Kapitel 4: Der erste Blick
Lavinia:
Wir laufen weiter, bis wir an den See kommen, der den Wald durchtrennt. Einige Wasserelementyks schwimmen jedes Jahr durch den See um zur Treppe zu kommen, die zu den Eingangstoren von Cladis führt. Aber ich bin kein Wasserelementyk und auch kein großer Fan vom Schwimmen. Naomi schon. Allerdings schwimmt auch sie nicht, oder ist bisher zumindest noch nie durch den dunklen See geschwommen. Über den See zu kommen ist die erste Aufgabe, der wir uns jedes Jahr stellen müssen.
„Alle Erstklässlerinnen und Erstklässler zu mir bitte!", ruft die Expertin für Wassermagie ihnen zu und mehrere aufgeregte Kinder stolpern hinter ihr her. Der Regen ist etwas weniger geworden, was für die Überfahrt angenehm sein wird. Den Kindern im ersten Jahr wird es leicht gemacht – sie werden zum Steg gebracht und von Booten zu der Treppe gebracht. Ab dem zweiten Jahr muss man allerdings seinen eigenen Weg finden. Im zweiten Schuljahr ist das am härtesten: Überall sehe ich Dreizehnjährige Jungen und Mädchen die verzweifelt auf das tintenschwarze Wasser starren.
„Bereit?", fragt Naomi mich grinsend, ich nicke ihr zu und hebe meine Hände. Ein sanfter Windhauch fährt über unsere Köpfe in Richtung See und das Wasser vor uns fängt an sich zu bewegen. Naomi hebt jetzt ebenfalls ihre Hände und deutet auf das aufgewühlte Wasser. Ganz langsam fängt sie an, es zu spalten. Hier ist der See noch nicht besonders tief, aber der Grund des Sees ist gewölbt, das heißt es wird immer anstrengender.
„Los gehts!", sagt sie mit zusammengebissenen Zähnen, ihre Arme fangen an zu zittern. Man denkt immer „Yay, lass uns etwas zaubern", aber Magie ist nicht so einfach. Du musst sie erst beschwören und dann kontrollieren.
Das ist extrem anstrengend und auch der Grund dafür, dass ich die Oberfläche des Wassers vorher etwas „zerstört" habe. So war es für Naomi einfacher, die Moleküle zu zertrennen. Wir fangen an zu laufen, hinter uns verbindet sich das Wasser wieder. Der Boden ist schlammig und wir müssen aufpassen, dass wir nicht einsinken. Als wir in der Mitte angekommen sind kann ich den Himmel nur noch als schmalen Streifen sehen. Hier ist der See tief – sehr tief. Links und rechts ragen hohe Wasserwände nach oben, ich zwinge mich, weiterhin nach vorne zu gucken.
Schließlich erreichen wir die Treppe, hinter uns fallen die letzten Wellen zusammen und Naomi lehnt sich erschöpft gegen den steinernen Drachen am Fuße der Treppe. „Das war super!", sage ich aufmunternd. „Komm schon, nur noch die Treppe." „Vor allem ‚nur'", seufzt sie, rappelt sich aber wieder auf und steigt auf die erste Stufe. Die Treppe hat genau 199 Stufen und immer wieder Podeste. Immerhin muss man hierbei keine Magie anwenden, das macht es etwas einfacher hochzukommen. Auf halben Weg fangen die Laternen an. Links und rechts schwirren Lichtpunkte und erleuchten die Stufen vor uns.
Es fängt wieder an stärker zu regnen, auch der Wind frischt auf und trägt die Gespräche von anderen Grüppchen zu uns. „Stopp.", sagt Naomi hinter mir, ich halte an und wir beide gucken nach oben. Stufe 170. Hier knickt die Treppe nach rechts ab, wir stehen auf einem breiten Podest mit Geländer. Hier hat man den besten Blick auf unsere Schule. Es ist ein riesiges Schloss, Türme ragen in den Himmel, an vielen Wänden sind Erker. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich mich schon in den vielen Gebäuden verlaufen habe. Das Schönste ist allerdings die Kuppel – über der Versammlungshalle, dem größten Raum im Schloss, wölbt sich eine riesige Buntglaskuppel.
