Kapitel 6 | Mallory
Wir betreten die Küche durch die gläserne Verandatür. Über unseren Köpfen funkeln die Glühbirnen einer Lichterkette wie Sterne und tauchen den Raum in warmes Licht.
Wilbur und Hunter sind spurlos verschwunden, obwohl sie vorhin noch wie emsige Arbeiterameisen durch die Küche gewirbelt sind. Und das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen.
Die beiden Männer haben den Esstisch mit cremefarbenen Platzdeckchen, Gläsern, einer Karaffe mit Limonade, Tellern, Besteck und einer einzelnen flackernden Kerze in der Mitte eingedeckt.
Die dampfende Auflaufform auf dem Gasherd verrät mir, dass es Lasagne geben wird. Dazu hängt ein würzig-herzhafter Geruch in der Luft, der automatisch das Flair eines italienischen Restaurants verströmt.
„Wow", spiegelt Archer meine Gedanken mit einem Wort wider.
„Ja, wow", ist auch meine erste Reaktion, als ich die romantische Atmosphäre auf mich wirken lasse. Das macht es nicht gerade leichter für mich, mit Archer allein zu sein.
Nach unserem Gespräch im Atelier eben, von dem sich die Schmetterlinge in meinem Bauch noch immer nicht erholt haben, würde mir eine Atempause guttun. Doch meine beiden vermeintlichen Retter sind nicht hier, um die Spannung zwischen Archer und mir zu zerschneiden.
Ich brauche dringend einen klaren Kopf, stattdessen fahren meine Emotionen Achterbahn.
Natürlich habe ich nicht vergessen, dass Cynthia irgendwo da draußen ganz allein ist und womöglich in großer Gefahr schwebt. An den schlimmsten Fall will ich gar nicht erst denken. Das Gewicht der Ungewissheit legt sich wie ein Betonblock um mein Herz, von dem ich erbarmungslos unter Wasser gezogen werde. Blasen strömen mir aus Mund und Nase. Sie streifen mein Gesicht, als ich versuche, aufzutauchen. Ich weiß aber, dass mir das erst gelingen wird, wenn ich Cynthia in meine Arme schließen kann.
Und dann existiert da noch dieser andere Teil von mir, den es an einem unsichtbaren Band in Archers Richtung zieht. Er ist mit nur einem Blick in meine Seele eingetaucht und hat mit dem Flüstern einer Berührung mein Herz wiederbelebt.
Verstohlen blinzle ich durch lange Wimpern zu ihm auf und merke, dass er mich bereits schweigend betrachtet. Doch sein Gesichtsausdruck verrät mir genau so viel darüber, was in seinem Kopf vorgeht, wie ein Chemie-Lehrbuch in Blindenschrift.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Hunter und Wilbur wollen uns verkuppeln", stammle ich, um unser Schweigen und meine widersprüchlichen Empfindungen mit einem Scherz zu entschärfen. Wobei der Gedanke nicht abwegig erscheint, dass wir hier in eine Falle getappt sind.
Archer löst sich aus seiner Position neben mir und tritt an ein iPad heran, das herrenlos auf der Kücheninsel zurückgelassen wurde.
Er öffnet Spotify und tippt einige Buchstaben in die Suchleiste ein, bevor The Dark von SYML aus mehreren kleinen schwarzen Lautsprecherboxen schallt.
Guter Geschmack, Mister.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, kommt Archer mit der Art von Lächeln auf mich zu geschlendert, das zweifellos eine Teilschuld an der Erderwärmung trägt.
„Den beiden ist alles zuzutrauen", erwidert er gelassen. „Lass uns mitspielen." Er bietet mir seine rechte Hand an, als würde er mich zum Tanz auffordern. Sein Grinsen wird breiter. Vermutlich ernährt es sich von meiner Unsicherheit. „Komm schon. Ich bin harmlos."
„Sagte der große böse Wolf zum Rotkäppchen", witzle ich und entlocke Archer damit ein tiefes, kehliges Lachen.
Seine Stimme erklingt im selben Bariton, als er entgegnet: „Die Gefährliche von uns beiden bist du, Peach."
Seine Bemerkung verwandelt meinen Kopf in eine Geisterstadt. Grillen zirpen, ein rostiges Tor quietscht und es rollt einer dieser kleinen verdorrten Büsche durchs Bild.
Ich beiße mir auf die Zunge, bevor ich etwas Dummes sagen kann und nehme seine Hand. Archer zieht mich mit einem sanften Ruck ein wenig näher an sich heran, bevor er unsere verbundenen Hände neben unseren Köpfen bis auf Augenhöhe anhebt. Seine freie Hand platziert er auf meiner Schulter, sodass ich meinen Arm auf seinen legen kann.
„Ich kann nicht tanzen", gestehe ich kleinlaut, als kein Zweifel mehr daran besteht, was er vorhat.
„Doch, klar kannst du. Ich führe dich. Es ist nicht schwer. Zähl im Kopf einfach den Takt mit und tue, was ich tue."
„Okay." Ich nicke brav und lasse den Blick auf meine beiden linken Füßen sinken.
Die Tatsache, dass er barfuß herumläuft, bringt mich zum Lächeln. Denn es gibt auch für mich kaum etwas Schöneres, als nach einem langen Tag heimzukommen, mich von unbequemer Kleidung, hohen Schuhen, Schmuck und meinem zwickenden BH zu befreien, nur um in eine Yoga-Leggings und einen Kapuzenpullover zu schlüpfen.
„Ich wüsste ja zu gern, was dir gerade durch den Kopf geht", dringt Archers Stimme an mein Ohr, in der ein amüsierter Unterton mitschwingt.
Vermutlich liegt das an dem frechen Grinsen von vorhin, das auf seinem Gesicht festgewachsen ist.
„Ich habe mich gefragt, ob wir das mit den Tanzschritten vielleicht überspringen könnten und uns gleich an der Hebefigur versuchen wollen", schlage ich im Scherz vor. Archers Augenbrauen wandern in die Höhe.
„Ganz ruhig, Tiger. Fangen wir vorerst mit einfachen Schritten an, die zur Musik passen."
„Zu solcher Musik kann man nicht tanzen, höchstens mitschwingen, wie eine dieser aufgeblasenen Skydancer-Figuren, die immer vor Gebrauchtwagengeschäften herum wackeln."
Archer schüttelt den Kopf.
„Als dein Tanzlehrer bestimme ich, wonach getanzt wird."
Kaum hat er die Worte laut ausgesprochen, werfe ich vor Lachen den Kopf in den Nacken. Auch Archers Mundwinkel zucken verdächtig.
Erst, als ich mich wieder fange, sage ich: „Für einen Moment hätte ich dich fast ernst genommen."
„Schade, ich dachte, ich würde eine gewisse Autorität ausstrahlen", gibt er zurück.
„Irren ist menschlich. Aber zu deinem Glück bin ich eine vorbildliche Schülerin."
Archers Augen funkeln amüsiert, was ihm eine jungenhafte Ausstrahlung verleiht.
„Ich glaube eher, du willst ums Tanzen herumtänzeln."
„Funktioniert es denn?"
Meine Stimmlage nimmt die Süße von Honig an und ich untermale jedes Wort mit klimpernden Wimpern.
Damit wische ich jede Belustigung von Archers Gesicht. Das Hüpfen seines Adamsapfels deutet auf seinen inneren Tumult hin, als er schwer schluckt. Und es gefällt mir, dass es zur Abwechslung ich bin, die diese Wirkung auf ihn hat.
„Das hätte es fast." Er räuspert sich, sichtlich um neue Konzentration bemüht. „Also, äh, im Prinzip sind es immer zwei Schritte in jede Richtung. So hier, schau."
Er demonstriert mir die Schritte wie beschrieben und zählt den Takt dabei laut von eins bis vier und anschließend von fünf bis acht mit.
Die Abfolge erscheint unkompliziert, also beginne ich, mich mit ihm im Takt der Musik zu bewegen.
„Wirklich gut, Peach. Du bist ein Naturtalent, also", lobt er mich nach einer Weile und die Wärme seiner Hand verschwindet von meiner Schulter, „kommt jetzt noch eine Drehung."
Ich quietsche, als er mich herumwirbelt, bis ich mich einmal um meine eigene Achse drehe und zum Schluss lachend in seinen Armen lande.
Seine Hitze umhüllt mich und ich genieße es, an den festen Oberkörpers unter seinem weißen T-Shirt gepresst zu sein. Archer riecht einfach himmlisch - nach Meer, frischem Duschgel - und Mann.
„Störe ich?"
Die Worte haben denselben Effekt wie das Geräusch einer stoppenden Schallplatte.
Als Hunter aus dem Nichts mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen erscheint, springen Archer und ich auseinander, als hätten wir uns aneinander verbrannt.
„Scheiße, Hunt! Musst du dich so anschleichen?", knurrt Archer seinen kleinen Bruder an. Dabei fährt er sich mit der Hand durchs Haar.
Hunter löst sich aus dem Durchgang und schlendert betont gemächlich in die Küche, bevor er sich am Esstisch einen Stuhl plumpsen lässt.
„Also meinetwegen müsst ihr nicht aufhören."
Wilbur betritt die Küche einen Augenblick später.
„Hab' ich was verpasst?", fragt er heiter und lässt den Blick von seinen Söhnen zu mir wandern.
„Archer hat mir ein paar Tanzschritte beigebracht", werfe ich in die Runde, bevor Hunter das Wort ergreifen und uns bloßstellen kann.
Wilbur kommt neben seinem ältesten Sohn zum Stehen und klopft diesem kräftig zwischen die Schulterblätter.
„Ja, unser Archer hat auf der Tanzfläche ein paar Asse im Ärmel", sagt er, bevor er sich zu Hunter an den Esstisch gesellt. „Von mir hat er das nicht."
„Da werd' ich dir nicht widersprechen", murmelt Archer im Vorbeigehen, sodass nur ich ihn verstehen kann.
Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht loszuprusten, denn Wilbur soll nicht denken, dass ich mich über ihn lustig mache. Auch, wenn mich die Dynamik zwischen den drei Männern amüsiert.
Ich nähere mich dem Tisch und entscheide mich für den Stuhl neben Hunter. Archer sitzt mir direkt gegenüber. Da fällt mir auf, dass ich Rover schon länger nicht gesehen habe.
„Suchst du was?", will Hunter von mir wissen, als er die Lasagne mit einem Pfannenwender in gleich große Rechtecke zerteilt.
„Fehlt nicht noch jemand?"
Hunter grinst über beide Ohren und nickt in Archers Richtung.
Es dauert einen Moment, bis sich die Punkte in meinem Kopf zu einer Linie zusammenziehen.
Ich beuge mich ein wenig zur Seite und schiele unter die Tischplatte, auf der ich mich mit der Hand abstütze.
Ein Schmunzeln legt sich über meine Lippen, als ich den Schäferhund entdecke. Er hat es sich unter dem Tisch neben Archers Stuhl gemütlich gemacht und seinen Kopf auf dessen Knie abgelegt.
„Ah, verstehe", schlussfolgere ich, „Rover hat eure Schwachstelle gefunden."
Wilbur klatscht die Hände ineinander und lacht herzhaft auf.
„Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen", flötet er.
„Wie oft denn noch, Leute?", schmollt Archer. „Das Stück Steak ist mir von der Gabel gefallen. Ich habe ihn nicht gefüttert."
„Ist klar", feixen die beiden anderen Männer zeitgleich.
Ich drehe den Wasserhahn zu und reiche Archer den letzten Teller. Dabei streifen meine Finger das klamme Geschirrtuch. Zum Glück sind wir gerade fertig geworden, sonst würde er die Nässe nur auf der Keramik verteilen, statt sie zu trocknen.
„Danke fürs Kochen. Das Essen war super lecker", trällere ich über meine Schulter hinweg in Richtung Esstisch, wo Wilbur und Hunter Patolli spielen.
Wenn ich es richtig verstanden habe, handelt es sich dabei um ein Brettspiel, das bereits vor der Ankunft Kolumbus' von den Völkern der Azteken, Tolteken und Maya gespielt wurde. Wobei mit Löchern oder weißen Punkten gekennzeichnete Bohnen als Würfel sowie rote und blaue Bohnen als Spielfiguren gedient haben.
„Gern. Ich dachte, ich koche euch noch mal was Richtiges, weil ihr euch die nächsten Tage mit Instant-Mahlzeiten begnügen müsst", antwortet Wilbur. „Ich werde morgen an euch denken, wenn ich löffelweise Wapiti-Eintopf in mich reinstopfe."
Hunter zieht scharf Luft ein.
„Bei Grandma June?", presst er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. „Das ist nicht cool, Dad."
Während Hunter schmollt, fällt mir auf, dass sich Archer neben mir bei der Erwähnung seiner Großmutter versteift hat. Er hat ja vorhin im Atelier erwähnt, dass irgendetwas zwischen ihm und seinen Großeltern vorgefallen ist. Und auch, als Hunter während des Essens von seiner Mutter gesprochen hat, hat Archer geistesabwesend auf seinen Teller herumgestochert und sich herausgehalten.
Vielleicht erfahre ich ja in den nächsten Tagen noch, was es mit all dem auf sich hat.
„Na, ausgeträumt?", will Archer von mir wissen und reißt mich damit aus meinem Kopf und in die Gegenwart zurück.
Erst jetzt merke ich, dass wir nicht mehr nebeneinander, sondern direkt voreinander stehen. Seine Zehen berühren meine, sein warmer Atem streichelt mein Gesicht. Er riecht nach der Schokoladen-Mousse, die es zum Nachtisch gab.
Ob ich die noch auf seiner Zunge und an seinen Lippen schmecken könnte, wenn ich ihn jetzt küssen würde?
Warte ... Was?
Meine oberen Schneidezähne bohren sich mir in die Unterlippe, als ich mit den Augen an seinem schön geschwungenen Mund hängenbleibe. Archers Blick wandert ebenfalls zu meinen Lippen, bis sich seine Pupillen zusehends verdunkeln.
„Es ist spät und ich sollte jetzt schlafen gehen", wispere ich, was ihm nur ein langsames Nicken entlockt. „Und ..." Ich verharre am Beginn des Satzes, weil es mir irgendwie unangenehm ist, auszusprechen, was ich im Begriff bin, zu fragen.
„Und?", hakt er nach. Archer nimmt mir das feuchte Geschirrtuch aus der Hand, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich es halte.
„Ich habe nichts mit, worin ich schlafen kann", erkläre ich ihm. „Keine Ahnung, wo ich mit den Gedanken war, als ich meinen Rucksack gepackt habe."
„Bei deiner Schwester vielleicht?", reagiert er mit einer unerwarteten Gegenfrage und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Ich ... Nein, also, ich bin einfach ein wenig schusselig. Vergiss es einfach wieder, okay?"
Mein Herz trommelt so rasant wie das eines kleinen Tieres, denn ich weiß, was er mich fragen wird, noch bevor er zum Sprechen ansetzt.
„Warum bist du wirklich hier?"
Ich will ihm die Wahrheit sagen. Das will ich wirklich, aber ich habe ebenso große Angst vor seiner Reaktion. Weil ich Archer nämlich brauche. Also befolge ich Hunters Rat und bewahre unser Geheimnis. Auch, wenn ich glaube, dass Archer die Wahrheit längst ahnt und ich ihn mit meinen Ausflüchten nur verärgere.
„Ich mache Urlaub. Das habe ich doch schon gesagt. Was soll die Frage?", entgegne ich bissig, damit er das Thema wieder zur Ruhe legt.
„Ich will den wirklichen Grund wissen. Keine Lügen, Mallory!", knurrt er zurück.
„Keine Lügen, Mallory!", wiederhole ich die Worte in meinem Kopf, die ich heute schon zum zweiten Mal höre - erst von meinem Vater und jetzt von ihm.
Ich blinzle in die Richtung der beiden anderen Männer, um nachzusehen, ob sie unsere Interaktion beobachten. Sie tun es nicht.
„Hör bitte auf, mich zu nerven!", fahre ich Archer an, der die Hände zwar in einer defensiven Geste anhebt, dabei aber die Lippen aufeinanderpresst. Und da weiß ich, dass er das Thema nicht ruhen lassen wird. „Ich gehe jetzt auch schlafen. Gute Nacht."
„Warte", sagt Archer, als ich mich zum Gehen abwende. „Im Trockner ist bestimmt noch ein T-Shirt von mir. Wir holen es und danach lasse ich dich in Ruhe."
Für einen Moment weiß ich nicht, wie ich auf seine fürsorglichen Worte reagieren soll und starre ihn einfach an. Dazu gesellt sich der Drang, ihm vor Dankbarkeit um den Hals zu fallen.
Stattdessen ringe ich mir ein Lächeln ab und trete an den Esstisch heran.
„Nacht ihr zwei, ich werde mal schlafen gehen."
„Okay, gute Nacht", erwidert Hunter.
Wilbur erkundigt sich: „Hast du alles, was du brauchst?"
„Alles super, danke. Bis morgen früh", gebe ich zurück und verlasse die Küche.
„Erste Tür links", ertönt Archers tiefe Stimme. Seine Präsenz brennt sich in meinen Rücken.
Er schiebt sich an mir vorbei in den Wäscheraum, wo er zügig die Klappe des Trockners öffnet. Sein halber Oberkörper verschwindet in dem Gerät, als er ein schwarzes Iron Maiden T-Shirt, dicke graue Socken und schwarze Boxershorts herausfischt.
„So. Hier", sagt Archer, bevor er mir die warmen Kleidungsstücke in die Hand drückt.
„Danke", antworte ich sanft, jedoch ohne ihm noch einmal ins Gesicht zu schauen. „Schlaf gut."
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