Der sanfte Tiger
Eigentlich war es Danis Plan gewesen Tygran am Montag weiterhin so gut es ging zu ignorieren. Dieser schien sowieso gerade andere Probleme zu haben. Das Musikzimmer war bereits mit den meisten Kursteilnehmern gefüllt, als Dani wie immer kurz vor knapp zum Unterricht erschien. Wie jeden Morgen ringten sich ein paar Schüler um Tygran. Doch diesmal schien es ein wenig anders zu sein. Der Russe musste sich herunterbeugen, als er mit einem Mädchen sprach, das ihn scheinbar nach einem Treffen gefragt hatte. Tygran schenkte ihr sein weites Lächeln, das sie erröten ließ und Dani hörte mit halbem Ohr, wie er ablehnte. Er sah sich das Mädchen genauer an, Dani hätte definitiv nicht abgelehnt. Aber vielleicht war sie nicht sein Typ. Er fragte sich eh wie Tygran mit seiner Körpergröße eine richtige Beziehung führen sollte, er fand wahrscheinlich noch nicht einmal passende Kondome...
Das Mädchen, Maria, glaubte Dani sich zu erinnern, sah ein wenig enttäuscht aus, bot Tygran aber an, es sich nochmal zu überlegen. Als ob... Warum hatte sie Dani nicht gefragt? Sie wollte doch nicht ernsthaft eine feste Beziehung mit dem Hulk. Wahrscheinlich war Tygran eh eine totale Null im Bett, er war hundertprozentig noch Jungfrau. Außerdem müsste das Bett erst mal sein Gewicht aushalten, dachte Dani spöttisch.
"Dani...?" Zu spät hatte er bemerkt wie Tygran sich ihm genähert hatte und ihm auf die Schulter tippte. Er sah irgendwie mitleidig aus, soweit Dani das deuten konnte.
"Was?", fuhr Dani ihn an, er hatte gerade seine Klette abgeschüttelt, nur damit Tygran sich wieder an ihn ranhängte?
"Dani, ich wollte mich entschuldigen...", antwortete er irgendwie schüchtern, doch Dani rollte nur mit den Augen. Er entschuldigte sich alle zwei Minuten für irgendeinen Scheiß...
"Tygran", sagte er kalt und beschloss ehrlich zu sein.
"Was zum Henker willst du eigentlich von mir? Warum suchst du dir nicht jemanden der dich mag, denn ich habe genug von deinem blöden, aufgesetzten Lächeln. Willst du echt allen klar machen, du wärst ein beklopptes Unschuldslamm? Und warum überhaupt ich? Versuchs doch bei den anderen Idioten, die himmeln dich doch an!" Soviel hatte er noch nie zu Tygran gesagt, der ihn auf einmal wieder verletzt anblickte, als ob Dani ihm einen Schlag auf die Nase verpasst hätte. Richtig so, er hatte es verdient. Trotzdem, ein schlechtes Gewissen nagte an Dani, als Tygrans Augen wieder diesen verlorenen Ausdruck hatten. Was wenn er wirklich nur nett sein wollte? Wenn er wirklich ein treudoofes Lamm war?
"Weißt du, Dani..." Tygran redete ein wenig leiser, um nicht von allen gehört zu werden.
"Ich hatte Angst aufzufallen, als ich hierhergekommen bin. Doch dann habe ich dich gesehen und dachte mir, es wäre gut wenn ich dich als mein Vorbild nehme! Du weißt wie man mit all dem hier umgeht, mit den ganzen Blicken und den blöden Fragen."
Dani war für einen Moment sprachlos. Er war Tygrans Vorbild? Er bewunderte ihn?
"Du bist so cool, wie du all dem aus dem Weg gehst, deswegen dachte ich mir, es wäre gut wenn ich mit dir befreundet wäre. Außerdem sahst du irgendwie so einsam aus..." Tygran richtete seinen Blick gen Boden.
"Bitte was?" Dani runzelte die Stirn, er kam echt nicht mehr mit.
"Naja, auf jeden Fall scheint es so als wäre ich egoistisch gewesen und ich habe dir nur Unannehmlichkeiten bereitet. Es tut mir leid, Dani, ich weiß, dass ich dich nicht dazu zwingen kann mich zu mögen!" Tygran holte einmal tief Luft bevor er sich wieder so eigenartig vor Dani verbeugte.
"Okay...", murmelte Dani und wusste nicht wirklich, was er sagen sollte als Tygran in seinem Rucksack rumwühlte.
"Die ist für dich!" Der Russe drückte ihm etwas aufgeregt eine Tafel Schokolade in die Hand.
"Deine Freundin Samira hat mir erzählt, dass dieses Oreo deine Lieblingssorte ist." Tygran kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf, während Dani die Schokolade nur anstarren konnte.
"Was?!"
"Es tut mir leid, ich werde dich auch nicht weiter belästigen, Dani!"
"Nein, nein, warte... Hat Sam dir noch etwas erzählt?", fragte Dani mit einem Stirnrunzeln, die Schokolade vorsichtig ergreifend.
"Uh... Sie hat mir gesagt, dass du im Grunde ein gutes Herz hast und viele Dinge sagst, die du gar nicht so meinst. A-außerdem sagte sie, du magst kleine Katzen..."
