13. Türchen
by: 2bananas41euro
Nicht grau. Grün.
Grau. Grau und kalt ist dieser fünfte Dezembermorgen. Louis schlingt seinen Schal enger um seinen Hals und vergräbt die kalten, zitternden Hände in seinen Jackentaschen. Er lebt noch nicht lange in London. Erst vor kurzem ist der junge Mann für seinen neuen Job her gezogen. Es ist Louis' erster Arbeitstag. Acht Uhr. Um acht Uhr muss er da sein. Er ist heute Morgen extra eher aufgestanden, um sich in Ruhe seinen neuen Weg zur Arbeit und die Stadt anzuschauen.
Doch viel zu sehen, gibt es hier nicht. Der Himmel ist grau. Die Straßen sind grau. Wahrscheinlich wird die Sonne die Wolken heute nicht durchbrechen.
Alles erscheint ihm hier grau. Dann nähert er sich der Innenstadt. Louis biegt an einer Ecke ab und wäre dabei fast in einen grünen geschmückten Tannenbaum gestolpert. Ab hier ist nichts mehr grau.
Die Dunkelheit wird urplötzlich von zahlreichen Lichtern durchbrochen. Die Kaufhäuser strahlen bunt und sind weihnachtlich geschmückt. Von Laterne zu Laterne sind grüne Girlanden aus Tannenzweigen gespannt und die ganze Stadt scheint auf einmal zu erwachen. Ein riesiger Engel aus Lichterketten schwebt über der Straße zwischen den Häusern. Es fängt an zu schneien. In kindlichem Staunen schaut Louis in die Höhe. Alles leuchtet und glitzert. Sofort denkt Louis an seine kleinen Geschwister. Das muss er ihnen unbedingt mal zeigen. Eine wenig Heimweh macht sich in seiner Brust breit.
Er denkt an die Wintertage mit seiner Familie, die gemütlichen Abende am Feuer, seine nervigen Geschwister, die ihn mit Schneebällen bewerfen. Louis muss lächeln. Die Weihnachtszeit mochte der Doncaster einfach schon immer, und das nicht nur, weil sein Geburtstag an Heiligabend ist. Aber seit wann lässt er sich denn so leicht verzaubern? Wahrscheinlich wurde die ganze Dekoration hier schon Anfang November aufgehängt, sodass die Londoner mittlerweile sicher genervt sind von dem ganzen Kitsch und den Weihnachtsliedern, die überall aus den Läden dudeln. Louis stört das alles nicht. Gut, so lange ist er ja noch nicht hier, aber ihm gefällt die Atmosphäre. Er ist so vertieft darin die Stadt zu bewundern und alle Sinneseindrücke in sich aufzunehmen, dass er fast die Grünphase der Fußgängerampel verpasst hätte. Fokussiert auf das leuchtende Männchen hetzt er über die Straße und rennt auf die andere Seite.
Dort steht, eingequetscht zwischen einem Spielzeugladen und einem Bürogebäude, eine kleine Bäckerei. Durch den großen geschmückten Fensterrahmen kann er einige Personen im Inneren des Ladens sehen. Gerade als die Ampel umschaltet, kommt er auf der anderen Seite an. Louis erkennt einen jungen Mann durch die Scheibe, der ihn ebenfalls direkt anzuschauen scheint.
Leider bemerkt er dadurch die vereiste Pfütze unter seinen Füßen zu spät. Er verliert das Gleichgewicht, rudert verzweifelt mit seinen Armen und knallt rückwärts auf die große Eisfläche. Kurz wird Louis schwarz vor Augen. Die Leute laufen achtlos an ihm vorbei. Er sieht nur noch einen Schatten hinter der Scheibe aufspringen. Louis blinzelt und einen Augenblick später steht ein grauäugiger Mann vor ihm. Seine Sicht ist noch etwas verschwommen und er schaut mit großen Augen herauf. Der Lockenkopf sieht zu ihm herunter und streckt eine Hand aus. Louis umfasst die warmen weichen Finger und wird vorsichtig hochgezogen.
