2. Kapitel
Ausweichen oder Verstecken war nicht mehr möglich. Es sei denn, ich sprang hinter die opulente Blumenvase neben mir. Da ich jedoch leider bezweifelte, spontan schrumpfen zu können und ich die Konsequenz – verschüttetes Wasser quer über die Dielen, weil ich nicht in den Spalt passte – leider selbst würde bereinigen dürfen, verscheuchte ich diesen Einfall.
Die beiden Herren befanden sich nahe dem Fenster. In einen erkannte ich sofort den ältesten Sprössling meines Dienstherrn. William Henry Roychester, der Viscount Feyrton. Er war unverkennbar. Sein rotblondes, ordentlich gescheiteltes Haar verriet ihn. Die Fliege um seinen Hals war gelockert. Er lehnte halb am Fenstersturz, die Beine überschlagen und musterte mich mit einem Anflug von Überraschung. »... dass du mir unbedingt alles über diesen neuen Dozenten berichten musst«, beendete er seinen Satz. Dabei blieb eine fragende Stille zurück.
Ich sollte wohl aus Ermangelung irgendwelcher Alternativen sofort den Blick senken. Mich abwenden. Mich der abwegigen Hoffnung hingeben, der Boden würde sich auftun und mir Obhut gewähren.
Doch wie war das mit dem Reiz des Verbotenen? Mit dem Kind, dem man eine Dose Plätzchen vor die Nase stellte, die es nicht essen durfte? Betty war das perfekte Beispiel dafür. Wann immer ich versucht hatte, ihr Herumstreunen zu ihrem eigenen Wohl zu unterbinden, war es nur schlimmer geworden.
Gerade in diesem Augenblick verstand ich sie. Wie hätte ich dem zweiten Mann meine Aufmerksamkeit versagen können, wo er keine drei Schritte von mir entfernt war? Da ich seinen Blick doch so überdeutlich auf mir spürte?
Er saß auf dem Fenstersims, seine Füße baumelten herab. Kräftige Arme ragten unter hochgekrempelten Hemdsärmeln hervor, die Weste darüber trug er offen. Das Halstuch musste er sich kürzlich abgebunden haben, denn er hielt es in Händen. Stechend intelligente Augen fingen meinen Blick, hielten ihn, obwohl alles in mir schrie, dass ich endlich aufhören musste, mich wie eine Närrin zu verhalten.
Sonnenlicht fing sich in seinem dunklen Haar und ließ es glänzen. Es musste fast so schwarz sein wie mein eigenes. Eine Narbe teilte seine rechte Braue. Sie sah aus wie eine verheilte Schnittverletzung.
Verdammt Florence, das hier könnte dich deine Stellung kosten!
Der Gedanke katapultierte mich unsanft zurück in die Gegenwart. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, um mich zu sammeln. Wie musste ich mich jetzt verhalten? Was war angemessen? Musste ich etwas sagen? Sollte ich mich entschuldigen?
Ich entschied mich dagegen. In erster Linie, weil ich meiner Stimme nicht weit genug über den Weg traute, dass sie nicht brechen würde. Im schlimmsten Fall würde mir gar kein Ton über die Lippen kommen. Kurzentschlossen knickste ich, zog den Kopf ein und wollte mich gerade abwenden, als –
»Ich würde meinen, wir wurden uns bislang nicht vorgestellt.«
Mir wurde flau im Magen. Ich presste mir eine Hand gegen den Bauch. Das enge Korsett schnürte mir die Luft ab. »Verzeihung, Sir?« Natürlich musste ich mich räuspern. Und natürlich klangen diese zwei Wörter wie die Laute einer Maus.
»Dein Name. Ich würde gern deinen Namen erfahren.«
Sein Tonfall ließ nicht erahnen, welches Interesse er mit der Frage verfolgte. Der tiefe Bariton ging mir durch und durch und löste ein Gefühl in mir aus, das ich noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Mein schlimmster Albtraum wurde wahr. Ich senkte den Kopf noch etwas weiter, um die aufquellenden Tränen zu verbergen, die sich durch ein stetiges Kribbeln in der Nase ankündigten.
»Mein Name ... mein Name ist Flo.« Dabei klammerte ich die Finger fest in den Stoff meines Rocks. Am liebsten hätte ich die Arme um mich geschlungen. Was tat ich jetzt? Würden sie Betty erlauben zu bleiben? Es kam mir schäbig vor, aber ohne sie würde ich es schneller zurück nach London schaffen, und vielleicht würde es mir gelingen, für ein paar Pence bei den Waschfrauen anzuheuern. Oder ich musste in eins der Arbeitshäuser. Allein die Vorstellung dessen ließ mich erzittern.
»Flo. Ist dies dein vollständiger Name?« Das abrupte Geräusch von Schuhen, die auf Parkett landeten. Es musste der Freund des Viscounts sein, der gerade von der Fensterbank gesprungen war. »Es klingt wie eine Abkürzung.«
»Das ist richtig, Sir.« Ich schluckte angestrengt und beschloss, dass sowieso bereits Hopfen und Malz verloren waren. Dieses Gespräch dürfte überhaupt nicht stattfinden. Ich hätte die Bibliothek gar nicht erst betreten dürfen, hätte einfach den Wäschekorb nehmen und zurück an die Arbeit gehen sollen. Jetzt sollte ich meinen Rauswurf wenigstens mit Würde akzeptieren. Also hob ich den Kopf, erwiderte den Blick mit einer Ruhe und Standfestigkeit, die ich eigentlich nicht verspürte. »Es ist eine Abkürzung von Florence.«
Der Dunkelhaarige nickte und sah über die Schulter hinweg zu Lord Feyrton. Der kurze Augenblick, in dem er mich aus seinem Fokus entließ, bescherte mir eine Atempause. Sie dauerte genau so lange an, bis er das Wort ergriff. Was beinahe sofort war. »Mir hat sich noch nie erschlossen, wieso die Namen der Diener durch Abkürzungen verunstaltet werden.«
Der Viscount zuckte die Achseln. Seine Miene offenbarte einen Ausdruck der Langeweile, als er sich einen nicht existenten Fussel von der karierten Hose strich. Sobald er den Mund öffnete, ahnte ich, dass er etwas Herablassendes sagen würde.
Leider war meine Zunge schneller als mein Verstand. »Weil es einfacher ist, Sir.« Kaum war mir der Satz entschlüpft, hätte ich mir am liebsten die Hand vor den Mund geschlagen. Wenn ich dachte, es ging nicht schlimmer, kam von irgendwo mein lockeres Mundwerk daher. Die Frage war nicht an mich gerichtet gewesen und somit hätte es nicht an mir sein dürfen, sie zu beantworten. Das wusste ich. Rasch schob ich eine Entschuldigung hinterher. »Es tut mir leid, Sir. Ich wollte Euch nicht ins Wort fallen.«
Schweigen antwortete mir.
Mir wurde bang, und der Wunsch, mich einfach umzudrehen und zu verschwinden, wuchs und wuchs. Weitere Entschuldigungen lagen mir auf der Zunge. Ich sprach keine davon aus. Dass die Miene des Dunkelhaarigen undeutbar blieb, trug wahrlich nicht zu meiner Beruhigung bei.
Wer er wohl war? Es bestand durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zum Earl of Calcott, stellte ich fest. Besonders der Zug um seine Lippen und das Grübchen an seinem Kinn. Ich konnte nicht ausschließen, dass er des Viscounts Bruder war. Immerhin arbeitete ich längst nicht lange genug hier, um alle Familienmitglieder zu kennen.
Zu meiner großen Erleichterung beschlossen die beiden Männer nach einigen schweigsamen Sekunden, über meinen Einwurf hinwegzusehen. Der Viscount sprach zuerst und beantwortete damit meine unausgesprochene Frage: »Pass auf, dass du Mutter gegenüber keine dieser Allüren äußerst, Elijah. Sie könnte recht –«
»Wenig erbaut sein, ich weiß.« Ein düsteres Lächeln legte sich über Elijahs Züge, und er wandte den Blick mir zu, als könne er es nicht ertragen, den anderen Mann länger anzusehen. »Nun, Florence, ich bin sehr erfreut darüber, deine Bekanntschaft gemacht zu haben.« Er streckte eine Hand aus und unweigerlich spannte ich mich an. Meine Augen weiteten sich. Unmöglich konnte er –
Ob er meinen Schrecken nun bemerkt und richtig interpretiert hatte oder nicht, er überlegte es sich anders. Die Hand mit dem silbernen Ring daran sank herab, zur Faust geballt.
»Sicher halten wir dich von der Arbeit ab.« Ein nachlässiges Wedeln mit der Hand und ich war entlassen. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Hastig, ehe er es sich anders überlegen konnte, knickste ich und wandte mich ab. Meinen Rock hob ich ein wenig vom Boden, damit ich nicht über den Saum stolperte. Das fehlte mir gerade noch – ein Sturz vor ihren Augen. Sie würden mich für ungeschickt halten und die Milde, die sie trotz meiner wiederholten Verstöße gegen die Etikette hatten walten lassen, wäre dahin. Denn wer wollte ein Dienstmädchen, in dessen Reichweite sämtliche Gegenstände Gefahr liefen, zu Bruch zu gehen?
»Manchmal glaube ich, dir bekommt das Studentenleben nicht besonders, Bruderherz«, hörte ich den Viscount noch sagen, kurz bevor ich um die Ecke bog. Falls Elijah antwortete, tat er es so leise, dass es nicht bis zu mir drang.
Es fiel mir schwer, nach diesem Zwischenfall wieder an meine Arbeit zurückzukehren. Meine Konzentration wollte mir immer wieder entgleiten und nachlässig, wie ich war, hätte es mich nicht gewundert, wenn ich am Ende des Tages mindestens eins der teuren Trinkgläser aus der Vitrine im Salon auf dem Gewissen gehabt hätte. Doch wie durch ein Wunder blieb jedes einzelne davon heil und fand entstaubt und poliert den Weg zurück an seinen angestammten Platz.
Margaret, genannt Peggy und das zweite Hausmädchen im Calcott'schen Haus, in deren Gesellschaft ich den gesamten Nachmittag verbrachte, entging meine Zerstreutheit völlig. Sie plapperte munter vor sich hin, während wir nach dem Abendessen das Geschirr im Esszimmer einsammelten, und war vollkommen zufrieden mit meinen nur gelegentlich eingestreuten Lauten der Zustimmung.
Lediglich die Information, dass Lady Alice, die einzige Tochter des Earls of Calcott, beim Frühstück mit Abwesenheit geglänzt hatte, ließ mich kurz aufhorchen. Vermutlich war sie es also gewesen, um deren unfreiwillige Bekanntschaft ich knapp herumgekommen war, nur um dann den beiden ältesten Söhnen in die Arme zu stolpern. Peggys beiläufigem Kommentar nach zu schließen, war Lady Calcott über das Fehlen ihrer Tochter nicht erfreut gewesen, habe es jedoch mit stoischer Miene ertragen und kein Wort darüber verloren.
Blieb die Frage, wem ich im Flur begegnet war. Wirklich einer Fee? Oder konnte es sich um den kleinen Edward Davis gehandelt haben? Hatte er ebenso wie ich Reißaus genommen, weil er Lady Aliceʹ Schluchzen vernommen hatte?
»Hach, was würde ich dafür geben, einen Tag lang wie sie zu sein«, sagte Peggy, als auch der letzte Teller ordentlich gestapelt im Speiselift stand, und riss mich damit aus meiner ziellosen Grübelei. Achtsam strich ich die letzten Falten der cremefarbenen Tischdecke glatt, die wir soeben gegen die alte getauscht hatten. Ich musste nicht fragen, wen sie mit sie meinte. Mir war klar, dass Peggy auf unsere Lohngeber anspielte. Sie drehte sich um die eigene Achse und umfasste in einer Geste mit weit ausgestreckten Armen den gesamten Salon mit seinen Stuckverzierungen, edlen Teppichen und Gemälden. »Dann würde ich den ganzen Tag nur herumsitzen und tun und lassen, was ich für richtig erachte.«
Ich lächelte verhalten. »Sie würden dich als alte Jungfer betiteln.«
»Das tun sie doch auch so.« Peggy wandte sich zu mir um. Ihre Wangen hatten einen Hauch Farbe bekommen, doch ich kannte sie bereits gut genug, um es nicht als Verlegenheit oder Ärger ob meiner Anspielung auf ihr Alter fehlzudeuten. Vielmehr war es dieser Ausdruck, den sie immer bekam, wenn jemand auf ihre Frivolität anspielte. Das Hausmädchen war zehn Jahre älter als ich und betonte immer wieder, wie wenig sie von gesellschaftlichen Normen und Konventionen hielt. Für sie bedeutete ihre Arbeitsstelle im Calcott'schen Haus eine unvergleichbare Freiheit, die sie nicht wie so viele vor ihr durch eine Heirat aufgeben würde. »Aber schau –« Theatralisch wedelte sie mit der Hand, streckte den Rücken durch und reckte das Kinn. Dabei tat sie einige tänzelnde Schritte durch den Raum. »Wenn ich eine von ihnen wäre, würde ich mich jetzt hier hinsetzen, um meine schmerzenden Beine von mir zu strecken.«
»Deine Beine würden kaum schmerzen«, kommentierte ich und wackelte selbst ein wenig auf der Stelle herum. Ich wusste, von welchem Schmerz sie sprach. In meinen ersten Tagen hier hatte ich mich in den frühen Morgenstunden kaum rühren können, zu sehr ziepten meine Glieder und protestierten gegen jede Bewegung. Im Laufe der Zeit war es besser geworden, und doch würde ich mir nachher die Füße massieren müssen, um morgen nicht das Gefühl zu haben, in Nagelschuhen zu laufen. Eigentlich ein Grund mehr, uns mit der Arbeit ranzuhalten. Bevor wir zu Bett gingen, mussten wir noch eine Handvoll Aufgaben erfüllen, die uns sicher mindestens zwei Stunden in Atem halten würden.
