Erwachen
Boah, sorry, dass es so lang gedauert hat, ich krieg gerade ein bisschen Schuldruck von meinen Eltern o_o
Und letzter Rückblick, versprochen ;)
Sorry, dass ich euch quäle xD
Triggerwarnung für Gewalt und Brutalität.
___________________________________________
Tygran wusste, irgendwann musste es aufhören. Der Schmerz, die Schuld, die Sehnsucht, einfach alles. Sein Onkel hatte ihm gesagt, er würde sich daran gewöhnen. Und er tat es. Tygran wollte nichts fühlen. Einfach gar nichts. Er wollte Ana vergessen, er wollte seine Eltern vergessen, nur um nichts zu spüren.
"Löse dich von allem, was dich schwach macht."
Irgendwann glaubte er daran. Jahr für Jahr wurde es stiller in Tygrans Kopf. Alles was ihm jemals wichtig war verschwand, machte Platz für den Hass, der sich in ihm ausbreitete wie ein Geschwür.
"Hey, kleiner Scheißer! Wieder kein Essen bekommen?"
Er rührte sich nicht einmal, als er von einem deutlich stärkeren Soldaten gepackt wurde. Tygran sah ihn nicht an, es war ihm egal, wer ihn jetzt schlagen würde. Sie waren alle gleich.
"Wenn's nichts mehr zu essen gibt, stechen wir dich zuerst ab, hörst du? Dann kannst du deinen beschissenen Vater in der Hölle von mir grüßen!"
Erst redeten sie, dann schlugen sie.
Tygran hasste sie. Er hasste alle. Doch für eine sehr lange Zeit blieb er der kleinste und schwächste. Erst mit vierzehn bekam er einen Wachstumsschub. Nachts wachte er schreiend auf, die Haut an seiner Schulter war gerissen. Die 1,80 Meter hatte er schon bald erreicht und die anderen fingen an ihn zu meiden, Tygran war kein Opfer mehr. Er schloss sich einem Aufklärungstrupp an, er konnte draußen jagen, schon lange war er nicht mehr so satt geworden.
Das Training zahlte sich aus und Tygran wurde zu dem, was sein Onkel für ihn vorgesehen hatte. Eine Waffe.
Er redete selten, er sah keinen Sinn darin, mit anderen zu kommunizieren. Ein paar Mal die Woche holte sein Onkel ihn zu sich und wollte aus irgendeinem Grund, dass er Deutsch lernte. Tygran verstand es nicht, doch er wusste, dass fragen genauso viel brachte wie mit einer Wand zu reden. Also lernte er diese eigenartige Sprache, erhielt hin und wieder Ohrfeigen wenn er beim Unterricht des ehemaligen Kriegsgefangenen, der sich vor etlicher Zeit in Eyik niedergelassen hatte, einschlief. Auch Mathe und Englisch zwang sein Onkel ihm auf, Tygran sah absolut keinen Sinn dahinter, doch sein Onkel schien eine Art Plan zu haben, was auch immer das sein mochte.
Es war ihm egal, was andere von ihm dachten. Tygran war allein und er wusste, bald würde er es ihnen heimzahlen können.
Häufig saß er in seiner Ecke, und wenn ihm kalt war, wickelte er sich in Anas Wolldecke, die schon bald nicht mehr seinen ganzen Körper umhüllen konnte. Tygran beobachtete sie. Die Soldaten, die vor den Jüngeren und Schwächeren prahlten, die alten Männer, die Krieg spielten und sich gegenseitig Orden verliehen.
Er bemerkte auch die Mädchen, die ihm hin und wieder neugierige Blicke zuwarfen, doch es konnte ihn nicht weniger kümmern. Tygran wusste, dass sie über ihn redeten. Sie alle redeten über ihn, flüsterten hinter vorgehaltener Hand, wenn sie dachten, er würde schlafen. Sie wunderten sich wohl, wann er aufhören würde zu wachsen, es gab so gut wie niemanden, der zwei Meter groß war. Und Tygran war erst sechzehn. Dafür aß er für vier, ohne die Kalorien würde er mager werden. Auch wenn jemand anders dafür hungern musste, ihm war es egal.
