Das Buch Halrons - Auf Spurensuche
Das rauschende Fest neigte sich gerade seinem Ende zu, als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Himmel in ein Farbenspiel aus zartem Blaugrau, Lila und Rosé tauchten. Die Feierlichkeiten um die offizielle Krönung Halrons dauerten nun schon zwei Tage und Nächte an.
In dem Bestreben, Celairon von dem abzulenken, was penibelst im Verborgenen vorbereitet wurde, um ihn zur Strecke zu bringen, und auch, um die Zeit zu überbrücken bis der Schlag gegen ihn ausgeführt werden konnte, hatte Jeora vorgeschlagen, im großen Stil zu zelebrieren, was so schnell einstimmig beschlossen ward. Halrons Ernennung zum König von Melith sollte ein unvergessliches Spektakel werden und in den Hintergrund rücken lassen, was Celairon bereits in den ersten Tagen seiner heimlichen Regentschaft an Ungemach gesät hatte.
Nachdem das Königspaar gemeinsam vor die Ratsmitglieder und die Bediensteten des Palastes getreten war und verkündet hatte, dass ihre Abwesenheit der letzten Tage von Komplikationen in Jeoras Schwangerschaft herrührte, diese aber durch kundige Hilfe überwunden werden konnten und sie sich nun wieder bester Gesundheit erfreue, hatte Halron die Einladung zum Krönungsfest ausgesprochen. Er hatte Boten in alle Himmelrichtungen entsandt, um jeden in der Umgebung Befindlichen zu laden, egal welchem Stande man auch angehörte. Damit beabsichtigte Halron, ein unmissverständliches Zeichen zu setzen, dass er ein Herrscher des Volkes sein wollte und nicht nur in Adelskreisen zu verkehren gedachte.
Mit den Organisationskünsten Jeoras, Gondreth' und Caldis', die sich seit der Nacht, da sie die Königin von dem Bannzauber Celairons befreit hatten, eng miteinander verbunden fühlten, war binnen gerade einmal einer Woche eine Feier vorbereitet worden, die niemand jemals vergessen würde.
Nebst erlesenen Speisen und Getränken hatten sich die Massen an Gästen, die, ob nun aus Neugier oder ihrer Furcht wegen, der Einladung nachgekommen waren, an Tanz, Gesang, Poesie und allerlei magischen Illusionen erfreuen können. Sie hatten Zugang zu allen Teilen des Palastes erhalten und waren Zeuge der flammenden Rede geworden, in welcher Halron seine Pläne für den Ausbau Shandurils und seine Visionen eines Reiches, in dem die Stämme nicht mehr länger einzeln, sondern als Einheit agieren würden, mit den Anwesenden teilte. Er war ganz in seinem Element gewesen, Zuversicht und Stärke ausstrahlend, doch auch Wärme und Herzlichkeit. So hatte er jeden für sich gewonnen, genau wie bei seiner Ankunft in Alachit.
Der König hatte mit jedem geplaudert, seinen Gegenübern aufrichtige Lächeln geschenkt und sich so frei und unbefangen gefühlt, dass er beinahe vergessen hätte, was der eigentliche Grund dieses Festes war. Während Celairon ihm nicht von der Seite gewichen war, zum einen, weil es das Protokoll so verlangte, zum anderen, weil er sich sicher war, dass Halron und Jeora etwas gegen ihn planten und das Getümmel dazu nutzen wollten, diskrete Worte mit ihren Helfern zu tauschen, hatte sich das wirklich Wichtige außerhalb der Mauern des Palastes abgespielt.
Celairon mochte so viel lauschen wie er wollte, er würde nichts erfahren, da Halron lediglich über Belanglosigkeiten mit seinen Gästen redete, nie lange bei einer Gruppe verweilte und darauf achtete, sich nicht einem intensiver zu widmen als dem anderen. So gab es keinen Hinweis darauf, mit wem er im Bunde stand.