Die Röte schoss Dani nur so ins Gesicht. Sam, diese hinterlistige Schlange! Wahrscheinlich hatte sie Tygran aufgetragen ihn zu babysitten, während sie von Dani dasselbe erwartete. Er grummelte etwas Unverständliches vor sich hin und zerdrückte beinahe die Schokolade in seiner Hand. Es war wirklich Oreo-Schokolade wie er bemerkte, nicht viele wussten, dass er eine Schwäche für Süßes hatte. Trotzdem würde er Sam dafür töten, dass sie einfach drauflosplapperte, Dani hätte Katzen gern. Besonders kleine mit weichen Pfötchen. Dani schüttelte den Kopf, wie er sich schon wieder anhörte...
Tygran sah ihn immer noch erwartungsvoll an und Dani erkannte auf einmal Parallelen mit einer Katze. Einer Großkatze, vielleicht ein Tiger. Ja, Tiger passte ganz gut. Er blickte in Tygrans Augen mit ihrer ungewöhnlichen Farbe, sein wildes Haar, die Spitzen, die sich in seinen dunklen Wimpern verfingen. Sein Blick sagte soviel wie: "Können wir Freunde sein, Dani? Bitte, bitte, bitte?"
"Na gut!", seufzte Dani.
"Hm?" Tygran legte den Kopf schief.
"Okay, wir sind Freunde. Jetzt alles gut?" Seine Worte waren zwar ein wenig scharf, aber das schien Tygran nicht weiter zu stören. Dani hätte schwören können er hatte geschnurrt, wie ein Tiger.
"Wirklich?" Seine Augen strahlten förmlich.
"Ich sag's nicht nochmal..."
"Danke, Dani!" Dani hatte beinahe Angst, Tygran würde in aus lauter Euphorie umarmen (oder zerquetschen), aber er tat sich damit ab, seinen Arm kurz um Danis Schulter zu legen. Dani würde es zwar auf ewig bestreiten, aber auch ihm entwich ein kleines Lächeln.
Der Musikunterricht begann fünf Minuten zu spät, die etwas schusselige Musiklehrerin hatte mal wieder den Schlüssel fürs Lehrerzimmer irgendwo liegen gelassen.
"Guten Morgen, guten Morgen. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung!" Frau Simmons lachte angespannt, als sie sich durch die grauen Locken fuhr, ihre übergroße Brille ließ sie wie immer wie eine Fledermaus wirken wie Dani fand. Danach begann auch sofort der öde Vortrag über Dominant-Sept-Akkorde und was man sonst alles mit Noten anstellen konnte. Da Dani jetzt anscheinend Tygrans bester Freund war, war es praktisch seine Pflicht letzterem Notenpapier zu leihen. Und irgendwie war das gar nicht so schlimm.
Wenn er es sich ehrlich eingestand, hatte er Tygrans "Hey, Dani!" die letzten Tage beinahe vermisst. Vielleicht sollte er doch auf Sam hören und anfangen etwas positiver zu sehen. Wie in fast jedem Kurs saßen die beiden in der letzten Reihe und vor allem bei Frau Simmons war es einfach, sich ungestört zu unterhalten. Die Lehrerin bekam eh so gut wie nichts mit. Gelangweilt fing Dani an, seine Schokolade zu essen, wohl wissend, dass Tygran ihn dabei beäugte, sich aber offensichtlich nicht traute zu fragen, ob er etwas abhaben konnte.
"Hier." Mit einem kleinen Gewinnerlächeln brach Dani eine Reihe der Tafel ab und gab sie Tygran.
"Vielen Dank! Ich wollte schon immer wissen was dieses Oreo ist!", grinste er und verschlang alles auf einmal.
"Ihr habt kein Oreo?" Dani zog eine Augenbraue hoch.
"Eyik ist ziemlich abgelegen und ich war noch nie wirklich in einer großen Stadt", Tygran zuckte mit den Schultern.
"Klingt ja noch schlimmer als hier. Aber trotzdem, kein Oreo? Seid ihr da irgendwie rückständig?"
"So könnte man es auch nennen. Handys und Autos sind selten, von diesem WLAN hab ich auch erst vor ein paar Tagen gehört. Die Bezirksverwaltung von Eyik ist 500 Kilometer entfernt, die haben bestimmt vergessen, dass es uns überhaupt gibt."
"Is nicht wahr!" Dani starrte ihn verdutzt an.
"Kein WLAN und keine Autos?!"
"Eyik ist arm, das Dorf hat nie eine Möglichkeit bekommen sich weiterzuentwickeln. Eine sichere Gegend ist es auch nicht", erzählte Tygran relativ unbeeindruckt.
"Alter, echt jetzt?! Warte mal, wie bist du überhaupt hierhergekommen? Und wieso kannst du eigentlich so gut deutsch?", fragte Dani fassungslos, nicht wirklich merkend, wie Tygran sich noch mehr Schokolade abbrach. Als er Dani in die Augen sah und seinen Mund öffnete um etwas zu sagen, wusste er, dass etwas passiert war. Doch Tygran schloss seinen Mund wieder und sah weg. Und mehr fand Dani fürs erste nicht raus. Es war als ob ein dunkler Schatten über Tygran schwebte, der Dani versicherte, dass seine blauen Flecken und die Narbe auf dem Rücken unmöglich von einem Autounfall stammten, vor allem nicht, wenn Autos in Eyik so selten waren wie Tygran behauptete.
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