"Tygran..."
Er öffnete die Augen und blickte hoch, Akim stand vor ihm. Er war erst Ende zwanzig, doch seine Haarspitzen grauten bereits an, seine Augenringe wurden mit jedem Jahr dunkler und seine Haut blasser. Tygran wusste, mit weiteren zehn Jahren im kalten, modrigen Bunker würde er bald auch so aussehen.
"Was?" Er baute sich vor ihm auf. Mit siebzehn hatte Tygran ordentlich an Muskelmasse zugelegt, er war sicher stärker als Akim, so wie er auf ihn hinabblicken konnte. Kein Wunder, dass er auf Abstand blieb. Früher hatte er Tygran am Kragen hochgezogen und wachgeschüttelt, heute sah er mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Wut und Schmerz zu ihm auf. Die Ironie des Schicksals.
Tygran lächelte ihn kalt an, es sah wohl eher aus wie eine Grimasse, woher hätte er auch wissen sollen, wie man lachte. Sein Onkel hatte es ihm schließlich verboten. Wie oft hatte er früher geträumt so groß und stark wie Akim zu sein, genauso hart zuschlagen zu können. Mit Genugtuung hätte er beobachtet, was seine Faust in seinem Gesicht angerichtet hätte.
Akim musste etwas Gefährliches in Tygrans Blick gesehen haben, denn er machte einen Schritt zurück. Auch wenn er es verdient hatte, Tygran würde sich nicht an ihm rächen. Er hatte ihm schließlich das Kämpfen beigebracht.
"Mikhail meinte, du bekommst deinen eigenen Aufklärungstrupp." Akim sah zu Boden.
"Ach ja? Ich habe gehört
Andrej bekommt einen." Tygran starrte ihn an und sein Gegenüber wich vor seinem durchbohrenden Blick zurück.
"Ihr sollt gegeneinander antreten."
"Ein Messerkampf?" Tygran erblickte Andrej am anderen Ende des Bunkers, wie er sich lautstark über etwas aufregte. Er war um die fünf Jahre älter als Tygran, trainierte aber auch erst seit sechs.
"Nein, ohne Waffen." Akim ging voraus, er wollte wohl, dass Tygran ihm folgte.
"Jetzt sofort? Ich habe heute noch nichts gegessen."
"Jetzt sofort." Erneut wandte er seinen Blick gen Boden.
"Na schön." Tygran verengte die Augen. Etwas schien im Gange, die meisten mussten von dem anstehenden Wettstreit Wind bekommen haben, denn viele Soldaten hatten sich an den Wänden versammelt und blickten erwartungsvoll in die Mitte.
Tygran rollte seine Schultern, sein Shirt war ihm viel zu eng und es hatte bereits etliche Risse und seine ursprüngliche Farbe schon längst verloren. Doch es war schwer Kleidung zu finden, vor allem welche, die ihm auch noch passte.
"Hey, was soll die Scheiße, jetzt mal ehrlich!? Wer kam auf die beschissene Idee, den Dreckssack in die Sache mitreinzuziehen?! Der knallt uns noch alle ab!" Fluchend und wild gestikulierend marschierte Andrej auf ihn zu, begleitet von zwei Gleichaltrigen, die ihn hämisch grinsend Richtung Mitte schubsten.
Tygran verschränkte die Arme und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die anderen neugierig zusahen. Sein Onkel stand am Geländer auf der Treppe zum Kontrollraum.
"Die von oben wollen das so und jetzt hör auf dich zu beschweren, wenigstens kannst du den Hurensohn ordentlich verprügeln!"
"Scheiße, Mann! Das Ganze war doch schon beschlossen, dass mir der Wichser in die Quere kommt, hat mir gerade noch gefehlt!" Andrej blieb vor Tygran stehen und versuchte sich so groß wie möglich zu machen.
"Jetzt hör auf zu labern und legt los! Mach ihn fertig, Andrej!", kam es aus der Menge.
"Bist ja ganz schön groß geworden, kleiner Scheißer! Aber du bist noch hundert Jahre zu früh, wenn du glaubst, dass du mich k.o. kriegst!"
"Bin ich das, Andrej...?" Tygran zuckte nicht einmal, als Andrej ihm mit dem Zeigefinger in die Brust stieß.
"Und ob!", zischte er und holte zum Schlag aus. Die Menge fing an zu johlen, als Andrejs Faust an seinem Gesicht vorbeisauste und Tygran ihn durch einen kräftigen Tritt in die Magengrube einige Meter zurück beförderte. Hustend rappelte Andrej sich vom feuchten Steinboden auf und funkelte ihn an.
"Das wirst du bereuen, du Missgeburt!"
Es war beinahe einfach seinen Bewegungen zu folgen, seine Schläge und Tritte waren zu offensichtlich. Und selbst dann hatte Tygran das Gefühl, dass es ihm auch nichts ausmachen würde, wenn er nicht auswich. Schmerz war nichts, wovor er sich fürchtete. Mit einem gezielten Handkantenschlag traf er Andrejs Kehle.
Die anderen Soldaten buhten ihn aus, beschimpften beide von ihnen. Sie wollten, dass Andrej gewann. Doch sie wussten wohl genau so gut wie Tygran, dass er einfach keine Chance hatte.
"Also, Andrej, wie viele Jahre bin ich zu früh?!" Mit einer Hand zog er ihn hoch, doch bevor Andrej sich wehren konnte, schleuderte er ihn mit voller Kraft von sich, was die Menge weiter anfeuerte.
"Na komm schon! Zeig's mir doch! Bist du wirklich so schwach?", rief Tygran ihm entgegen, als Andrej auf ihn zugestürmt kam.
"Du verdammter Bastard! Du hättest einfach verrecken sollen, wie deine wertlose Hurenmutter! Nicht viel übrig geblieben von ihr, was?"
Mit versteinerter Miene griff Tygran nach Andrejs Hals und drückte zu.
"Was hast du gesagt?"
Andrejs Gesicht war bleich, seine Augen glasig und starr, er stank nach Schweiß und Moder. Und dennoch grinste er Tygran an.
"Na was meinst du denn, wer damals geholfen hat euer Haus anzuzünden..."
Zum ersten Mal seit langem regte sich etwas in Tygran. Der Hass war ihm bekannt, doch es war etwas viel Stärkeres. Es ließ seinen Körper vor Wut zittern, als er Andrej zu Boden warf. Seine Sicht verschwamm für einen Moment, er hielt sich zurück ihm nicht auf der Stelle das Genick zu brechen.
Andrej musste seine Reaktion erahnt haben. Auch wenn Tygran ihn physisch fertig gemacht hatte, schaffte er es, einen kleinen Dolch aus seiner Hosentasche hervorzuziehen.
"Das war's dann wohl, Missgeburt...", spuckte er und zielte auf Tygrans Brust. Letzterer hatte keine Zeit mehr zum Ausweichen, stattdessen fing er die Klinge mit der Hand ab und umschloss sie fest in seinem Griff. Andrej blickte ihn ungläubig an, seine Augen groß und plötzlich voller Angst. Tygran verzog keine Miene, als Blut aus seiner Hand auf den Boden tropfte. Andrej versuchte das Messer herauszuwinden, das Metall schnitt tiefer in Tygrans Hand, doch mit einem Ruck konnte er die Klinge abbrechen. Er warf sie fort und umschloss mit seiner blutigen Hand Andrejs Kinn. Letzterer konnte ihn nur noch anstarren.
"Ich schwöre dir Andrej, das waren deine letzten Worte...", flüsterte Tygran und hob seine Faust.