Voller Befriedigung stellte Halron fest, dass sein Truchsess innerlich schäumte und es ihm zusehends schwerer fiel, sein aufgesetztes Lächeln aufrecht zu erhalten. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was in Celairon vorging. All der Abscheu und die Furcht vor ihrem neuen Herrscher, welche der Alachiter zu säen begonnen hatte, hatten sich binnen wenigen Stunden aus den Köpfen und Herzen der anwesenden Elfen verflüchtigt. Halron hatte sie ausnahmslos für sich eingenommen und ihn hassten sie noch immer, vielleicht sogar mehr denn je. Diese Erkenntnis spiegelte sich nun in den Gesichtszügen Celairons und ließ die Wut auf Halron ins Unermessliche anwachsen.
‚Gut so', dachte der König.
Er wusste, dass sein Stellvertreter seine dunklen Mordgelüste ihm gegenüber im Angesicht so vieler Zeugen im Zaum halten würde. Hier drohte ihm und Jeora keine Gefahr, aber vermeintlich unbeobachtet würde es zu einer Eskalation kommen, dessen war sich Halron sicher und genau das war es auch, was er provozieren wollte.
Während er die letzten Gäste verabschiedete und sich bei jedem persönlich für sein Kommen bedankte, fiel Halrons Blick in einen der ovalen, filigran mit goldenen Blütenranken gerahmten Spiegel an der Wand. Der Elf, dessen Spiegelbild ihm für einen kurzen Augenblick darin begegnete, hatte sich verändert. Er hatte in Abgründe geblickt, die ihm lieber verschlossen geblieben wären und Dinge getan, die er nie für möglich gehalten hätte. Äußerlich war er wieder der strahlende Herrscher, welcher mild und zugleich stark wirkte, doch innerlich war er zerrissen und schämte sich für all die Lügen, die er bereits erzählt hatte und für all jene, die noch folgen würden.
Seinen Kopf zierte ein goldener Reif aus zwei stilisierten Wellen zwischen denen ein einzelner reinweißer Edelstein auf seiner Stirn prangte. Der Stein leuchtete von innen heraus, so wie Elhael, der, wie vorab im Geheimen besprochen, unbemerkt einen Funken seiner Magie in ihn geleitet und auf ewig dort gebunden hatte, als er und die anderen Oberen Halron gemeinsam feierlich vor den Augen aller gekrönt hatten. Der Effekt hatte seine Wirkung auf das Publikum nicht verfehlt, das Aufleuchten des Juwels in dem Moment, da der Reif den Kopf Halrons umschlossen hatte, die Menge in Staunen und Ehrfurcht versetzt. So schlicht die Krone an sich auch war, symbolisierte sie doch eindrucksvoll, welche Hoffnungen man in den Träger setzte. Der König, der über das Meer zu ihnen gekommen war, um mit seinem Licht die Schatten zu bannen. Diese Last drückte schwer auf Halrons Schultern, zumal er wusste, dass ihm dies nicht bestimmt war. Und doch musste er sich dem nun stellen und das Unmögliche wagen.
Als der letzte Gast gegangen war, breitete sich für einen Moment Stille über den Saal aus. Halron schloss die Augen, fühlte Jeora an seiner Seite und hörte ihren ruhigen Atem. Nun würde der heiklere Teil ihres Planes folgen. Er konnte nur erahnen, wieviel Kraft dieser seine Liebste kosten würde und doch strahlte sie so viel Zuversicht und Entschlossenheit aus, ruhte in sich selbst und gab damit auch ihm für einen Moment das nötige Vertrauen, dass alles sich zum Guten wenden würde.
„Das war eine glanzvolle Feier, Euer Majestät", holte Celairons schneidende, vor Ironie triefende Stimme ihn aus seinen Gedanken und zwang ihn, die Augen wieder zu öffnen.
Lustloses Klatschen begleitete Celairons Worte und sein Gesicht war eine Maske eisiger Härte. Es gab keinen Zweifel daran, dass er Halron zutiefst hasste. Erstaunt stellte dieser fest, dass er plötzlich neben all den negativen Gefühlen, die er seinem Erpresser gegenüber empfand, auch noch etwas anderes fühlte. Celairon tat ihm leid. Er würde wohl nie erfahren, warum der Elf, dessen Blick ihn nun voller Verachtung fixierte, zu solch einem Scheusal geworden war, aber Halron war der festen Überzeugung, dass niemand von Grund auf schlecht war und es schmerzte ihn, zu sehen wie kalt und skrupellos sein Gegenüber, durch was auch immer, geworden war. Halron flehte innerlich, nie zu einem Spiegelbild Celairons zu werden, was auch kommen mochte.
„Ja, glanzvoll und ermüdend", erwiderte Halron, den deutlichen Unterton in Celairons Stimme geflissentlich übergehend. „Ich werde mich nun mit meiner Gemahlin zurückziehen und etwas ruhen. Danach werden wir einen ausgiebigen Spaziergang machen. Wir wünschen, nicht dabei gestört zu werden."
In Celairons Augen blitzte etwas auf. Er hatte den Köder geschluckt. Natürlich würde er ihnen folgen und sie dadurch unfreiwillig bei ihrer Suche unterstützen. Das konnten auch seine gekünstelt untertänigen Worte nicht verschleiern.
„Sicher doch, Euer Majestät. Euer Wunsch ist mir Befehl."
In die Schatten der hoch aufragenden, mit Seidentüchern überspannten Bettpfosten der königlichen Schlafstatt gehüllt, wartete Bainon bereits auf Halron und Jeora. Er löste sich erst daraus, als die Tür vollends geschlossen war und der König sich mit einem langen, prüfenden Blick durchs Schlüsselloch versichert hatte, dass niemand ihnen gefolgt war, um sie zu bespitzeln.
Trotzdem bedeutete dieser seinem Getreuen stumm, ihnen schnell in die entlegenste Ecke des Raumes zu folgen, welche sich heimlich von außen durchs Schlüsselloch geworfenen Blicken entzog. Seine Stimme war nur ein gedämpftes Flüstern, als Halron hoffnungsvoll fragte:
„Hast du die neu eingetroffenen Caledhel unbemerkt in der Stadt unterbringen können und sie bezüglich der vorläufigen Vorgehensweise instruiert?"
Bainon nickte und antwortete ebenso leise:
„Ich und die Männer Eledhons haben höchste Vorsicht walten lassen. Uns sind keine Spione Celairons aufgefallen. Im Getümmel der zum Palast strebenden Massen sind wir gar nicht aufgefallen, da wir uns mit dem Strom treiben ließen und uns dann diskret in eine schmale Seitenstraße absetzten, die man auch von Dächern aus nicht einzusehen vermag, weil sie, wie einige hier, von überranktem Weidengeflecht überspannt ist. Die Caledhel sind nun verstreut in einem Umkreis untergebracht, der ihnen gerade noch ermöglicht, sich mental untereinander zu verständigen, ihre Auren jedoch nicht so bündelt, als dass dies Aufmerksamkeit erregen würde."
Halron atmete erleichtert auf. Er klopfte dem jungen Elf anerkennend auf die Schulter und schenkte ihm einen dankbaren Blick. Das Spielfeld war vorbereitet. Nun hieß es, strategisch Zug um Zug vorzurücken und jede Bewegung des Gegners genauestens zu beobachten und zu deuten. Jeora und er würden das Spiel noch heute eröffnen.
Nervosität machte sich in Halron breit. Würde es gelingen, immer genügend Passanten um sich zu haben, so dass Celairon nicht offen gegen sie vorgehen konnte, während sie sowohl nach Antworten suchten, als auch Zeit überbrückten? Sie mussten die geschäftigen Stunden des Tages für ihre Erkundungen in der Stadt nutzen. Im Zweifelsfall würde Bainon ihnen zwar zur Hilfe eilen, aber damit wäre ihr Plan, Celairon zur rechten Zeit zu stellen, zunichte gemacht.
„Es wird alles gelingen. Sei ganz beruhigt, Liebster", wisperte Jeora, die Halrons inneren Aufruhr nur allzu deutlich spürte.
Er zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre Stirn, hielt sie fest umschlungen, bestrebt, ihre Zuversicht vollends zu verinnerlichen. Es stand so viel auf dem Spiel und es gab unzählige Faktoren, die ihnen zum Verhängnis werden konnten.
Was, wenn sie auf die Stelle stießen, wo Celairon seine Liebste mit dem Zauber belegt hatte und die Erinnerung zurückkommen würde? Bestünde die Gefahr, dass ihre Emotionen so in Wallung gerieten, dass die Schattenstimmen sich erheben und für alle sichtbar die Kontrolle über sie übernehmen würden? Nicht auszudenken, welchen Schrecken sie damit verbreiten und was man daraufhin mit ihr tun würde.
Und was, wenn Celairon sich doch nicht so zurückhalten würde wie gedacht, wenn er die Beherrschung verlieren und seine Macht gegen sie einsetzen würde? Vielleicht war auch er dazu bereit, den seidenen Faden, an dem sie beide hingen, zu durchtrennen und zu fallen, solange er sich sicher war, das Königspaar mit sich in die Tiefe zu reißen.
Am meisten jedoch sorgte sich Halron um das rechtzeitige Eintreffen der Gäste aus Alachit, ohne die sein ganzer Plan zum Scheitern verurteilt war. Auch sie wussten nichts von ihrer Rolle in diesem Komplott und so würde es bis in alle Ewigkeit bleiben, wenn das Glück sie nicht verließ.
Es fiel ihm schwer, unbeirrt zu glauben, angesichts all dieser möglichen Komplikationen, aber es blieb ihm wohl kaum etwas anderes übrig, wollte er nicht Gefahr laufen, paranoid zu werden. Ein klarer Kopf und ein wacher Geist waren nun dringender denn je vonnöten.
Bainon räusperte sich diskret. Es war ihm sichtlich peinlich, diesen innigen Moment zwischen Halron und Jeora zu stören, doch etwas lastete auf seiner friedfertigen Seele.
„Majestät, was gedenkt Ihr bezüglich der anhörungsfrei vollziehbaren Todesstrafen zu unternehmen, welche Celairon in Eurem Namen zum Gesetz erhob? Auch wenn ich keinen Augenblick daran zweifle, dass Ihr niemals Gebrauch davon machen würdet, so lässt es Euch doch in einem Licht erscheinen, welches einen Tyrann aus Euch macht."
Der Blick, den Halron ihm zuwarf, da er sich von seiner Gemahlin löste und zu Bainon umdrehte, ließ dem jungen Kundschafter einen Schauer über den Rücken laufen.
„Zweifle an mir, mein Freund", sagte der König kalt, bevor er leise in wärmerem Tonfall fortfuhr, „denn du hast nur bedingt Recht. Dieses Gesetz zur Anwendung zu bringen, wäre bei Leibe nicht meine erste Wahl, aber sollten alle Stränge reißen und unser Plan nicht funktionieren, so will ich mir diesen Ausweg erhalten, um Celairon mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Dann wird er den Tod ohne Möglichkeit zur Rechtfertigung erfahren. Sobald er unschädlich gemacht wurde, auf welchem Wege auch immer, werde ich dieses Gesetz, so wie all die anderen, die er heimtückisch hinter meinem Rücken erlassen hat, außer Kraft setzen. Das schwöre ich dir."
Bainon schluckte schwer. Er fragte sich, ob er an Halrons Stelle genauso handeln würde. War es gerecht, jemanden auf diese Weise zu richten, selbst wenn derjenige dies genauso skrupellos getan hätte? Wer war er, sich anzumaßen über seinen Herrn zu urteilen? Er wusste nur zu gut, welche Gefahr Celairon für ihn und seine Familie darstellte. Bainon entschied sich, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken. Er hatte dem Königspaar die Treue geschworen und daran würde er festhalten. Wenn er seine Aufgabe gewissenhaft erfüllte, würde es nicht dazu kommen, dass Halron sich gezwungen sah, diese martialische Strafe zur Anwendung zu bringen.
So verbeugte er sich nur knapp vor Halron und strebte dann leisen Schrittes dem Balkon zu. Kurz bevor er diesen betrat, drehte er sich noch einmal um und verkündete mit fester Stimme:
„Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, Euch diese Bürde zu ersparen."
Entschlossen erklomm er die Brüstung, spähte in den Hof darunter, um sich zu versichern, dass keiner ihn beim Verlassen der königlichen Gemächer erblickte, und ließ sich dann geschmeidig hinabgleiten.
Jeora und Halron wandelten nun schon seit Stunden durch die Straßen der Stadt, die in ringförmigen Serpentinen rund um den Palastkomplex, der über allem thronte, angelegt worden waren. Wie ein Netz wurden diese von kleinen Gassen durchzogen, durch welche sich Wege abkürzen ließen, wollte man dem Verlauf der breiten Straßen nicht folgen. Nur selten wich das Paar von den Hauptadern ab, um hier und dort in die Kühle einer der schmalen Durchgänge einzutauchen. Ansonsten mieden sie diese, besonders, wenn sie verlassen und so lang waren, dass man das Ende nur undeutlich erkennen konnte, oder sie Biegungen aufwiesen, die nicht einsehbar waren. Sie wollten es unter keinen Umständen dazu kommen lassen, Celairon alleine ausgeliefert zu sein.
Für jeden Außenstehenden musste es so aussehen, als ob die beiden sorglos flanierten, sich an der Pracht der Gebäude erfreuten und ab und an eine Stelle, die augenscheinlich der Ausbesserung bedurfte, genauer inspizierten. Daran war nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, den Elfen, deren Weg sie kreuzten, schien es zu gefallen, dass sich ihr König mit seiner Dame unters Volk mischte. Man begegnete ihnen mit Respekt, doch ohne Furcht, was Halron erleichtert feststellte. Er und Jeora lächelten jedem offenherzig zu und grüßten ein ums andere Mal jemanden namentlich, so sie sich diesem vom Fest entsannen. Das versetzte die Elfen in Entzücken und ließ ihnen deren Herzen förmlich zufliegen. Zwar war dies nicht der Hauptgrund ihres Ausflugs in die Stadt, aber dennoch ein willkommener Nebeneffekt, der Celairon zweifelsohne zur Weißglut trieb.
Sie konnten ihn nirgends entdecken, waren sich jedoch sicher, dass der Alachiter ihnen diskret folgte. Und sie wussten auch, dass dieser ebenso unauffällig von ihrem Spion verfolgt wurde. Bainon überwachte jeden seiner Schritte und achtete auf all seine Regungen, aus denen sich über kurz oder lang Schlüsse ziehen lassen würden, ob sie dem Ort seiner Niedertracht nah waren.
Warum machte er ein Geheimnis daraus? Hatte er doch bereits zugegeben, Jeoras bewusstlosen Zustand herbeigeführt zu haben. Da musste es noch etwas Anderes geben, das er zu verschleiern versuchte.
„Kommt dir irgendetwas bekannt vor? Spürst du vielleicht einen Hauch seines Zaubers im Gefüge der allgegenwärtigen Magie?", fragte Halron leise, während er sich zu Jeora herunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Nein, bisher noch nicht", wisperte diese lächelnd.
Es strengte sie an, permanent ihre Sinne zu schärfen, um etwaigen ungewöhnlichen Schwingungen gewahr zu werden und gleichzeitig den Eindruck eines arglos umherschlendernden Liebespaares aufrecht zu erhalten. Sie erinnerte sich an einige der Häuser, aber es wollten sich keine Bilder von Celairon und ihr an jenem Abend daraus formen lassen.
Fürchtete sie sich vor dem, was die Erinnerung ihr offenbaren würde und verschloss sich ihr deswegen unbewusst? Jeora atmete innerlich tief ein und aus, zwang sich dazu, die Stimme Celairons in Gedanken heraufzubeschwören und seine Gestalt an ihrer Seite zu sehen. Sie waren gemeinsam diesen Weg entlanggegangen, dessen war sie sich sicher. Sein selbstverliebtes, überhebliches Gebaren hatte sie angewidert, seine Nähe ihr Unwohlsein bereitet.
Jeoras Hand ruhte schwitzig in der Halrons. Er spürte ihre Angst, welche sie äußerlich so meisterhaft verbarg, und fuhr ihr beruhigend mit dem Daumen über den Handrücken. Ihre Blicke trafen sich und die Wärme in Halrons Augen, gepaart mit seinem milden Lächeln, sprachen ihr Mut zu.
Sie brachte es fertig, das Treiben um sich herum auszublenden und sich einzig auf die Fetzen dessen zu konzentrieren, was sich ihrer Erinnerung noch nicht entzog. Vor ihrem geistigen Auge wich das gleißend helle Sonnenlicht einer pastelligen Dämmerung, die sie zu jedem anderen Zeitpunkt zur Ruhe gebracht und mit einer süßen Wehmut erfüllt hätte. Nun jedoch breitete sich ein dunkler Schatten über ihr aus, trübte ihre Sicht und saugte allen Farben jegliche Wärme und Leuchtkraft aus, bis diese zu einem alles erstickenden Grau verblassten und die Umgebung in eine amorphe Masse verwandelten, welche Jeora die Orientierung verlieren ließ.
Panik stieg in ihr auf. Sie wollte schreien und wieder durch die Oberfläche ihres Bewusstseins stoßen, der Dunkelheit, die sie umfing, einfach nur entfliehen. Doch etwas in ihr ließ sie verweilen, hielt sie davon ab, sich ihren Ängsten zu ergeben und die fragile Verbindung zu dem, was tief in ihr verborgen lag, abbrechen zu lassen.
Ihr war, als hörte sie Echos von Stimmen, die miteinander rangen. Sie folgte ihnen und spürte alsbald ein Wechselbad aus zorniger, glühender Hitze und boshafter, eisiger Kälte, die den Stimmen entsprangen. Was hatte das zu bedeuten? Jeora war gleichsam verängstigt wie auch fasziniert von den intensiven Gefühlen, welche wie aus dem Nichts auf sie einströmten. Noch bevor sie begreifen konnte, was genau sich um sie herum abspielte, erlosch die Gluthitze von einem Augenblick zum anderen, derweil die Eiseskälte sie wie in ein Leichentuch hüllte. Steif und atemlos verharrte sie, unfähig zu beeinflussen, was sich nun mit aller Gewalt Bahn brach.
Aus den grauen Schwaden schälte sich der Umriss eines Hauses, das den Anfang einer schmalen Gasse markierte. An ebendiesem drängte eine hochgewachsene, silberblonde Gestalt in einem schwarzen Gewand, welches nahezu mit der Dunkelheit, die sie umgab, verschmolz, eine zierliche, hellgewandete Elfe gegen die Wand, die in die Gasse hineinragte. Sie konnte die unbändige Wut der Elfe, aber auch deren Hilflosigkeit, die sich schlagartig in eine tiefe Ohnmacht verwandelte, deutlich spüren. Auch ohne die Gesichter der beiden Gestalten zu sehen, wusste Jeora genau, wen sie dort im Geiste beobachtete.
So rasch und unerwartet wie die Vision sie umfangen hatte, kehrte sie augenblicklich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Obwohl Jeora nicht wusste, wie Halron und sie hierhergekommen waren, verwunderte es sie nicht im Geringsten, dass sie nun an exakt der Stelle standen, die sie soeben innerlich visualisiert hatte.
„Hier ist es geschehen, nicht wahr?", flüsterte Halron.
Jeora starrte auf die Mauer, als könnte sie weitere Erinnerungen dadurch heraufbeschwören, doch der beklemmende Zauber war endgültig verflogen. Gerne hätte sie noch mehr gesehen und Antworten auf Fragen erhalten, die sie quälten, und doch war sie auch froh darüber, Halron wieder an ihrer Seite zu spüren und mit ihm im Sonnenlicht zu stehen.
So war das Einzige, was sie momentan herausbrachte, ein Ja, in dessen Tonfall sich Angst, Hass und der Wunsch nach Vergeltung gleichermaßen widerspiegelten.
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