❆ ❆ ❆
Langsam komme ich zu mir. „Oh scheiße!" Meine Füße rutschen erneut auf dem Boden herum, doch der junge Mann legt schnell seine Arme um meine Hüften, um mir Halt zu geben. Ich stütze mich automatisch mit meinen Händen an seinem Oberkörper ab. Warum passiert sowas denn immer mir?
„Holy Shit!" Der Mann vor mir ist verdammt hübsch.
„Mist." Hab ich das gerade laut gesagt?
„Wie wärs einfach mit 'Danke'?", sagt er nur und sieht mich amüsiert an.
Ich nicke. „Oh. Sorry... Ich... Ich meine Danke!" Ich spüre, wie meine Wangen erröten. Herrgott! Wieso bin ich so unsicher?
„Ist bei dir alles okay?", fragt er mit rauer Stimme.
„Ja, geht schon."
Er hält mich immer noch fest, führt mich aber etwas von der Eisfläche weg. Ich erlaube mir meinen Blick über ihn wandern zu lassen. Der hübsche Mann ist größer als ich. Er trägt Boots, eine enge Jeans und nur einen gestrickten Pullover. Scheiße, er hat sich nicht mal seinen Mantel angezogen, als er zu mir raus gerannt ist. Meine Augen gleiten über seine Hände an meinen Hüften, die breiten Schultern, seine längeren braunen Locken hinauf zu seinem Gesicht und bleiben kurz bei seinen Lippen hängen. Dann fängt er meinen Blick mit seinem auf.
And green meets blue.
Nicht grau. Grün. Strahlend grün sind seine Augen. Ich verliere mich in ihnen und vergesse für einen Moment alles andere.
Er blinzelt kurz und schaut verlegen weg. Dann durchbricht er unsere Stille.
„Wie heißt du?"
„Louis."
Er nickt.
„Harry."
Verwirrt sehe ich ihn an.
„Ich. Ich bin Harry."
„Oh. okay."
Was ist denn los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so verpeilt. Der junge Mann, Harry, betrachtet mich kurz.
„Und du hast dir auch wirklich nichts getan?"
Scheiße, nein, ich hab mich wirklich nicht verletzt. Du bringst mich nur ein bisschen aus dem Konzept!
„Nein, geht schon."
Er hält mich immer noch fest. Noch immer hat er seine Hände um meine Hüften geschlungen. Noch immer verweilen meine Hände auf seiner Brust.
❆ ❆ ❆
Schneeflocken tanzen wild um ihre Köpfe herum, Menschen drängen sich zunehmend durch die Straßen und eilen durch die Stadt. Louis und Harry stehen inmitten der Leute. Doch dieser Moment gehört nur ihnen.
❆ ❆ ❆
Ich sehe Harry immer noch in die Augen, da fällt ihm eine Schneeflocke direkt auf die Nasenspitze.
Ohne darüber nachzudenken, nehme ich meinen Finger und wische sie vorsichtig weg, bevor sie zu schmelzen beginnt.
Ein leichtes Lächeln huscht ihm über das Gesicht.
Diese Lippen... Sie können so schön lächeln. Warum sehen die so weich aus? Und so schön geschwungen... Wie wäre es wohl...
Harry fängt an, die von mir bewunderten Lippen zu einem Grinsen zu verziehen. Mein Blick schnellt zurück zu seinen Augen. Bevor ich aber begreifen kann, dass er mich beim Starren erwischt hat, beugt Harry seinen Kopf etwas zu mir herunter. Leicht neigt er ihn zur Seite und senkt seinen Blick. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Scheiße. Er wird doch wohl nicht... Kurz schaut Harry unsicher in meine Augen. Zitternd atme ich aus und fokussiere mich dann aber wieder auf die Lippen des hübschen Mannes vor mir.
Das ist doch verrückt. Ich kenne ihn nicht mal. Bin ich nicht hetero? Hier sind so viele Leute.
Doch in dem Moment als Harry mir die Lippen entschlossen auf den Mund drückt, sind meine Sorgen wie weggewischt und mein Verstand spätestens jetzt komplett ausgeschaltet.
Sanft bewegen sie sich auf meinen. Kurz bin ich überrumpelt, aber dann kann ich kann nicht anders, als zu erwidern. Es fängt an in meinem Körper zu kribbeln. Auch vorhin schon, aber jetzt lässt es sich nicht mehr verleugnen. Das sind wohl die Schmetterlinge, von denen alle immer reden... Und zweifelsohne ist Harry daran schuld!
Es löst ein Gefühl in mir aus, dass ich noch nie zuvor gespürt habe.
Harry löst sich von mir. Fuck... Das war so gut. Ohne weiter drüber nachzudenken, ziehe ich ihn an seinem Pullover herunter und küsse ihn erneut. Scheiß auf die Leute, scheiß aufs hetero-sein. Dann kenne ich ihn eben nicht, dann bin ich eben verrückt. Ich will nur dieses Gefühl zurück. Augenblicklich sind die Schmetterlinge wieder da, schwirren in meinem Herzen und meinem ganzen Körper herum. Harry grinst in den Kuss hinein und auch meine Mundwinkel biegen sich ein wenig nach oben. Er zieht mich näher zu sich. Meine kalten Hände streichen ihm über die heißen Wangen und vergraben sich schließlich in seinen weichen Locken. Meine Lippen sind rau, aber das scheint Harry nicht im Geringsten zu stören. Dann spüre ich eine Zunge an meiner Unterlippe entlang streichen. Ohne darüber nachzudenken, öffne ich meinen Mund etwas. Etwas schüchtern treffen sich unsere Zungenspitzen. Alles kribbelt. Ein paar Sekunden später werden wir mutiger und er verführt mich, sodass ich mich in ihm verliere. Unsere Münder bewegen sich im Einklang. Der liebevolle, sehnsuchtsvolle Kuss wird verlangender.
Hitze durchflutet meinen Körper. Meine Knie zittern leicht, aber das liegt sicher nicht mehr an der Kälte oder dem Eis.
Es ist so aufregend und atemberaubend und doch irgendwie vertraut. Als würden unsere Lippen schon immer zusammengehören.
Eng umschlungen stehen wir da und kosten jeden Augenblick aus.
Plötzlich rempelt mich jemand von hinten an. Und so falle ich geradewegs in die Arme des Mannes, mit den Lippen, die so gut küssen können. „Fast wärst du mir wieder hingefallen.", lächelt er, etwas außer Atem. Gerade will ich etwas erwidern, überlege sogar kurz ihn einfach nochmal zu küssen, doch da schlägt die Glocke eines Kirchturms acht Uhr. „Fuck. Nein... sorry. Ich meine, ich muss los. Scheiße." Genau jetzt hätte ich auf Arbeit sein müssen. Widerwillig löse ich mich von dem grünäugigen Mann. Schnellen Schrittes gehe ich in Richtung meines neuen Arbeitsplatzes. Doch, bevor ich um die nächste Hausecke verschwinden kann, werfe ich noch einen kurzen Blick zurück. Alles was ich sehen kann sind Menschenmengen, die sich den Bürgersteig entlang quetschen. Kein Lockenkopf. Kein Harry. Hab ich das gerade nur geträumt?
❆ ❆ ❆
Louis nimmt sich vor, morgen wieder etwas früher hier lang zu gehen. Er hofft insgeheim, dass niemand auf die Idee kommt den Weg zu streuen. Eventuell rutscht er ja ganz aus Versehen nochmal aus.
Undvielleicht, ganz vielleicht wird der Mann mit den grünen Augen wieder da sein,um ihm auf die Beine zu helfen.
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