"Nein, nein! Warte, ich gebe auf! Ich gebe auf! Bitte!!" Er fing an zu schreien, als Tygrans Faust auf ihn niederging. Er setzte sich auf, mit beiden Händen schlug er auf Andrejs Gesicht ein. Schon bald konnte er nicht mehr schreien, als das Blut aus seinem Mund quoll.
Niemand griff ein, und Tygran machte einfach weiter. Wer hätte auch gedacht, dass er Andrejs Gesicht mit einer Faust einschlagen würde. Dass sein Schädel nachgeben würde, als wäre er aus morschem Holz. Er war schneller tot, als Tygran erwartet hatte. Doch es war ihm egal, er schlug weiter auf das blutuberströmte Fleisch ein, das einmal ein Gesicht gewesen war.
Irgendwann regten sich die anderen Soldaten. Als hätte es ein geheimes Zeichen gegeben, stürzten sie sich mit lautem Gebrüll auf Tygran. Letzterer richtete sich auf, noch nie in seinem Leben war er wacher gewesen. Die Leere in ihm war berauschend, das Adrenalin ließ ihn schneller und härter zuschlagen, es war ihm egal, wer vor ihm stand. Sobald mehr als ein paar von ihnen wimmernd am Boden lagen, zog sich der Rest auf einmal zurück.
"Was ist los? Tötet mich doch, wenn ihr könnt! Aber glaubt nicht, dass es einfach wird!", brüllte er sie an.
"Tygran!"
Er blickte hoch zu seinem Onkel, der das Stahlgeländer fest umschlossen hatte.
"Komm her. Sofort."
Tygran blickte für eine Weile hoch zu ihm, er würde wohl Ärger bekommen. Er wischte sich seine Hände an seiner Hose ab und begab sich zur Treppe, gefolgt von jeglichen Augenpaaren. Jemand zitterte neben ihm und er blieb stehen. Ein Junge seines Alters, jedoch deutlich kleiner und schmächtiger, wich zurück. Tygran beugte sich zu ihm herunter und blickte ihm ins Gesicht.
"Buh!", machte er und lachte als der Junge einen Satz zurückmachte.
Vor dem Kontrollraum lehnte Tygran sich gegen die Sicherheitstür. Alle Soldaten starrten ihn immer noch an, und niemand näherte sich Andrejs Leiche.
"Weitermachen!", rief sein Onkel von oben in die Menge und jeder scherte sich möglichst weit weg von dem Blutbad.
"Verbinde deine Hand, du könntest dich infizieren." Er blickte Tygran kalt an.
"Wie aufmerksam..."
"Sprich nicht in diesem Ton mit mir!" Warnend griff er nach Tygrans Handgelenk.
"Such dir deinen Aufklärungstrupp zusammen, ihr werdet morgen sofort nach draußen gehen."
Überrascht sah Tygran ihn an.
"Du hast richtig gehört. Du hast schließlich gewonnen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber scheinbar hast du wohl doch einen Nutzen..." Obwohl diese Worte abwertend klangen, fühlte Tygran etwas ähnliches wie Stolz. Noch nie war er gelobt worden. Nicht seitdem er hier war.
"Tygran, Tygran, Tygran... Der Sohn des Verräters, sieh Mal einer an..."
Es waren einige Wochen seit dem Vorfall mit Andrej vergangen und Tygran wusste, dass sich alles seinem Ende näherte. Dies würde der letzte Akt werden. Der letzte Abschnitt seines Lebens, der letzte seiner elenden Existenz in dem Drecksloch, das er seine Heimat nannte.
Seine Kameraden hatten ihre Chance ergriffen und ihn ausgeliefert. Sie konnten es wohl kaum erwarten ihn loszuwerden, all die Zeit hatten sie sich nicht getraut, Tygran zu überwältigen. Er hätte es wissen müssen. Der Angriff auf den Jägersektor ging schief, anstelle von Rückendeckung wurde Tygran ein Gewehr an den Hinterkopf gehalten, bevor sie ihn niedergeschlagen hatten.
