Kapitel 2
Zwei Flure weiter begegnete ich den ersten Gästen, aber erst im Salon konnte ich erleichtert abbremsen. Schwer atmend und ein wenig zerzaust stellte ich mich neben eine Gruppe Verwandter. Einfach stur lächeln und winken, Männer!, dachte ich still vor mich hin und setzte ein strahlendes Lächeln auf, wie es sich für ein Geburtstagskind gehörte. Mit der einzigen Schwierigkeit, dass ich kein Pinguin war, weswegen ich meine Hand schön unten ließ, aber dennoch nicht zu lächeln vergaß. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich neben Leuten stand, die ich gar nicht wirklich kannte. Eine Großtante aus Alaska und vielleicht ein Cousin? Ganz sicher war ich mir da aber nicht. Die unverkennbaren Katzenaugen der Folletts hatte er auf jeden Fall nicht geerbt, sollte er ein Verwandter sein. Ich öffnete gerade den Mund um mein Sinnieren über Pinguine zu unterbrechen und mich alibihalber in das Grüppchen zu integrieren, da stand plötzlich mein Großvater vor mir.
„Scheiße", rutschte es mir vor Schreck aus dem Mund und meine Hand schnellte reflexartig hoch und legte sich vor meinen Mund.
Doch es war schon zu spät, das Wort war heraus. Unglücklich verzog ich mein Gesicht und versuchte eine möglichst entschuldigende Miene aufzusetzen. Grandpas Augen waren zu Schlitzen verengt. Nun glichen sie nicht mehr denen einer Katze, sondern viel eher denen einer Schlange.
„Entschuldigung, ich habe mich ein wenig erschreckt", murmelte ich möglichst reuevoll. „Erschreckt" war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Mein Herz raste, ein Wunder, dass ich noch nicht wie ein erschrockener Hase umgekippt war.
Grandpa nickte nur, seine Lippen waren fest zusammengekniffen, in seinen Gesichtszügen spiegelten sich keine Gefühle wider. Irgendwie unheimlich, dachte ich unbehaglich.
„Ginevra, würdest du bitte mit uns kommen", vernahm ich die Stimme meines Vaters hinter mir.
Dad wirkte geradezu gequält, das tat er in den letzten Tagen eigentlich ständig. Ich riskierte einen Blick zu meinem Großvater. Ein Wort um seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben: Grimmig.
Bei der Bewahrung ihrer Geheimnisse verstanden sie absolut keinen Spaß. Was auch immer sie mit mir vorhatten. Ich war ja so was von geliefert.
Mit gesenktem Kopf, folgte ich Dad und Grandpa hinaus in den Flur. Mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich gelauscht hatte, nagte an mir.
Wir entfernten uns immer weiter vom großen Salon, jedoch sagte niemand ein Wort. Es herrschte Schweigen, eines von der Sorte, bei dem man sich unwohl die Haare um die Finger wickelt und vor Nervosität an den Fingern knabbert. Da natürlich weder Dad noch Grandpa eines dieser zwei Dinge taten, lag es an mir meine Frisur zu zerstören und meine Finger zu malträtieren.
So unwohl die Situation auch war, ich fühlte mich nicht verpflichtet, das Schweigen zu brechen, weshalb ich ihnen lediglich still und leise hinterher trottete. Kreuz und quer durch das Labyrinth aus Gängen.
Wären wir in einem Film, wäre ich der hoffnungslose Sträfling, begleitet von meinen zwei erbarmungslosen Wärtern. In Wirklichkeit bin ich weder hoffnungslos noch ein Gefangener, was auch immer mir mein Teenager- Hirn da vorzumachen versuchte. Genauso wie Grandpa und Dad keine Wärter waren, höchstens von Geld in ihren Banken, aber ich sag mal, das zählt so nicht. Jedoch muss ich dabei zu bedenken geben, Fantasie braucht man in dieser Familie schon so einiges, da kann dann schon auch mal so ein Blödsinn wie dieser hier herauskommen.
Der Vergleich mit dem Sträfling ist vielleicht weit hergeholt, aber dennoch zumindest im kleinen Teil zutreffend. Das Gefühl von eingesperrt sein und seiner Freiheit beraubt. So war es aber eigentlich immer, wenn ich die Ferien hier am Anwesen verbrachte. Normalerweise verband man das Land doch mit Natur und Freiheit. Oder etwa nicht? Warum kam ich mir dann immer so eingesperrt vor? In London war alles so anders. Dort war ich frei. Ungebunden von Tanzunterricht, Tratsch- und Teestunden. Das Internat war mein zuhause.
„Hier herein!", sagte Dad.
Seine gute Laune wirkte aufgesetzt und bemüht. Er trug ein falsches Lächeln auf dem Gesicht. Ein Lächeln, welches ich nur allzu gut kannte, es bedeutete nichts Gutes. Was das wohl zu bedeuten hatte? Die klischeehaftesten Ereignisse, die mir so einfallen würden, was sie mir zu beichten hätten, waren, dass er sich von meiner Mum scheiden lassen würde, er eine zweite Familie hätte, er mich auf ein Internat schicken würde oder ein Unfall passiert war. Aber halt, Mum und Dad waren so und so schon so gut wie geschieden und im Internat war ich auch schon, also das einzige, was mich davon wirklich betreffen würde wäre ein Unfall. Aber seien wir doch ehrlich, wer würde mit so einer Nachricht in den Keller gehen?
Mit einer Hand hielt Dad eine unauffällige Tür auf und ließ uns eintreten. Unmöglich zu sagen, ob ich schon mal dort gewesen war. Immerhin hat das Anwesen an die 100 Zimmer, mit Nebengebäude wahrscheinlich sogar noch mehr. Aber dann war ich doch überrascht. Hinter der Tür kam kein weiterer weiß gefliester Gang zum Vorschein, sondern eine kleine Kammer. Sie glich fast einem Vorraum, dunkel und schummrig. Grandpa trat hinter mir in den Raum ein und Dad ließ die Tür mit einem endgültigen Knall ins Schloss fallen, sodass kein Licht von draußen herein drang.
Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und selbst dann konnte ich nicht mehr als Umrisse erkennen. Langsam konnte ich mein Unbehagen nicht länger verbergen.
„Vielleicht sollten wir besser wieder zurückgehen, immerhin ist das Haus voller Gäste", meinte ich mit einem unsicheren Lächeln und nestelte nervös am Saum meines Kleides.
„Nichts da! Wir haben einiges zu besprechen. Du musst mehr erfahren, als vage, aufgeschnappte Wortfetzen", entgegnete Grandpa standhaft wie immer und sah mich dabei grimmig an.
Heilige Mutter Gottes! Selbst in der Dunkelheit erkannte ich, dass seine dunklen Augen förmlich loderten. War das eine Andeutung, an mein Lauschen?
Zittrig holte ich Luft, stieß jene aber sogleich wieder mit einem Hustanfall aus. Der fensterlose Raum war stickig und die abgestandene und staubige Luft brannte in meinem Hals. Es hatte ganz den Anschein, als ließen die Zwei keine Putzfrau der Welt in ihre Geheimzimmer ein. Obwohl ich mich eingeschüchtert und verängstigt fühlte, musste ich bei diesem Gedanken die Augen verdrehen.
Mein Leben lang waren Geheimnisse ihre oberste Priorität gewesen. Also was bewegte sie plötzlich dazu, mich in ihre Geheimnisse einzuweihen?
„Dein Großvater hat recht. Wir haben dich lange genug in Ungewissheit gelassen."
Ach was, wirklich? Skeptisch hob ich die Augenbrauen, ob er das in der Dunkelheit sah, wusste ich nicht.
„Es ist an der Zeit, dass du mehr erfährst."
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