Allerdings ist sie schon sehr alt, deshalb wurde eine weitere Kuppel aus Stein darunter gebaut. Die ist mit Planeten unseres Sonnensystemens und mit fernen Galaxien bemalt. Wenn man im Versammlungssaal ist, sieht man also nur die bemalte Steinkuppel, von außen sieht man allerdings das wunderschöne Glas. Das ist aber glücklicherweise nicht der einzige Ort mit Buntglas – genauso schön wie die Kuppel ist nämlich einer der Nebengänge, die zur Versammlungshalle führen. Jedes Fenster ist mit dem bunten Glas verziert. Es sieht atemberaubend aus. Manchmal laufen wir sogar einen Umweg durch den Nebengang, nur um das Farbenspiel zu bewundern.
Wir sind klatschnass und sollten wirklich weiterlaufen, also tippe ich Naomi an und wir gehen weiter. Meine Oberschenkel brennen, als wir müde und vom Regen durchweicht oben am Portal ankommen. Die rechte Flügeltür ist offen und wird, genau wie der Weg, von Laternen erhellt. Wir tretten hindurch in die Eingangshalle. Überall tummeln sich Kinder, einige schon in ihren Uniformen. Wir noch nicht, denn wie gesagt – Uniformen sind erst in der Schule erlaubt. „Naomi! Lavinia!", ruft eine der Lehrerinnen uns zu. Sie unterrichtet Gestaltung. „Zieht euch schnell um und dann kommt zum Abendessen! Eure Koffer wurden auf euer Zimmer gebracht, ihr wisst hoffentlich noch, wo es ist?!" Wir nicken und verabschieden uns kurz von ihr. Dann stürmen wir los, allerdings trennen wir uns fast sofort. Es ist nämlich so: Hier werden wir in die vier Elemente unterteilt, mein Element ist Luft, Naomis Wasser. Für den Unterricht oder die Mahlzeiten spielt diese Zuteilung keine große Rolle, aber es gibt getrennte Gemeinschaftsräume und Reperec, ein Spiel, das wir gegeneinander spielen, wird in den verschiedenen Element-Teams gespielt.
Ich erreiche die Tür zum Luft Gemeinschaftsraum und lege meine Hand dagegen. Viele denken immer, Magie hätte eine einheitliche Farbe. Aber das ist nicht so. Jede Magie ist anders! Eine Freundin von mir gehört ebenfalls zum Element Luft und ihre Magie ist violett. Meine ist dunkelrot-türkis. Und in genau diesen Farben leuchtet auch jetzt die Tür auf und ich trete in den Gemeinschaftsraum. Ich liebe es, hier zu sein! Überall stehen Sessel und Sofas, dann gibt es mehrere quadratische Tische mit kleinen Stühlen, an denen viele ihre Hausaufgaben erledigen.
Der Boden wird von einem dunkelrot-goldenen Teppich bedeckt, der das Geräusch meiner Schritte verschluckt, an der Decke hängen glänzende Kronenleuchter. Der Regen hämmert gegen die schmalen Fenster, der Himmel ist mittlerweile so dunkel wie der See. Schnell laufe ich die linke Treppe hoch. Von hier aus zweigen viele Flure ab, ich nehme den zweiten von rechts und stolpere eine schmale Treppe hinunter. Dann stehe ich vor dem Zimmer, dass ich mir mit Naomi teile. Grinsend klopfe ich an, ihr Weg ist kürzer, deshalb ist sie meistens als Erste hier. Sie trägt bereits ihre Uniform und ihren Umhang. Die Uniform ist relativ schlicht, sie besteht aus einem grauen Pullover oder einer grauen Strickjacke, einer weißen Bluse oder einem weißen T-Shirt, einem schwarzen Rock oder einer schwarzen Hose und gegebenenfalls eine graue Strumpfhose. Dann noch schwarze Socken. Die Schuhe darf man sich selbst aussuchen. Das wichtigste ist aber der Umhang. Außen sind sie alle schwarz, aber innen hat jeder sein persönliches Muster, in den Farben seiner Magie. Meine Magie ist wie gesagt dunkelrot-türkis, die Innenseite meines Umhanges ist also in diesen Farben verziert, zusätzlich allerdings noch mit einem goldenen Schimmer und goldenen Fäden und dunkelvioletten Details.
Und dann gibt es noch die Krawatten und Halstücher, die um den Hals geknotet werden. Jedes Element hat eine andere Farbe. Die von den Wasserelementyks ist silbern, von den Luftelementyks golden, von den Erdelementyks schwarz und von den Feuerelementyks bronze.
Ich ziehe mich schnell um und Naomi und ich verlassen das Zimmer um zu der Versammlungshalle zu gehen.
-written by darkred_diary-
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro