Kapitel 33 | Archer
„Du siehst ziemlich fertig aus. Sicher, dass ich die Kugel abbekommen hab und nicht du?", begrüßt mich Wren noch in der Sekunde, als ich die Tür zu seinem Krankenzimmer öffne.
Von der ICU auf eine normale Station verlegt worden zu sein, ist ihm scheinbar zu Kopf gestiegen. Aber ich habe mich noch nie so gefreut, den dämlichen Penner zu sehen. Er trägt eines dieser kurzärmligen hellblauen Krankenhaushemden, die man im Nacken und vermutlich auch am Rücken zusammenbindet - und weiße Tennissocken.
Bei so einer Körpergröße müssten seine Füße eigentlich über das untere Ende des Bettes hinaus ragen, aber es sieht aus, als hätten die Pfleger eine Verlängerung für ihn angebracht. Sein Kopfteil hat Wren so weit erhöht, dass er beinahe aufrecht sitzt, offenbar um zu lesen.
Als ich sein Einzelzimmer in drei großen Schritten durchquere, klappt er den fetten Wälzer auf seinem Schoß mit einem dumpfen Geräusch zu. Dabei versäumt er es, die aktuelle Stelle im Buch mit einem Lesezeichen zu markieren. Ohne groß darüber nachzudenken, stütze ich ein Knie auf seiner Bettkante ab und ziehe ihn in eine leichte Männerumarmung. Ich achte aber darauf, die rechte Hälfte seines Oberkörpers nicht zu berühren.
„Schön zu sehen, dass die Nahtoderfahrung nichts an deinem sonnigen Charakter geändert hat", scherze ich.
Wren klopft auf meine Schulter, gibt dabei aber ein gequältes Stöhnen von sich. Er muss bestialische Schmerzen haben.
Die kleine Wasserflasche von seiner schneeweißen Decke stelle ich auf dem Nachtisch ab, damit ich mich in Höhe seiner Knie auf das Bett setzen kann. Ich hätte ihn nie für so einen Chaoten gehalten. Dieses Zimmer ist ein einziger Schweinestall - Bonbonverpackungen, benutzte Papiertaschentücher, Tageszeitungen und alles liegt kreuz und quer herum.
„Ich freu' mich, dass du hier bist, Mann. Und danke für deine Nachricht." Wren seufzt. „Als ich aufgewacht bin, hatten sie meine Familie noch nicht erreicht und, na ja, es war schön, zu wissen, dass ich nicht allein bin. Weißt du, was ich meine?"
Einer meiner Mundwinkel zuckt nach oben. Ich bin froh, dass ich wenigstens so für ihn da sein konnte.
„Ist doch selbstverständlich. Du hättest dasselbe für mich getan", antworte ich und lasse den Blick durch das große Doppelfenster nach draußen schweifen, wo mich ein strahlend blauer Himmel begrüßt. „Hast du inzwischen mit ihnen gesprochen?"
„Hm?"
„Mit deinen Eltern?"
„Oh, ja, hab' ich", erwidert er. „Sie kommen morgen her und sobald ich entlassen werde, fahre ich mit ihnen nach Regina zurück."
Ich blicke auf meine Hände hinunter, die locker auf meinen Oberschenkeln ruhen, damit er mir die Enttäuschung nicht anmerkt. Wrens Abreise kommt plötzlich für mich. Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Natürlich muss er irgendwann wieder nach Hause zurückkehren. Es ist nur bitter, sich so kurz nacheinander von zwei Menschen zu verabschieden, die mir binnen einer Woche stärker ans Herz gewachsen sind, als ich es je für möglich gehalten hätte.
Der Klang seiner Stimme holt mich ins Hier und Jetzt zurück.
„Und was ist mit dir?"
„Wenn ich das wüsste." Seufzend lasse ich die Schultern sinken. „Meiner Familie wäre es natürlich am liebsten, wenn ich auf der Insel bliebe."
Wren richtet sein Kissen und sackt noch tiefer hinein als zuvor. Bei seiner Verletzung ist das vermutlich nicht die beste Körperhaltung. Obwohl es mich nach Tagen im Bett vermutlich auch nicht mehr interessieren würde, wie ich dasitze.
„Und was willst du, mein Freund?"
Seine Frage resoniert in mir. Ein weiteres Mal gleitet mein Blick aus dem Fenster.
„Im Prinzip bin ich mir momentan nur in Bezug auf Mallory sicher", antworte ich. „Mit ihr kann ich mir was Festes vorstellen - unseren Alltag miteinander teilen, ein Haus kaufen, eine Familie gründen. So was alles."
Wrens Mundwinkel treffen beinahe auf seine Ohrläppchen, so breit wie er grinst.
„Das klingt doch gut. Wo ist das Problem?"
Meinem Lachen fehlt jeder Humor.
„Na, alles andere ... Ich brauche einen Job, ein Einkommen. Dazu muss ich aber auch erst mal wissen, wo ich wohnen will und es ist ja auch nicht so, das Mallory ihr Leben in Niagara Falls für mich auf Eis legen und mit mir woanders hinziehen kann."
„Warum denn nicht? Ansonsten suchst du dir eben dort Arbeit."
Darüber habe ich natürlich auch schon nachgedacht.
„Guter Punkt, aber wenn ich ehrlich bin, kann ich mir momentan nicht vorstellen, von null anzufangen." Ich räuspere mich. „Außerdem könnte es sein, das Roland einen Job für mich hat."
Wrens Augen weiten sich.
„Oh?"
Mit einer drehenden Handbewegung bedeutet er mir, weiterzureden.
„Ja, er hat mich vorhin angerufen und meinte, er hätte ein Angebot für mich, das ich nicht ausschlagen kann. Mehr wollte er mir aber nicht verraten. Keine Ahnung. Ich schau' auf dem Heimweg mal bei ihm im Büro vorbei."
Mit der Hand fährt sich Wren durch die blonden Locken. Schon kehrt die Furche zwischen seinen Brauen zurück. Ich wette, er kann nicht einmal atmen, ohne dass es ihm Schmerzen bereitet.
„Ich würde sagen, du hörst dir einfach mal an, was der Typ zu sagen hat. Bin ohnehin müde - Blutverlust und so", gibt er zurück. Wren braucht die Ruhe. Sein Körper steckt gerade sämtliche Energie in den Heilungsprozess. Ich kann froh sein, dass ich ihn heute überhaupt besuchen durfte.
„Ist es in Ordnung, wenn ich morgen wiederkomme? Wann werden deine Eltern hier sein?"
Wren zuckt mit der unverletzten Schulter.
„Am frühen Nachmittag, aber du kannst trotzdem gern vorbeischauen. Ich würde mich freuen." Dieses Mal ist er es, der mich in eine kurze Umarmung zieht. „Und jetzt zisch ab", wirft er rotzfrech hinterher.
„Alles klar, dann sehen wir uns morgen. Brauchst du irgendwas?"
Einen Moment wirkt es so, als würde er ernsthaft überlegen, doch dann grinst er noch breiter.
„Nope. Es sei denn, du bringst meine süße blonde Lebensretterin mit."
„Du meinst Cynthia?" Wrens Augenbrauen schießen in die Höhe, so als würde er fragen, wen er denn sonst gemeint haben soll. „Geht leider nicht. Sie ist heute Morgen mit Mallory nach Hause geflogen. Aber sie hat nach dir gefragt."
Wrens Augen weiten sich.
„Kein Scherz?"
Ich schüttle den Kopf und führe mir die Interaktion zwischen Cynthia und mir vor Augen.
„Wir haben uns gestern nach ihrer Pressekonferenz kurz unterhalten. Sie wollte wissen, wie's dir geht und war echt froh, dass du nicht ins Gras gebissen hast", sage ich. „Wieso? Interessierst du dich für sie?"
Wren knabbert auf seiner Unterlippe herum, antwortet aber nicht gleich. Beinahe kann ich hören, wie die Zahnrädchen in seinem Kopf ineinandergreifen.
„Ich hätte mich einfach gern bei ihr bedankt, sie gern noch einmal gesehen, weißt du?" Ein tiefer Atemzug lässt seine ohnehin schon breite Brust noch breiter erscheinen. „Es war einfach so extrem. Ich dachte: Alles klar, das war's für mich. Heute kratz ich ab. Und dann kam sie."
„Dann kam sie", wiederhole ich seine Worte seufzend, als Bildfetzen der Minuten nach dem Schuss auf mich niederprasseln. Rückblickend besinne ich mich auf die augenblickliche Verbindung zwischen Cynthia und Wren - die Art, wie er sie angesehen hat. Als wäre Mallorys kleine Schwester sein Anker, der ihn im Reich der Lebenden hält. Ich richte mich auf.
Mir kommt da eine Idee. Mein Gegenüber greift die Veränderung in meiner Körpersprache auf.
„Oh, oh. Der Blick verheißt nichts Gutes."
„Ach quatsch." Ich winke ab. „Mallory und ich haben uns zwar ausgemacht, dass sich jeder von uns über die nächsten Wochen Zeit nimmt, sein eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen, aber ich habe Anfang August Geburtstag und werd sie hier her einladen. Falls sie kommt, kann ich sie persönlich für dich nach Thias Nummer fragen. Ich sag' einfach, dass du dich bedanken willst." Ein dunkles Lachen erschüttert Wrens Brust. Beinahe im selben Atemzug fliegt seine Hand zur Schusswunde hoch. Lachen scheint nicht zu den Aktivitäten zu gehören, die ihm jetzt guttun.
Das nehme ich als Zeichen, dass es für heute besser ist, zu gehen.
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„Haben Sie einen Termin?", will die oberlehrerinnenhafte Empfangsdame im Vorzimmer zu Rolands Büro von mir wissen. Ich öffne den Mund, um zu verneinen, aber sie kommt mir zuvor. „Kein Termin. Dachte ich mir. Dann kann ich sie auch nicht reinlassen, junger Mann."
Erneut setze ich zum Sprechen an, doch die brünette Mittvierzigerin mit schwarzer Hornbrille und strengem Dutt hebt die Hand, als wolle sie mir sagen, dass ich mir die Spucke sparen kann.
„Sind Sie fertig?", frage ich, als ich endlich die Gelegenheit dazu bekomme.
„Bitte?", japst sie.
Über den Rand ihrer Brille bohren sich ihre dunkelbraunen Augen in meine, während sie sich das schwarze Kostüm glatt streicht. Eine Augenbraue verschwindet unter dem Pony ihres dunkelbraunen Haares. Cora Nightbird besagt das silberne Namensschild auf ihrem Schreibtisch.
„Na ja, es wäre schön, wenn ich auch mal zu Wort käme."
In meiner sonst ruhigen Stimme schwingt gereizter Unterton mit.
Cora Nightbird reißt die Augen auf, als ihr buchstäblich die Kinnlade herunterklappt. Doch anstelle der Empörung, die ich erwarte, auf ihrem Gesicht vorzufinden, wirkt sie nur ... überrascht.
„Nein!" Beide Hände fliegen zu ihrem Mund. „Das gibt's doch nicht." Sie erhebt sich und umrundet ihren Schreibtisch, bis sie vor mir zum Stehen kommt. Automatisch trete ich einen Schritt zurück.
„Was gibt's nicht?"
Statt mir eine Antwort zu geben, zerrt sie mich an den Schultern zu sich herunter und in eine kräftige Umarmung.