Er hörte eine Stimme, doch er konnte nichts sehen, obwohl seine Augen offen waren. Er konnte weder sprechen, noch sich bewegen. Erst als ihm Blut über die Schläfe lief, bemerkte er, dass er in der Luft hing. Und dann setzte der Schmerz ein. Ein Stechen und Brennen in seinem Rücken, es fühlte sich an wie tausend Messerstiche, Klingen, die sein Fleisch aufrissen und an ihm zerrten. Warmes Blut lief aus einer klaffenden Wunde seinen Rücken hinunter und als Tygran versuchte sich zu wehren, wurde es nur noch schlimmer, er hörte das Rasseln einer Kette. Er hing an einem Haken. An einem gigantischer Fleischerhaken, der in seinem Rücken steckte und ihn in der Luft hielt. Tygran Sicht war verschwommen, zwischendurch wurde ihm schwarz vor Augen. Er wusste nicht wie viel Blut er verloren hatte, aber selbst zum Schreien war er zu schwach.
"Du bist gar nicht wie dein Vater, was eine Überraschung..."
Tygran verstand die Worte kaum, er konnte nicht erkennen, wer mit ihm sprach.
"Ziemlich groß bist du auch... Und schwer... Muss weh tun so zu hängen, nicht wahr?"
"Wer...?", krächzte Tygran mit aller Kraft und die Stimme lachte.
"Das ist nicht von Belang. Ich bin nur hier, um dir ein langsames Ende zu bereiten, eins, das du verdienst. Viele meiner Leute sind wegen dir tot, Tygran, wegen dir allein. Es ist nur fair sie zu rächen, findest du nicht?"
"Dann töte mich doch endlich!", zischte Tygran, doch der Mann lachte erneut.
"Oh nein, nein, nein, ich sagte ein langsames Ende, was verstehst du daran nicht?"
"Ich werde dich umbringen!"
"Na das will ich sehen! Du bist wirklich amüsant für einen Grünschnabel, was? Schade, dass du nicht einer von uns bist, wir hätten dich gut gebrauchen können." Es folgte ein langer Seufzer, dann Schritte.
"Nun, ich lasse dir ein wenig Ruhe, Zeit zum Nachdenken tut dir sicher gut! Morgen früh hänge ich dich ab und wir probieren was anderes, in Ordnung?"
Tygran dachte, es wäre das Ende. Doch aus irgendeinem Grund sollte es noch nicht vorbei sein. Nicht für ihn, nicht jetzt. Stunden vergingen, er konnte sich knapp bei Bewusstsein halten. Auf einmal stand jemand vor ihm, wie lange hatte Tygran seine Augen geschlossen, dass er niemanden hatte kommen hören? Er musste halluzinieren, denn anders konnte er sich nicht erklären, warum er sie vor sich sah. Sie wirkte verschwommen, blasser und die Haut straffer, als er ihr Gesicht in Erinnerung gehabt hatte. Doch es waren die grünen Augen, die ihm den letzten Hinweis gaben.
"A...na..." Sie war nicht echt, sie konnte nicht echt sein. Ana war tot, und das seit vielen Jahren. Tygran versuchte seinen Arm zu heben, doch er war zu schwach.
"Woher... kennst du meinen Namen?" Diese Stimme... Tygran erinnerte sich. An all die Momente, in denen sie ihn in ihren Armen gehalten hatte. Sie erkannte ihn nicht. Wie sollte sie auch? Tygran würde sich selbst nicht erkennen. Mit aller Kraft hob er seinen Kopf, seine Augen fielen ihm immer wieder zu, der Schmerz lähmte ihn.
"Ich... kenne dich..."
Er spürte eine Hand auf seiner Wange. Eine Berührung so real, er konnte nicht halluzinieren. Dafür hatte diese Hand ihn zu oft gehalten.
"Du... bist es..."
Ihm wurde schwarz vor Augen.
