was bliebe ihm noch? Er hatte Angst. Sein Traum machte ihm Angst. Warum hatte es sich so echt angefühlt?
Tygran schaffte es nicht, seine Tränen zurückzuhalten. Er wollte nicht weinen, dennoch schluchzte er leise, als er Dani an sich drückte. Zitternd strich er durch sein weiches Haar, ließ seine Hand über seine Wange fahren und verbarg sein Gesicht in seiner Schulter. Dani war ihm so wichtig geworden... Zu wichtig...?
Er weinte nur selten, nur wenn er alleine war, wenn es nicht mehr anders ging. Doch seitdem er Dani hatte, konnte Tygran all die Tränen, die sich über die Jahre angesammelt hatten, herauslassen. Niemand würde ihn für das Weinen bestrafen, nicht wenn Dani bei ihm war. Tygran schniefte leise, Danis langsamer Atem und das Heben und Senken seines Brustkorbs beruhigten ihn, Tränen rollten ihm stumm über die Wangen.
Manchmal wollte Tygran einfach so weinen. Ohne Grund, einfach nur, um sich von all dem Druck auf seiner Brust zu befreien. Aber er wollte Dani nicht noch mehr belasten. Wenn er mitbekam, dass Tygran geweint hatte, würde er sich nur Sorgen machen.
Mit seinem T-Shirt-Rand fuhr Tygran sich über die Wangen. Er versuchte kontrolliert zu atmen, so wie er es beigebracht bekommen hatte.
Bis vier zählen, einatmen. Bis vier zählen, ausatmen. Er spürte, wie er ruhiger wurde. Dennoch drückte er Dani fest an sich, als könnte jemand oder etwas ihn jederzeit von ihm wegreißen. Seine Hand lag auf Danis Herz, es schlug langsam und gleichmäßig. Tygran schloss die Augen. Nie wieder wollte er jemanden verlieren, der ihm wichtig war.
Nie wieder...
Tygran erinnerte sich vage an ein Paar grüne Augen, umrahmt von struppigem blonden Haar. Ein mitleidiges Lächeln, dass dem seiner Mutter so ähnlich gewesen war...
"Hier, du kannst meine Decke haben."
Es war Winter gewesen, und auch im Bunker bitterkalt. Es war ein halbes Jahr vergangen, seitdem seine Eltern gestorben waren und fast genauso lange, seitdem er kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte. Tygran war mit seinen zehn Jahren viel zu abgemagert und schwach, das tägliche Training brachte ihn beinahe um. Eingehüllt in seiner verschlissenen Decke, ließ er die Kälte über sich ergehen.
Eine Frau, etwas jünger als seine Mutter, hatte sich neben ihn gesetzt. Mit großen Augen starrte Tygran sie an, und auf die Wolldecke, die sie ihm entgegenhielt.
"Na nimm sie schon. Ich konnte deine Zähne von ganz da hinten klappern hören!" Sie lächelte ihn an und wies an das andere Ende des Bunkers. Trotzdem rührte Tygran sich nicht, er war es nicht gewohnt, dass jemand ihn ansprach. Und vor allem nicht, dass jemand nett zu ihm war.
"Also gut", seufzte die Frau schließlich, als Tygran sich seine Decke bis unter die Augen zog und sie weiter anstarrte.
"Wie heißt du?", fragte sie und wollte ihre Decke um ihn legen, doch Tygran zuckte zurück.
"Hey, ich tu dir nichts, okay?" Sie lächelte erneut und Tygran nickte vorsichtig, bevor er misstrauisch die Decke entgegennahm.
"Du bist doch Alexejs Sohn, nicht wahr? Ich bin Ana."
"Tygran", fiepte er leise und wickelte die Decke eng um sich.
"Ein schöner Name. Sag mal, Tygran, warum bist du hier bei den Soldaten? Du solltest doch drüben bei den anderen Kindern sein."
Tygran schüttelte den Kopf.
"Ich darf nicht", sagte er.