„Du hast ihre Augen. Und den Tonfall." Rolands Vorzimmerdame wirft den Kopf zurück und lacht herzhaft los. „Es wäre schön, wenn ich auch mal zu Wort käme", äfft sie mich nach und lacht noch haltloser.
Ich würde gern sagen, dass sie meine Schultern inzwischen freigegeben hat, aber das ist nicht der Fall. Ihre spitzen Fingernägel bohren sich noch immer in meine Muskulatur, als hinter uns ein tiefes Räuspern erklingt und sie vor Schreck herumwirbelt.
„Was ist denn hier draußen los?" Rolands Blick wechselt von ihr zu mir, bevor seine Mundwinkel nach oben zucken.
„Warum hast du mir verschwiegen, dass du Rosarias Jungen erwartest?", will Cora Nightbird von ihm wissen. „Jetzt habe ich die Nebelkrähen-Nummer bei ihm abgezogen."
Rolands tiefer Bariton hallt durch den kleinen Raum, als er drei vereinzelte Lacher ausstößt.
Und ich kann mir jetzt auch den plötzlichen Stimmungsumschwung seiner Sekretärin erklären: Sie kannte meine Mom.
„Schön, dass du hier bist, mein Junge", sagt Roland und legt mir dabei die Hand auf die Schulter. Keine Ahnung, wie oft man mich Junge genannt hat, seit ich in die Heimat zurückgekehrt bin. „Wir brauchen nämlich dringend jemanden für den Job und dein Vater meinte, dass dich die Familie gern wieder dauerhaft hier hätte."
Den letzten Kommentar ignoriere ich, denn es sollte in erster Linie darum gehen, was ich mit meinem Leben anfangen möchte.
„Was für ein Job?"
Roland stemmt die Hände in die Hüften. Sein hellblaues Hemd spannt über Brust, Armen und dem rundlichen Bauch, weil er es in den Bund seiner dunkelblauen Stoffhose gezogen hat.
Mit dem Daumen gestikuliert er über seine Schulter hinweg in Richtung seines offenen Büros.
„Lass uns da drin reden. In Ruhe."
Er fährt sich mit der Hand durch die kurzen ergrauenden Haare. „Willst du einen Kaffee?"
Ich winke ab.
„Nein danke."
Eigentlich könnte ich ein wenig Koffein gut gebrauchen. Aber ich habe keine Lust, Rolands Sekretärin zu bemühen, die inzwischen wieder voller Konzentration auf den Bildschirm ihres Computers starrt.
Wir betreten sein geräumiges Büro. Die Jalousien lassen vom unteren Rand der hohen Fenster einen handbreiten Spalt frei. Die Sonnenstrahlen drängen sich durch jede Lücke in den abgedunkelten Raum. Hier drin wäre es bei voller Sonneneinstrahlung vermutlich nicht auszuhalten. Die Raumtemperatur ist ohnehin schon grenzwertig, aber ich widerstehe dem Drang, mir mit dem Saum meines Shirts den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ist die Klimaanlage kaputt?
„Setz dich", bittet er mich, wobei er einen Stuhl an der Lehne packt und einige Zentimeter zurückzieht. Wie vor ein paar Tagen nehme ich gegenüber von Roland an seinem massiven hölzernen Schreibtisch Platz. „Ich mache es kurz Archer. Wir haben eine ALO-Stelle zu besetzen."
„Aboriginal Liaison Officer?", hake ich nach, um sicherzugehen, dass ich ihn richtig verstanden habe.
„Ganz genau. Du bist gewissermaßen das Bindeglied zwischen der Polizei und indigenen Gemeinschaften."
„Ich weiß schon, was ein ALO tut", unterbreche ich Roland ruhig, damit er nicht die ganze Definition runterrattern muss.
Das Verhältnis zwischen den First Nations, Métis sowie Inuit Kanadas und der Royal Canadian Mounted Police ist behaftet von Konflikten und Misstrauen.
Das liegt zum einen an immer wieder auftretenden Fällen von Polizeigewalt gegen indigene Menschen.
Weiterhin waren die Mounties maßgeblich daran beteiligt, indigene Kinder gewaltsam ihren Familien zu entreißen und in sogenannte Residential Schools zu bringen, wo sie assimiliert werden sollten. Sie durften ihre Eltern nicht sehen oder sich untereinander in ihrer Muttersprache unterhalten.
„Kill the Indian in the child", lautete über hundert Jahre lang die Devise.
Im Klartext heißt das, allein in Kanada mussten ungefähr 150000 Kinder diese Schulen besuchen, wo viele von ihnen misshandelt und sexuell missbraucht wurden. Die letzte dieser Einrichtungen wurde erst in den Neunzigerjahren geschlossen. Man vermutet, dass mehrere Tausend Kinder in den Residential Schools ums Leben gekommen sind, wo sie oftmals in nicht gekennzeichneten Gräbern verscharrt wurden. Zu den Todesursachen gehörten Unterernährung, Krankheiten und Fluchtversuche.
Das Schlimmste an der Sache ist, dass Gewalt gegen die indigene Bevölkerung nicht der Vergangenheit angehört. So müssen besonders unsere Frauen und Mädchen befürchten, spurlos zu verschwinden, ermordet oder Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden. Werden Fälle aufgeklärt, handelt es sich bei den Tätern oft nicht um Mitglieder der indigenen Gemeinschaften und es wird meiner Meinung nach lange nicht genug unternommen, unsere Mütter, Tanten, Schwestern und Töchter zu beschützen.
In dem Zusammenhang kommt mir etwa der Schweinefarmer und Kanadische Serienmörder Robert Pickton in den Sinn, der nahe Vancouver neunundvierzig Frauen getötet haben soll. An der Polizei wurde damals Kritik geübt, dass sie das Verschwinden zahlreicher Prostituierter und indigener Frauen falsch eingeordnet oder nicht ernst genommen haben, weil die Verantwortlichen davon ausgingen, die Frauen wären weggelaufen oder verzogen.
Ich wünsche mir eine bessere Zukunft. Ich möchte Menschen beschützen, bevor ihnen etwas geschieht, möchte, dass sie sich sicher fühlen.
Die letzten Jahre habe ich mich darauf konzentriert, den Hinterbliebenen von Mordopfern Klarheit zu geben, die ich selbst nie bekommen habe, da Moms Mörder entkommen ist. Dass mich diese wenn auch wichtige Aufgabe am Ende innerlich zerstören würde, habe ich nicht kommen sehen.
Wenn ich die ALO-Stelle bekomme, von der Roland spricht, wäre es mir möglich, das Verhältnis zu meiner kulturellen Identität wieder zu vertiefen und einen wichtigen Beitrag in der Gemeinschaft zu leisten.
Dabei geht es ja auch nicht ständig um Leben und Tod, sondern ein respektvolles Miteinander. Manchmal geht es darum, aus seinem Wagen auszusteigen und einem Ältesten die Einkaufstaschen nach Hause zu tragen oder Jugendlichen als Mentor und Ratgeber zur Seite zu stehen. Auf der anderen Seite wäre ich natürlich auch mit Themen wie Drogen, Alkoholismus, Menschen- und Waffenhandel, Gangkriminalität und häuslicher Gewalt konfrontiert.
„Darf ich fragen, wie du dabei ausgerechnet auf mich kommst?", will ich von Roland wissen. „Ich hab' doch gar keine spezielle Ausbildung dafür."
Ein schiefes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht.
„Dass du entsprechendes Training und eine gründliche Einarbeitung erhältst, versteht sich von selbst. Der Rest kommt mit Erfahrung. Learning by doing - du weißt schon."
Learning by doing - das klingt einfacher, als es ist. Ich werde mir ganz genau überlegen, ob ich mich so einer Aufgabe gewachsen fühle. Am besten frage ich Morgan um Rat. Ich habe sie zwar gestern schon angerufen, um mich nach ihr zu erkundigen und über die jüngsten Ereignisse zu berichten, aber meine berufliche Zukunft ist nicht zur Sprache gekommen. Viel mehr hat mich in dem Moment interessiert, ob es in ihrem Leben etwas Neues gibt. Ich vermisse sie sehr.
„Alles klar. Gib mir ein paar Tage Bedenkzeit, okay?", höre ich mich sagen. Hier und jetzt werde ich sicher keine Entscheidung treffen.
Roland nickt und ich nutze die Gelegenheit, um den Blick durch sein Büro wandern zu lassen. Dabei bleiben meine Augen an dem mahagonifarbenen Holzregal hinter ihm hängen.
Auf einem der in silberfarbenen Rahmen gefassten Fotos hält Mom breit grinsend einen Heilbutt in die Kamera. Der grün-bräunlich gefleckte Plattfisch reicht ihr bis zur Hüfte. Ihre Augen verschwinden unter der Krempe eines dunkelblauen RCMP Basecaps, das lange schwarze Haar hängt glatt herunter. Roland hat ihr den Arm um die Schulter gelegt und wirft lachend den Kopf in den Nacken.
Die beiden waren bereits als Hosenscheißer befreundet gewesen. Ich wette, er vermisst sie jeden Tag - nicht, dass ich ihm das wünsche. Das wünsche ich keinem und doch weiß ich, dass ich mit meinem Schmerz nicht allein bin.
Roland folgt meinem Blick.
„Ah ja. Was für ein schöner Tag. Das Foto hat Wil aufgenommen. Dein Vater hatte schon immer ein Händchen dafür, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken."
Seine Mundwinkel können sich nicht entscheiden, ob sie nach oben oder unten zeigen wollen, was seinem Lächeln etwas Trauriges verleiht.
„Ich bin froh, dass dein Gesicht das Letzte war, das sie gesehen hat, Roland." Seine Augen schnippen zu mir. „Die Blutung ihrer Oberschenkelschusswunde konntest du nicht stoppen, aber dank dir war sie in den letzten Sekunden auf dieser Erde nicht allein. Und dafür werd ich dir ewig dankbar sein."
Es entfährt ihm ein scharfes Schluchzen, als er sich abwendet und hinter der Lehne seines Drehstuhls aus meinem Sichtfeld verschwindet.
„Entschuldige, Junge", schnieft er. „Es ist nur so schwer, nach all den Jahren, mit dir über sie zu sprechen und dabei in deine Augen zu sehen. In ihre Augen. Das ist einfach zu viel."
Ich erhebe mich aus dem minimalistischen, mit schwarzem Stoff bespannten Metallstuhl. Das Möbelstück ächzt unter meinem Gewicht.
„Es tut mir leid, wenn ich alte Wunden aufgerissen habe, aber das wollte ich dir schon so lange sagen." Aus dieser Höhe erkenne ich sein Seitenprofil. Mit dem Handrücken wischt er sich über die Unterseite seiner Nase. Ich entscheide, ihm seine Privatsphäre zu geben. „Bis bald, Roland."
„Meld dich, ob du dich für die Stelle interessierst, okay?", ruft er mir hinterher, als ich im Begriff bin, sein Büro zu verlassen. Ich bestätige mit einem einfachen Nicken.
Cora Nightbird ist nicht an ihrem Platz, als ich ins Vorzimmer trete. Aber ich bin froh darüber, nicht noch einmal angehalten zu werden.
Es war ein harter Tag. Ich brauche Schlaf, Zeit zum Nachdenken, Klarheit - und die Nummer der Highhorse-Familie. Schließlich habe ich Connors kleiner Schwester versprochen, dass ich mich bei ihr melden werde. Anschließend rufe ich Morgan an.
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