Tygran erwachte von dem Geräusch eines Tropfens, der auf dem Boden landete und verhallte. An der Decke sammelte sich Wasser, das in regelmäßigen Abständen auf den feuchten Beton fiel. Wie in Trance sah er den kleinen Wasserperlen zu, die eine Pfütze auf dem kalten Stein bildeten. Er lag in einem Bett... Es war spärlich und hart, aber jemand hatte eine Decke um ihn gewickelt. Er befand sich in einer Zelle, doch die Gittertür stand weit offen. Vorsichtig versuchte er sich aufzusetzen, doch sein Rücken schmerzte so sehr, dass er zurückfiel.
"Oh, endlich! Ich hatte schon Angst, du hättest zu viel Blut verloren!"
Tygran griff sofort an seinen Gürtel, wo sich normalerweise sein Messer befand, doch als er Ana vor sich sah, verharrte er mit offenem Mund.
"Du lebst...", murmelte er. Sie kniete sich vor das Bett und lächelte ihn an.
"Du bist es wirklich..." Sie nahm seine Hand, die auf einmal so viel größer war als ihre.
"Wie fühlst du dich?", fragte Ana leise.
"Ich... habe Hunger", nuschelte Tygran und sie lachte.
"Ich hole dir gleich Suppe!"
"Was ist passiert?" Tygran versuchte hinter der Zelltür etwas zu erblicken, doch es war zu dunkel.
"Ich... konnte dich nicht dort lassen. Hier bist du sicher." Ihre Miene versteinerte.
"Sie werden dich umbringen", murmelte Tygran.
"Das wäre nicht das erste Mal..."
Er starrte sie an, sie sah viel älter aus, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.
"Dein Kind...", flüsterte er dann. Ana schüttelte den Kopf.
"Sie ist nach ein paar Tagen erfroren." Auf einmal verstand er, warum diese grünen Augen ihren Glanz verloren hatten.
"Komm, ich wechsle deinen Verband." Vorsichtig half sie ihm auf, erst jetzt bemerkte Tygran das zerissene Laken, das eng um seinen Oberkörper verknotet war.
"Wer hätte das gedacht... Du warst so ein kleiner Junge damals." Sie lächelte traurig, als sie das Laken in eine Schale mit Wasser tauchte und sanft auf seinen Rücken presste.
"Du hast dich verändert, Tygran. Ich sehe es in deinem Blick. Du siehst aus wie jemand, der die Hoffnung verloren hat. Wie jemand, der nur noch auf sein Ende wartet."
Tygran blickte zu Boden. Sie hatte Recht. Erneut legte sie ihre Hand auf seine Wange.
"Ich will nicht, dass du so lebst. Du musst zu dir zurückfinden, Tygran." Sie hatte Tränen in den Augen.
"Bitte."
"Ich will das alles nicht mehr..." Tygran spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. Er kannte dieses Gefühl nicht, doch es wurde auf einmal schwierig zu atmen und seine Augen fingen an zu stechen. Überrascht wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er wusste nicht, dass er weinen konnte. Er dachte, er hätte es verlernt.
"Ich weiß..." Sie schloss ihn in die Arme.
"Ich weiß wie du dich fühlst. Aber du kannst nicht aufgeben! Du bist kein Junge mehr, Tygran. Ich weiß, dass du stark genug bist!"
"Wofür?", murmelte er und schloss die Augen. Ihr Geruch war ihm so vertraut, auch wenn es das Gegenteil war von dem was sie sagte, er fühlte sich wieder wie der kleine Junge von damals.
"Um hier rauszukommen! Aus diesem verfluchten Dorf, raus in die Welt!" Ana legte ihre Hände auf seine Schultern und blickte ihn beinahe durchdringend an.
"Wie...? Es gibt keine Pferde mehr. Die Handelswege sind unsicher und blockiert, der Fußmarsch wäre Selbstmord. Und selbst wenn man es schafft, was würde es bringen? Wir haben nichts zum Überleben."
"Das stimmt nicht."
Überrascht öffnete Tygran die Augen.
"Was meinst du?"
Sie sah ihn etwas unsicher an, als würde sie sich nicht trauen, darauf zu antworten. Sie atmete tief ein, dann beugte sie sich zu ihm hin.
"Ich habe das Geld gefunden", flüsterte sie.
"Das... Geld...?" Tygran versteifte, ihm wurde auf einmal ganz kalt.
"Es ist hier unten! Ich bin aus Zufall darauf gestoßen. Aus irgendeinem Grund meiden sie die Verliese. Hier habe ich mich versteckt, nachdem sie mich nicht mehr in den Bunker gelassen haben. Irgendwann hat mich der Jägersektor aufgenommen, aber diesen Ort habe ich immer für mich behalten."
"Du hast es niemandem gesagt? Das Geld... es hätte uns alle retten können..." Tygran sah sie ungläubig an.
"Nein, Tygran, du verstehst nicht! Jeder will es für sich! Wir können es nicht aufteilen, sie werden sich gegenseitig ermorden, jeder gegen jeden! Ich will, dass du hier rauskommst! Du sollst es nehmen!"
"I-Ich soll... Warum?"
"Weil ich dich liebe, Tygran." Anas Blick wurde weich, sie strich ihm zärtlich über die Wange.
"Wenn Gott mir schon meine Tochter nimmt, dann will ich wenigstens ein Leben für meinen Sohn... Du sollst leben, Tygran. Du sollst die moderne Welt kennenlernen, all das hinter dir lassen. Ich will, dass du Freunde findest und dich eines Tages verliebst. Das wünsche ich dir so sehr..."
Tygran war zu überwältigt um etwas zu erwidern. Anas Worte klangen unrealistisch... Die moderne Welt... Tygran hatte keinerlei Vorstellung davon. Doch mit dem Geld... Vielleicht... Vielleicht war ein Leben ohne Schmerz greifbar, für ihn und Ana. Sie könnten in einem Haus wohnen, er könnte in eine richtige Schule gehen. An einen Ort, der nicht nach Blut und Moder stank...
"Er hat es wirklich hier versteckt...?"
"Es ist das Geld deines Vaters, Tygran. Es gehört dir." Sie lächelte leicht.
"Dann können wir zusammen gehen! Jetzt sofort! Wir sammeln Proviant, ich gehe jagen, im nächsten Dorf kaufen wir uns Pferde und dann-..." Er verstummte, als Ana einen Finger auf seine Lippen legte. Sie blickte ihn mitleidig an und Tygran wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.
"Du musst das alleine schaffen... Tygran, mir bleibt nicht mehr viel Zeit..."
"Was...? Was hast du denn??" Verwirrt umfasste Tygran ihre Hand. Sie legte ihre andere Hand über seine, ihr Blick voll von Trauer, doch auch Entschlossenheit.
"Das habe ich seit ihrer Geburt..." Vorsichtig hob sie ihr Hemd an und zeigte ihm eine wunde Stelle an ihren Rippen. Die Haut hatte sich violett und grau verfärbt und beulte sich aus, dunkle Adern zogen sich durch das kranke Fleisch.
"Jeden Tag wird es schlimmer, ich kann kaum noch schlafen. Mein Körper macht das nicht mehr lange mit."
Tygran sah sie mit großen Augen an. Warum? Warum Ana? Wieso musste er alleine sein? Warum musste sie sterben??
"Nein! Wenn wir sofort aufbrechen können wir nach einem Arzt suchen! So etwas muss behandelbar sein!"
Ana schüttelte den Kopf.
"Es ist zu spät. Dein Rücken wird dich noch einige Wochen am laufen hindern und bis dahin werde ich alles tun, damit es dir besser geht. Aber danach... bist du auf dich allein gestellt."
"Nein! Nein, das kann nicht sein! Bitte, Ana!!" Verzweifelt klammerte er sich an ihr fest, doch er sah, dass es ihr wehtat.
"Dass ich dich hierher gebracht habe, hat mich viel zu sehr erschöpft. Aber ich bin froh, dass ich es getan habe. Du wirst weiterleben, Tygran. Für mich..."
"Nein..." Tygran schüttelte den Kopf, Tränen rollten über seine Wangen, wie sie es lange nicht mehr getan hatten. Vorsichtig zog Ana ihn zu sich, bis sein Kopf in ihrem Schoß lag und sie ihm durch sein Haar strich.
"Ich habe Elena an der Eiche hinter dem Feld begraben. Wenn es soweit ist, möchte ich bei ihr sein."
Ana starb zwei Wochen später. Auch wenn es schmerzte und er noch nicht richtig laufen konnte, trug Tygran ihre Leiche über das verschneite Feld. Mit einem verrosteten Spaten grub er ein Loch an dem kahlen, alten Baum, den Ana ihm beschrieben hatte.
Ihr Gesicht war so weiß wie der Schnee, ihre Züge entspannt, als Tygran sie in die Grube legte. Er wusste, sie war trotz der Schmerzen friedlich eingeschlafen. Er deckte sie mit der Decke zu, unter der er die letzten Wochen verbracht hatte. Er würde sie nicht mehr brauchen. Mit angezogenen Knien setzte er sich vor das Grab.
"Bis bald...", murmelte er leise. Er hatte überlegt, ob er ihr in den Tod folgen sollte. Doch Ana wollte, dass er weiterlebte und er konnte sie nicht enttäuschen. Immerhin war sie jetzt bei ihrer Tochter. Tygran lächelte bei dem Gedanken. Als ihm kalt wurde stand er auf und schaufelte die Erde zurück. Auf den kleinen Hügel legte er ein Schneeglöckchen.
"Bist du fertig?"
Sofort fuhr er herum, eine Hand am Messer. Hinter ihm stand sein Onkel, er hatte ihn nicht kommen hören.
"Was machst du hier?" Tygran richtete die Klinge auf ihn, doch sein Gegenüber blieb gelassen.
"Man hatte mir gesagt du wärst tot, doch scheinbar ist das nicht ganz richtig..."
"Was willst du? Ich komme nicht zurück! Ich werde verdammt nochmal alle in diesem verfluchten Bunker töten, und dich gleich dazu!!", zischte er und packte ihn am Kragen, doch sein Onkel lachte nur.
"Dein Enthusiasmus gefällt mir, aber nein, wir gehen nicht mehr zurück. Auf uns wartet die neue Welt..."
"Was soll das sein...", knurrte er.
"Das Geld, Tygran. Ich weiß, dass es hier ist. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du ohne mich hier raus kommst?"
"Was willst du damit sagen?!"
"Ruhig, Tygran! Du kannst mich töten, doch dann wirst du genauso sterben. Was wirst du tun, wenn du hier wegkommst? Wo willst du hin? Ohne mich endest du als Psychopath auf den Straßen oder in der Anstalt. Aber ich habe all das über die Jahre geplant, Tygran. Ich weiß genau, wo wir hin müssen. Und ich werde dir erlauben, ein normales Leben zu führen, solange du meinen Regeln folgst." Das kalte Lächeln seines Onkels kannte er zu gut. Er hatte gewonnen.
"Sind wir uns einig?"
"Wir werden... ein normales Leben haben?"
"Das versichere ich dir."
"Und ich kann Freunde finden? Und in einem richtigen Haus wohnen?" Tygran blickte ihn ungläubig an. Doch er wusste, dass er Recht hatte. Sein Onkel hatte es geplant. Er wusste genau, wie sie das Geld nutzen und diesem Ort entfliehen konnten. Sie würden Eyik sich selbst überlassen.
"Das hängt allein von dir ab." Er streckte seine Hand nach ihm aus, als Tygran ihn losließ.
"Komm. Es wird Zeit für einen Neuanfang."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro