12 | ava
Wortlos schaue ich auf unsere verflochtenen Hände auf dem Tisch, während mir eine angenehme Wärme im Magen aufsteigt bis hin zu meinen Wangen. Wann ist das passiert? Wir wollten doch nur im Café etwas trinken und jetzt fährt Noahs Daumen sanft über meinen Handrücken, hinterlässt dabei ein wohliges Kribbeln.
»Ich bin halt anders, als du denkst.«
Ja, denke ich mir und nicke gedanklich, du bist wirklich anders, als ich dachte.
Von diesem Volleyballspieler, der im höchsten Maße von sich selbst überzeugt ist, ist nichts mehr übrig. Jetzt erkenne ich nur noch den sechsjährigen Nachbarsjungen wieder, mit seinem schüchternen und gleichzeitig hoffnungsvollen Blick. So hat er mich damals schon immer angeschaut, als würde ich all seine Probleme lösen.
Die Zeit scheint stillzustehen, alle Geräusche im Café sind verstummt. Es sind nur noch wir beide, die gerade im Hier und Jetzt existieren. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals mit Noah Carter hier sitzen und Händchen halten würde. Vor ein paar Wochen hätte ich mich sicher bei diesem Gedanken eher mit einem Seil von einer Klippe gestürzt, als mit ihm hier zu sitzen.
Aber jetzt ... jetzt fühlt es sich richtig an. Einfach nur perfekt. Als sollte ich gar nicht woanders sein und jeder Schritt, jeder Satz in den letzten Wochen würden nun einen Sinn ergeben.
Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne und kaue drauf herum. Dennoch geistert eine wichtige Frage in meinem Kopf herum. Ich muss es wissen, ohne eine Antwort darauf kann ich hier nicht weitermachen. Es zerreißt mich fast, so sehr brennt mir die Frage auf der Zunge.
Für einem Moment öffne ich meinen Mund, schließe ihn jedoch wieder. Wie soll ich die Frage formulieren? Wird alles nach hinten losgehen und Noah sich erneut in seinem Schneckenhaus zurückziehen?
So, wie er es immer macht, wenn ihm etwas zu viel wird.
Unbewusst wird mein Griff um Noahs Hand fester, als hätte ich Angst, dass er sie loslassen und das Weite suchen wird.
»Hast du mich damals erkannt?«, frage ich ihn schließlich und halte die Luft an, als er mich verwirrt anblinzelt.
»Was meinst du?«, fragt er langsam und ich sehe in seinem Blick, dass er wirklich keine Ahnung hat, wovon ich rede. Daher fasse ich mir ans Herz und erkläre ihm alles.
»Als ich dir damals im Flur ›Hallo‹' gesagt habe und du mich nicht einmal angeschaut hast«, flüstere ich. »Hast du mich da erkannt?«
Noch immer scheint er verwirrt zu sein, doch langsam klärt sich sein Blick und seine Augen werden ein Stück größer. Dann schlägt er seine Lider nieder und betrachtet mit größter Anstrengung einen Krümel auf dem Tisch. »Im ersten Moment nicht ... aber im Zweiten«, murmelt er leise und seufzt.
Es ist still zwischen uns, man hört nur das Rauschen der Kaffeemaschine hinter dem Tresen und die gemurmelten Bestellungen der anderen Gäste. Bekommen die anderen um uns herum mit, was für ein schweres Gespräch gerade geführt wird?
»Wolltest du nicht mit mir reden oder habe ich etwas –«
»Ich hatte Schiss!«, unterbricht er mich sofort, ehe ich meinen Satz vollenden kann. Ein gequälter Ausdruck legt sich auf seine Gesichtszüge und man merkt, wie er verzweifelt nach den passenden Worten sucht. »Ich war einfach so überfordert, als du vor mir standst. Mit diesem perfekten Lächeln, den leuchtenden Augen ... als wäre ich dein verschollener Freund gewesen.«
Mein Bauch schlägt Saltos, während Noah redet. Er hat wirklich so über mich gedacht? Ich nehme jedes Wort, welches Noahs Lippen verlässt auf, halte es in meinem Inneren ganz fest, behutsam, als könnte es plötzlich zerbrechen. Eine Wärme umschlingt mich – nimmt mich in den Arm.
»Damals, als wir noch nebeneinander gewohnt haben, habe ich mir jedes Mal die Frage gestellt, wieso du überhaupt mit mir spielst. Wieso du dich mit jemandem wie mir abgibst. Ich war doch immer der Junge mit den kaputten, dreckigen Klamotten. Der immer nach einer Müllkippe gestunken hat.« Die letzten Worte spuckt er regelrecht aus und verzieht weiterhin den Mund zu einer Grimasse.
Zu hören, wie er sich selbst mit den Worten niedermacht, tut mir weh.
»Du warst mein bester Freund, Noah. Und plötzlich warst du weg.«
»Ehrlich?«
»Ja.« Ich blicke ihm tief in die Augen. Wann ist unser Treffen plötzlich in dieses emotionale Gespräch abgerutscht? Jedoch nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und gehe den nächsten Schritt. Die nächste große Frage, die mir auf dem Herzen liegt. »Was ist passiert? Du warst plötzlich weg. Ich konnte mich nie verabschieden.«
Noah seufzt zittrig und ich merke, wie seine Handfläche anfängt, feucht zu werden. Er hat aufgehört, mit dem Daumen über meinen Handrücken zu streichen, und schaut erneut mit großer Anstrengung auf den Tisch. Ich würde jetzt alles dafür geben, um zu wissen, was er gerade mit sich ausmacht. Was für Gedanken in seinem Kopf herumschwirren, was für Gefühle er spürt. Einfach alles. »Gott, es ist mir so peinlich ...« Er lacht und es klingt mehr verzweifelt als fröhlich.
Mein Herz schlägt wie wild gegen den Brustkorb. Habe ich ihn zu weit gedrängt? »Du musst nicht ... tut mir leid.«
»Nein.« Vehement schüttelt er den Kopf und wirft mir ein sanftes Lächeln zu. »Es ist okay. Ich kann ja nicht ewig davon laufen, oder? Meine Eltern waren ... sind Messis. Ich bin zwischen Müll und viel Gerümpel großgeworden. Ich habe keine neuen Klamotten bekommen und gewaschen wurden sie auch zu selten. Sie hingen jeden Tag mit einer Flasche Bier auf der Couch und sagten mir tagtäglich, dass ich Schuld an dieser Situation habe. Dass ich sie in dieses Loch getrieben habe, und dankbar sein solle für ein Dach über dem Kopf.«
»Ich ... ich wusste nicht ...«
»Du warst ein Kind, Ava, niemand hat es gewusst. Ich habe nichts gesagt. Ehrlich gesagt hatte ich mich damit abgefunden. Das Mobben von anderen Kindern und die Sprüche meiner Eltern. Eines Nachts stand plötzlich das Jugendamt mit der Polizei vor der Tür. Sie haben von jemandem einen Tipp bekommen. Ich weiß nicht von wem ... aber sie haben mich mitgenommen und meinen Eltern das Sorgerecht entzogen. Meine Tante wurde ausfindig gemacht und sie hat mich aufgenommen. Ich war so froh, endlich aus diesem Haus zu verschwinden, das Einzige, was ich vermisst habe, war deine Freundschaft. Und Jahre später standst du plötzlich vor mir, mit diesem Lächeln, als hätten wir uns gestern erst gesehen. Ich habe Schiss bekommen dir die Wahrheit zu sagen. Hatte Angst, dass du dich ekelst.«
Ich habe das Gefühl, dass etwas in meinen Inneren zerbricht. Ich habe mit allem gerechnet, aber so etwas? Mir fehlen die Worte. Wieso habe ich es nie bemerkt? Aber, wenn ich jetzt an diese Zeit zurückdenke, dann sind mir schon die kaputten Hosen, die dreckigen Oberteile und manchmal die fettigen Haare aufgefallen. Das war mir jedoch alles egal.
Das Wichtigste war, dass Noah mich schon damals zum Lachen gebracht hat. Er hat mir Geschenke gemacht und mich auf Händen getragen. Nur weil ich die Einzige war, die zu ihm gehalten hat, egal wie verwahrlost er ausgesehen hat.
Ich habe immer den herzensguten Noah Carter gesehen, niemand anderen sonst. Fast gewaltsam blinzle ich die aufkommenden Tränen weg und schlucke den großen Kloß in meinem Hals runter.
Und jetzt sitzen wir hier und er redet über seine Vergangenheit, die er so gut vor der ganzen Welt versteckt hat. Er vertraut mir, erzählt mir alles und es fühlt sich an, als wären die Mauern zwischen uns gänzlich gefallen.
»Danke ...«, hauche ich leise und umfasse seine Hand fester, so als hätte ich Angst, dass er mir noch einmal entgleiten und aus meinem Leben verschwinden könnte. »Danke für die Wahrheit.«
So. Jetzt wisst ihr einen kleinen Teil aus Nohas Vergangenheit. Traurig oder, wie sehr er sich geschämt hat und die Worte meiner Kinder bis heute in seinen Gedanken geblieben sind. 😢 Was denkt ihr, wie es jetzt weitergeht? Wird sich Noah mehr öffnen?
Im Kapitel ist jetzt nicht viel passiert, aber dennoch bringt es die Beiden ins nächste Level. 😏
Wie immer würde ich mich über Rückmeldungen freuen. 😊
Habt einen wundervollen Sonntag.
Eure A. ❤️
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