"Wieso das denn nicht?" Ana sah ihn besorgt an.
"Ich muss die Fehler meines Vaters wieder gut machen, sagt mein Onkel."
"Was für ein Unfug! Du hast mit der ganzen Sache doch gar nichts zu tun! Ich werde mit deinem Onkel mal darüber reden!"
"Ja wirklich?" Tygran blickte sie mit großen Augen an.
"Natürlich! Er darf dich doch nicht so quälen, du bist viel zu jung für das Training!"
"Ich kann Messer werfen!"
Tygran hatte Lob erwartet, doch sie sah ihn nur mitleidig an.
"Dein Bauch ist ganz rund!", rief Tygran auf einmal, als er sich Ana noch einmal genauer ansah.
"Ich bin schwanger, Tygran." Sie lachte, als Tygran sie mit einer Mischung aus Neugierde und Verwunderung anstarrte.
"Wird es ein Junge oder ein Mädchen?", fragte er dann.
"Das weiß ich erst, wenn es so weit ist." Ana lächelte und legte eine Hand auf ihren Bauch.
"Wenn es ein Mädchen wird, ist sie bestimmt so hübsch wie du!"
Tygran wusste nicht, was an seiner Aussage so lustig war, aber sie fing wieder an zu lachen.
"Du bist ein kleiner Chameur, was? Aber danke." Sie strich ihm durch die Haare, auch wenn Tygran sich zuerst erschrak, als ihre Hand auf ihn zukam.
"Was wurde dir nur angetan, hm?", seufzte sie auf seine Reaktion hin.
"Ab jetzt passe ich auf dich auf."
Doch es sollte anders kommen. Aus der Ferne beobachtete Tygran wie Ana sich mit seinem Onkel stritt. Er hörte, wie er ihr befahl, sich von ihm fernzuhalten und Tygran bekam Angst, dass sie nie wieder zu ihm kommen würde. Aber Ana kam wieder. Jede Nacht gab sie ihm ihre Decke, manchmal hatte sie es geschafft, Essen für ihn aufzutreiben. Ana erzählte ihm viel von damals, wo sie aufgewachsen war und dass sie Lehrerin für Kinder in Tygrans Alter gewesen war.
Jedes Mal, wenn sie zu ihm kam, hatte Tygran einen neuen Vorschlag für einen Babynamen und Ana meinte, sie könne sich kaum entscheiden, sollte Tygran ihr weiter so viele Möglichkeiten offen lassen. Einmal nannte er sie versehentlich Mama. Sofort lief er rot an, doch Ana schenkte ihm das schönste Lächeln, dass er seit langem gesehen hatte.
"Du bist ein ganz besonderer Junge, Tygran. Du wirst ein toller großer Bruder."
"Ein großer Bruder?" Tygran sah sie mit leuchtenden Augen an und legte eine Hand auf ihren Bauch.
"Hörst du? Ich werde dein großer Bruder!"
Zum ersten Mal fühlte er sich wie zu Hause. Auch wenn Akim ihn tagsüber mit Messerwerfen und Schießtraining plagte, glich Ana all den Schmerz wieder aus. Tygran fühlte sich besser. Er wollte nicht mehr sterben, er wollte ein großer Bruder sein.
"Das war das letzte Mal, Anastasia! Ich habe dir gesagt, wenn du nicht aufhörst zu ihm zu gehen, bist du raus!"
Tygran versuchte nicht zu zucken, als sein Onkel Ana anzischte. Er tat so, als würde er schlafen, doch in Wirklichkeit hörte er jedes Wort.
"Mikhail, der Junge braucht eine Mutter! Versteh das doch endlich! Er ist doch keine Maschine, die nur Schlaf und Essen braucht! Willst du deinen Neffen so verwahrlosen lassen? Ihm alles menschliche nehmen?"
"Tygran ist nicht deine Angelegenheit. Drei Mal habe ich dich gewarnt, und trotzdem hast du nicht auf mich gehört. Er braucht weder eine Mutter, noch sonst irgendwelche emotionalen Bindungen! Es macht ihn nur schwach."
"Schwach?? Bist du wahnsinnig? Sieh ihn dir doch an! Tag für Tag lässt du ihn Messer werfen, Gewehrmunition polieren und sich im Nahkampf verprügeln lassen! Noch nie habe ich ein Kind mit so stumpfen Augen gesehen! Mikhail, Tygran wünscht sich jeden Tag zu sterben und irgendwann wird er sich umbringen!"
"Dann war er eben nutzlos, die Schwachen sterben, Anastasia, das ist das Gesetz der Natur. Wenn Tygran hier drinnen nicht überlebt, wie soll er es dort draußen tun?"
"Das kann doch nicht dein Ernst sein! Es ist unmenschlich, was du ihm antust! Wie soll er in seinem späteren Leben jemals Bindungen zu anderen Menschen aufbauen? Wenn das so weitergeht wird er niemals ein normales Leben führen können!"
"Das wird auch nicht nötig sein. Entweder er erledigt unsere Feinde, oder er stirbt."
"Du gottverdammtes Monster! Er ist doch kein Gegenstand, keine Waffe!"
"Ich allein entscheide über Tygran. Und von dir habe ich genug."
Diese Nacht konnte Tygran nicht einschlafen, es war ihm unmöglich zu verarbeiten, was er gehört hatte. Am nächsten Tag wurde er unsanft von Akim geweckt. Seit letzter Woche trainierte er Tygran im Nahkampf. Auch wenn er nicht mit voller Kraft zuschlug, Tygrans blaue Flecken und Prellungen begannen sich zu häufen. Am Abend wartete er auf Ana, doch sie kam nicht. Enttäuscht und traurig legte er sich schlafen.
Am nächsten Abend kam sie wieder nicht. Und an dem danach auch nicht. Tygran hatte angefangen sie zu suchen, doch er konnte sie einfach nicht finden. Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt.
"Mach dir keine Mühe." Sein Onkel packte ihn an der Schulter, als Tygran erneut hoffnungsvoll den Bunkerraum der Hungernden und Schwachen durchstreifte.
"Wo ist Ana?" Tygran blickte ihn böse an, doch die Augen seines Onkels waren zu kalt, als dass er ihnen hätte standhalten können.
"Sie ist fort."
"Wo?"
Sein Onkel nickte Richtung Bunkertür und Tygran erschrak.
"A-Aber wieso? Draußen ist es kalt, da gibt es doch nichts!"
"Sie hat sich nicht an die Regeln gehalten. Und wer sich nicht an die Regeln hält, muss gehen."
"Du... Du hast sie... einfach ausgesperrt?" Tränen sammelten sich in seinen Augen.
"Das sind die Konsequenzen." Sein Onkel sah ihn nicht einmal an.
"Dann lass mich auch raus! Ich muss zu ihr! Lass mich raus! Lass mich raus!", rief Tygran und zerrte an seinem Mantel.
"Du willst raus? So wie beim letzten Mal? Du wirst sterben, genauso wie Anastasia."
"Nein, nein...!" Tygran schüttelte wild seinen Kopf, er musste Ana wiedersehen. Der Gedanke, dass sie vielleicht gar nicht mehr am Leben war... dass ihr ungeborenes Kind niemals das Licht der Welt erblicken würde...
"Ich hasse dich! Ich hasse dich!!", schrie er, seine Sicht verschwamm vor Tränen. Er erblickte ein Messer im Gürtel seines Onkels und ohne zu überlegen, als wäre es ein Reflex, zog er es heraus und wollte zustechen. Doch seine Hand wurde abgefangen, die Messerspitze stoppte ein paar Zentimeter vor dem Magen seines Onkels. Als Tygran wütend zu ihm hochblickte, stellte er fest, dass er lächelte.
"Ich dachte, es wäre noch zu früh. Aber anscheinend bist du bereit zum Töten. Dein Wunsch wird dir gewährt, Tygran. Du kommst schon bald nach draußen..."
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