Ein Stundenplan wie ein Hauself
Es war der erste Morgen des neuen Schuljahrs. Der Sturm der letzten Nacht hatte sich einigermaßen gelegt und so hingen zwar noch dunkle, graue Gewitterwolken an der verzauberten Decke der Großen Halle über unseren Köpfen, ersparten uns aber den Klang von heulendem Wind und grollendem Donner, sowie das grelle Licht der Blitze.
Die Stimmung am Frühstückstisch war etwas getrübt. Vor wenigen Minuten war Professor Flitwick herumgegangen und hatte uns unsere neuen Stundenpläne ausgeteilt. Alfie neben mir seufzte und rührte abwesend in seinem Müsli herum.
Mein sonst so aufgedrehter Freund hatte durch den, von unserem Hauslehrer ausgeteilten Plan, einen schweren Dämpfer in seiner Stimmungskurve erhalten: Bereits heute stand sein Hass-Fach, Geschichte der Zauberei auf der Agenda. Professor Binns, der Geist, der dieses Fach unterrichtete, war nicht nur selber bereits tot, er machte auch einen sterbenslangweiligen Unterricht. Das passte natürlich nicht nur Alfie nicht, aber seine gesprächsfreudige und generell hyperaktive Seele, traf dieser Umstand von uns Ravenclaws wohl am allermeisten.
Auch ich war über meinen Stundenplan nicht übermäßig beglückt. Eigentlich war ich mit meinem Finger erst erfreut die Zeilen entlanggefahren und hatte in meinem Kopf mehr oder weniger begeistert einen grünen Haken nach dem andern gesetzt – aber nur so lange, bis ich an meinem (beziehungsweise Alfies und meinem) Freitag angekommen war. Es war ein schwacher Trost, dass ich dieses Martyrium wenigstens mit meinem besten Freund gemeinsam durchleben konnte – aber vormittags Zaubertränke bei Slytherins fiesem Hauslehrer Professor Snape und nachmittags dann noch einmal ein anstrengender Marsch bis hoch in den Nordturm, wo Alfie und ich unsere ersten Wahrsage-Stunden bei Professor Trelawney haben würden ... das sah nach einem furchtbaren Ende für unsere Woche aus.
Ich hörte ein leises Rascheln und sah, wie Lauren und Jess neben mir, und Emily und Luna Lovegood gegenüber von uns am langen Ravenclaw-Tisch Platz nahmen.
Während Luna, die ich jetzt tatsächlich zum ersten Mal in diesem Schuljahr überhaupt sah, sich nicht lange mit unnötigen Begrüßungsformeln aufhielt und sich hungrig einen Vanillepudding zum Frühstücken heranzog und Emilys und Jessicas Blicke sich sofort begierig in ihren Stundenplänen vergruben, ließ Lauren nur einen angestrengten Seufzer vernehmen, fischte sich wenig enthusiastisch ein Stück Toast vom Tisch und begann lieblos an dessen Rand herum zu kauen.
„Was ist los, Lauren?", fragte Alfie verwundert und erwachte ein klein wenig aus seiner tiefen Frühstücks-Depression.
„Grace?", wollte ich sie intuitiv fragen - doch da ich gerade leider noch dabei war, einen gigantischen Berg heiß dampfenden Rühreis herunter zu schlingen, um mir so meinen furchtbaren Freitag schön zu futtern, kamen bei meiner Freundin von dieser gut gemeinten Frage wohl nur einzelne Ei-Spritzer und ein undefinierbares „Grpphhfffs?" an.
Lauren lächelte traurig, wischte sich beiläufig mit dem Handrücken ein paar glitschige gelbe Bröckchen aus dem Gesicht und begann nun selber sich aus einer goldenen Schale bergeweise frisches Rührei auf ihren Toast zu laden.
Während ich peinlich berührt karmesinrot anzulaufen begann, mich mühte, die in meinem Mund verbliebene Delikatesse möglichst schnell herunterzuwürgen und mich gleichzeitig fragte, wie Lauren es schaffte, sich nach dieser Lama-mäßigen Spuck-Attacke selber noch Rührei aufzutun, ohne sich zu übergeben, hob sich eine von Emilys Augenbrauen, die gerade noch so hinter ihrem Stundenplan hervorschauten.
„Na, das ist doch ganz offensichtlich, Mr. Thompson!", antwortete Em meinem besten Freund an Laurens Stelle in feinster Oberlehrer-Manier und hob tadelnd einen Finger.
„Natürlich ist es wegen Grace – oder auch 'Grppphhfffs' ...", ich konnte praktisch hören, wie sich ein breites Grinsen auf ihre Züge legte, „Die Gute ist immer noch vollkommen durch den Wind, wegen des Wegfalls der diesjährigen Quidditch-Saison.".
„Das kann man wohl sagen!", lachte Jess zu meiner Rechten hinter Lauren, zückte einen dicken Edding und begann, sich akribisch merkwürdig anmaßende Notizen auf ihren Stundenplan zu malen, als sie weitersprach, „Aber Laurie, vollkommen egal was mit Grace los ist, wenn du nicht selber bald anfängst während der Nächte hier zu schlafen, dann wirst du im Nu aussehen, wie eines der vielen perlweißen Schlossgespenster!".
„Wie einer der Geister? Lauren?", fragte Joshua Lewis ungläubig, als er sich gegenüber neben Emily auf die Bank fallen ließ.
Lauren kaute nur unbeteiligt weiter auf ihrem Toast herum, doch als mir jetzt die purpurnen Schatten auffielen, die ihre Augen dunkel unterliefen, ging mir ein Licht auf und ich verstand. Ein Lächeln kroch meine Lippen empor. Joshua und Alfie warfen Lauren immer noch fragende Blicke zu, doch ich hatte das Rätsel bereits gelöst.
„Du hattest gestern im Zug eines der letzten Hefte des japanischen Muggel-Mangas One Piece in der Hand.", sagte ich mit der grüblerisch, wichtig-klingenden Stimme eines schlussfolgernden Detektives, „Diese Reihe kenne ich wie meine Westentasche, es ist quasi unmöglich da ein Finale nicht in eins zu verschlingen!", mit diesen Worten schraubte sich mein detektivischer Finger erst wissend in die Luft und fiel dann schlussfolgernd auf Laurens zerknitterte Züge hinab, „Du bist die ganze Nacht wachgeblieben um weiter zu lesen!".
Lauren lächelte müde, unterdrückte dabei ein herzhaftes Gähnen und widmete sich anschließend, ohne weiteren Kommentar, ihrem angeknabberten Toast.
Alfie und Joshua brachen in Gelächter aus. Für die meisten Zauberer war es völlig unvorstellbar, die Fantasy-Werke eines Muggels als spannend zu bezeichnen. Ich allerdings, der ich unter Muggeln aufgewachsen war, konnte Laurens Begeisterung vollkommen verstehen. Offenbar jedoch, war ich nicht der Einzige, dem es so erging. Luna Lovegood hob ihre Augen von ihrem Pudding und wandte ihren träumerischen Blick Alfie und Joshua zu.
„Von der Fantasie und den Einfällen der Muggel kann man durchaus eine Menge lernen.", sagte sie in absolut ernstem Tonfall, „Erst neulich hat mein Daddy sehr wichtige Inspirationen für seine aktuellen Forschungen aus einem Muggel-Magazin gesammelt.".
Lunas Worte waren an aufrichtiger Überzeugung kaum zu übertreffen, doch ich spürte, wie die düstere Stimmung, die sich durch Graces Abwesenheit, Laurens Müdigkeit und Alfies Missfallen gegenüber seinem Stundenplan angestaut hatte, sich mit einem Schlag von uns löste. Denn als Reaktion auf Lunas Worte, schraubten sich Emilys Augenbrauen hinter ihrem Stundenplan in luftige Höhen, Jess musste ihr Gekritzel unterbrechen, um sich eine Hand vor den Mund zu pressen und ein Kichern zu unterdrücken – wobei sie sich mit ihrem Edding galant die Hälfte eines geschwungenen Schnurrbartes auf die Wange zeichnete und in Alfies und Joshuas Gesichter trat eine milde Note der Nachsichtigkeit.
Werter Leser, an dieser Stelle unterbrechen wir dieses muntere Geplänkel, da Luna gerade dazu ansetzt, uns alle in eine sterbenslangweilige Diskussion über Placeboeffekte pharmazeutischer Zaubertränke zu verwickeln. In meinem, wie in Eurem Interesse, spule ich also etwas vor. Damit Ihr aber trotzdem die erfrischenden Kleinigkeiten unseres restlichen Frühstücks genießen könnt, stellt Euch die folgend geschilderten Ereignisse einfach in zehnfacher Geschwindigkeit vor:
Luna tut ausgiebig die neusten „Erkenntnisse" ihres Vaters Xenophilius Lovegood kund ..., dass die Zaubertränke-Industrie nur eine große Abzocke des gewöhnlichen Magiers ist, wie wichtig Gänseblümchen für den Bestand von heilenden Werwolfs-Zahn-Talismanen sind und so weiter ... das Übliche bla bla ...
Ich, der ich die entsprechende Ausgabe des Klitterers im Hogwarts Express schon gelesen habe, werfe ab und an ein paar schlaue Bemerkungen ein und ernte dafür die dankbaren Blicke meiner Freunde – die so der Diskussion mit Luna entgehen können.
Jess indes, ist in einen kleinen, aber intensiven Kampf mit Emily verstrickt, die sich quer über den Tisch geworfen hat, um zu verhindern, dass Jessica sich den unvollendeten Edding-Schnurrbart risikoreich aus dem Gesicht hext.
Alfie seinerseits hat seinen Stundenplan weitestmöglich entfernt in seiner Schultasche verstaut, schiebt sich diverse Marmeladenbrote hinter die Kau-Luke und lenkt mich gelegentlich vom vielschichtigen, aber keineswegs tiefsinnigen Gespräch mit Luna ab.
Josh begrüßt derweil die ankommenden Daniel White und Ethan King, die sich zu uns gesellen. Nachdem die beiden mich mitleidig gemustert und sich ein gutes Stück entfernt von Luna niedergelassen haben, startet zwischen ihnen und Joshua eine hitzige Debatte darüber, welcher der Siebtklässler Ravenclaws wohl am geeignetsten dazu wäre, als Hogwarts-Champion am Trimagischen Turnier teilzunehmen.
Zehn Minuten später – unser Frühstück ist gegessen und die morgendlichen Debatten sind mit den grauen Wolken am Himmel davongetragen worden – machte sich unsere eingeschworene Gemeinschaft auf den Weg aus der Großen Halle, hinauf in unser Geschichte der Zauberei Klassenzimmer. Wir waren immer noch ohne Grace Williams unterwegs, hatten dafür aber alle zu unserem gesprächigen Selbst zurück gefunden.
Während Jess, immer noch mit Edding im Gesicht beschmiert (Emily hatte ihre kleine Auseinandersetzung gewonnen), sich von Lauren ein paar ihrer Comic-Hefte ausleiht (zweifelsfrei um sie auf Runen und eigenartige Schriftzeichen zu überprüfen), Daniel und Emily schnell die wichtigsten Hexenverbrennungen des 12. Jahrhunderts wiederholen und Josh und Luna eifrig darüber streiten, ob Fred Weasley oder Albus Dumbledore ein besserer Gast für Joshs erste Podcast-Folge wären, trotten Alfie und ich ein kleines Stück hinter den anderen her.
„Ich habe unseren Freitag gesehen, Luke.", murrte mein bester Freund düster, als hätte er meine Gedanken vom Frühstück endlich gelesen, „Ich weiß, das wird ganz schön hart werden, erst dieser schmierige Snape und dann noch Wahrsagen ... ich habe echt ein paar furchtbar ätzende Dinge über diese alte Fledermaus Trelawney gehört ... trotzdem, wenn wir Binns, den Spinner, gleich hinter uns haben, dann mache ich drei Kreuze.".
Ich nickte nur stumm. Irgendwie hatte ich das Bauchgefühl, dass Alfie vor Wahrsagen noch gar nicht genug Abscheu empfand. Aber da es nur so ein Gefühl war, ließ ich meine Vermutung vorerst unerwähnt und stellte ihm stattdessen eine andere Frage, die mir durch den Kopf ging:
„Meinst du, Snape wird uns wieder genauso viele Haus-Punkte abziehen, wie die letzten Jahre?".
Er runzelte fragend die Stirn.
„Sag es bitte nicht Grace.", fuhr ich deshalb vorsichtig fort, „Aber jetzt, wo die anderen Häuser uns in der Hauspunktewertung nicht mehr durch Quidditch-Siege davonziehen können, hatte ich eigentlich gehofft, dass wir in diesem Jahr gute Chancen auf den Hauspokal hätten.".
„Den Hauspokal ... da hast du ja einiges vor, dieses Jahr.", schmunzelte er, bevor seine Züge in ein gequältes Lächeln übergingen, „Ich nehme schwer an, dass der gute alte Professor Severus Snape uns so manchen Punkt aus der Tasche leiern wird ... und dann noch die vielen Hausaufgaben, mit denen er uns Freitags auf der Zielgeraden noch das Wochenende versauen kann ...! Als ob wir nicht ohnehin schon einen Stundenplan, wie ein Hauself hätten!".
Ich lachte und spürte dann, wie mich jemand von hinten anrempelte und wüst an uns vorbei stürmte.
Herzschläge später waren es die lockigen Haare Hermine Grangers, die krisselig durch mein Gesicht wischten, bevor das Gryffindor-Mädchen wütend weiter stakste.
„Wer hat der denn ein Drachen-Ei ins Nest gelegt?", fragte Alfie verwundert, bevor wir uns schulterzuckend zu unserem Klassenzimmer aufmachten.
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