Doch Peggy machte keine Anstalten, ihr kleines Schauspiel zu beenden. Stattdessen ließ sie ihren Worten von zuvor Taten folgen, indem sie sich auf den Platz der Lady Calcott niederließ. Sie tat es anmutig und voller Eleganz. »Ich würde mit diesem Glöckchen hier klingeln.« Eine Hand gehoben, schüttelte sie es imaginär und tat, als lausche sie seinem Klang hinterher. »Und alle würden kommen, um mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.«
»Du solltest das nicht tun.« Unbehaglich warf ich einen Blick zur Tür, die lediglich angelehnt war und durch die jederzeit jemand hereinkommen konnte. Bei meiner heutigen Glückssträhne wäre es garantiert wieder der Viscount, um auch ja sicherzugehen, dass er sich dieses Mal wirklich gestört fühlte. Oder der andere. Elijah. Um das Schaudern, das mich beim Gedanken an den Vormittag überlief, zu überspielen, sagte ich: »Wir sollten hinunter in die Küche gehen.«
»Das sollten wir«, verkündete Peggy mit einem Seufzen, lehnte sich konträr dazu jedoch in ihrem Stuhl zurück. Dabei löste sie ihr Häubchen so weit, dass es ihr auf die Schultern rutschte und ihr Haar mit den einzelnen grauen Strähnen enthüllte. »Du bist immer so ernst, Flo.«
»Manchmal ist es mir ein Rätsel, wie du deine Stelle so lange behalten konntest«, murmelte ich trocken und verharrte steif an meiner Position nahe der Tür. Wie war das? Wir hatten selten Zeit für uns? Nun, Peggy demonstrierte gerade das Gegenteil.
Sie lachte. »Tränen, Schweiß und viel harte Arbeit.« Dann zupfte sie an einer der grauen Strähnen. »Die hier habe ich nicht grundlos. Aber Mrs Beaton mag mich und schätzt meine Qualitäten. Sie weiß, dass wir auch nur Menschen sind.«
Das wagte ich ernsthaft zu bezweifeln. Denn war es nicht eine elementare Eigenschaft des Menschseins, Fehler zu machen? Eben jene Fehler, von denen jeder der Angestellten fürchtete, sie zu begehen?
Meine Zweifel standen mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Peggy zuckte unbekümmert die Schultern. »Schau, sie hat ein weiches Herz. Oder wieso glaubst du, wurde deine Schwester mit dir eingestellt?«
»Diese Entscheidung obliegt allein Mrs Webster, was hat Mrs Beaton damit zu tun?«, schoss ich zurück und kämpfte darum, mir ihren lockeren Tonfall nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Ich mochte es nicht, wenn jemand auf diese Art über Betty sprach, als hätte sie es nicht genauso verdient wie wir, hier zu arbeiten. Als könnte sie weniger leisten.
»Mrs Beaton teilt die Aufgaben auf, Flo«, erklärte Peggy geduldig, und ich hasste die Nachsicht, die darin mitschwang. »Deine Schwester –«
»Meine Schwester«, fiel ich ihr eisig ins Wort, »sorgt hier genau wie alle anderen für ihren Lebensunterhalt und arbeitet hart dafür. Sie verdient es nicht, wenn man von oben auf sie herabschaut.«
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