Kapitel 3 | Archer
„Was ist mit Bärenspray?", rufe ich Hunter zu, der sich außerhalb meiner Sichtweite in den Gängen des Outdoor Stores herumtreibt.
„Brauchen wir nicht", kommt seine Antwort von irgendwoher, was mich alles andere als zufriedenstellt. Auch wenn ich in den vergangenen Jahren zum Städter mutiert bin, heißt das nicht, dass ich alles vergessen habe, was man über das Campen in der Wildnis wissen muss.
Ich spüre meinen Bruder in der rechten hinteren Ecke des weitläufigen Ladens auf, wo er im Gang mit den gefriergetrockneten Mahlzeiten und Energieriegeln herumschleicht. Als ich zu ihm trete, hält Hunter gerade einen schwarzen Beutel mit der Aufschrift „Rührei" hoch, den er im nächsten Moment naserümpfend zurückstellt.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Aha, oh allmächtiger Trekking-Gott. Und warum brauchen wir kein Bärenspray? Kennst du jeden Schwarzbären und Berglöwen auf dem Trail persönlich? Habt ihr ein Anti-Angriffsabkommen abgeschlossen?"
„Du kannst dir ja eine Bärenglocke umbinden, wenn du so viel Angst hast", stichelt mein Bruder.
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Ich binde dir gleich eine Glocke um."
Hunter bleibt unbeeindruckt, während er Instant-Mahlzeiten, Energieriegel und eine Gaskartusche für seinen Campingkocher in unseren Einkaufswagen lädt.
„Dad müsste zwar noch eine Flasche haben", geht er dann doch auf meine Frage ein, „aber ich bin ziemlich sicher, dass die Tiere ebenso wenig Lust auf uns haben wie wir auf sie. Wenn wir uns unterhalten oder lautstark auf uns aufmerksam machen, gehen sie uns von allein aus dem Weg. Bären hassen Überraschungen."
„Da haben wir etwas gemeinsam", knurre ich.
Hunter rollt mit den Augen und beginnt, seinen Wagen in die andere Richtung zu schieben, weg von mir. Aber mich schüttelt er nicht so schnell ab.
„Nicht schon wieder die Leier", murmelt er. „Es ist eine Gruppenreise. Ich verstehe nicht, warum du dich so darüber aufregst, dass Mallory mitkommt."
Ich beschleunige mein Tempo und überhole ihn, um mich mitten im Gang vor ihm zu positionieren. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als anzuhalten.
„Mir ist scheißegal, ob deine Freundin mitkommt, aber warum soll ausgerechnet ich sie babysitten? Du weißt ganz genau, dass ich meine Ruhe haben will." Hunter presst die Lippen aufeinander, bis seine Kiefermuskeln zucken. „Wer ist das überhaupt? Du hast noch nie von einer Freundin aus Niagara Falls erzählt."
„Wieso? Willst du dir noch mal schnell ihr Strafregister reinziehen, bevor es losgeht?" Er lacht spöttisch. „Viel Spaß dabei. Die Frau ist ein Schneesturm und hat in ihrem Leben wahrscheinlich bis jetzt nicht mal einen Strafzettel bekommen."
Meine Mundwinkel zucken, da ich das tatsächlich in Erwägung gezogen habe, doch dann werde ich wieder ernst. „Warum gehst du meiner Frage aus dem Weg, Hunt? Sag mir doch einfach, woher du sie kennst und warum sie einen Aufpasser braucht."
Mein Bruder nimmt einen langen Atemzug. „Wir kennen uns aus einer Facebook-Gruppe und sind mit der Zeit richtig gute Freunde geworden. Sie hat den West Coast Trail schon länger auf ihrer Bucket List, traut sich aber nicht allein an die Sache ran, weil sie kaum Backpacking-Erfahrung hat", sagt er. „Und da diese Saison meine letzte sein wird, möchte sie es unbedingt dieses Jahr durchziehen. Zumal der Freundschaftsrabatt, den ich ihr klargemacht habe, nur solange gilt, wie ich noch für Shawn arbeite." Er seufzt. „Mir geht es auch nur darum, dass außer mir noch jemand ein Auge auf sie hat und ihr ein paar Sachen erklärt, wenn ich gerade anderweitig zu tun habe."
Rote Ohrenspitzen, Vermeidung von Blickkontakt, unruhiges Gezappel - ich kenne meinen Bruder. Er lügt. Aber wieso? Die Story klingt halbwegs plausibel. Was hat er davon, mich anzulügen? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass er mich mit ihr verkuppeln will.
„Mallory ist wirklich nett. Du wirst sie mögen", wirft Hunter ein, als ich nach gut einer Minute noch immer nichts gesagt habe. „Komm schon. Gib dir einen Ruck, okay?"
Es scheint, dass sie ihm wichtig ist, wenn er sich so für sie einsetzt.
„Interessierst du dich für sie?"
Er schüttelt den Kopf.
„Nein, sie ist nur eine Freundin. Du hast also freie Bahn", sagt er scherzhaft und zwinkert mir dabei verschwörerisch zu. „Aber sie ist nicht dein Typ."
„Warum denkst du das?"
„Sie ist blond und hat ein Herz aus Gold", antwortet er prompt. Unsere Blicke treffen sich und wir müssen beide lachen. Ich verstehe genau, was er mit seiner Anspielung sagen will. Lexi - meine Ex - verkörpert ziemlich das Gegenteil dessen, was Hunter gerade beschrieben hat. Ihr Haar ist genauso schwarz wie ihre Seele.
„Ich gebe zu, Lexi ist nicht einfach."
„Nicht einfach?", keucht Hunter. „Die Frau ist der Antichrist."
Wieder muss ich lachen. Die beiden sind zu keiner Zeit miteinander klargekommen, als mein Bruder mich letzten Jahreswechsel in Regina besucht hat.
„Nachdem ich mit ihr Schluss gemacht habe, hat sie all meine Sachen in einer Feuertonne verbrannt und das Video dann auf Instagram hochgeladen."
„Oh, verdammt!" Mein Bruder hält sich die Faust vor den Mund und verzieht ihn zu einer schiefen Grimasse. „Aber wenigstens war sie heiß."
„Als wir uns kennengelernt haben, war sie eigentlich ganz entspannt. Wir hatten Spaß und waren uns einig, dass wir beide nichts Festes wollen."
Hunter schnaubt: „Du hättest es dabei belassen sollen."
„Wahrscheinlich", seufze ich. „Aber sie wollte später mehr und ich mochte sie, also habe ich unserer Beziehung eine Chance gegeben."
„Und jetzt bist du wieder auf der Pirsch", spottet Hunter, während er mir zweimal kräftig zwischen die Schulterblätter klopft, sodass ich beinahe einen Schritt nach vorn stolpere. Verdammt, der Kerl hat Kraft. „So viele Frauen und so wenig Zeit."
Ich neige den Kopf und grinse.
„Neidisch?"
„Oh ja!", erwidert mein Bruder.
„Nein, aber mal im Ernst: Willst du nicht auch später eine Frau, Kinder, einen Golden Retriever und den ganzen Scheiß?"
Eigentlich schon, überlege ich, während ich mir mit der flachen Hand übers Kinn fahre.
„Keine Ahnung, ich habe Schwierigkeiten, mich langfristig zu binden. Mein Job ist stressig. Ich habe keine Zeit für eine Beziehung. Außerdem ...", füge ich hinzu, „hat mich bisher noch niemand wirklich fasziniert."
„Warte, bis du Mallory triffst. Sie scheint auf jeden Fall sehr viel netter zu sein", sagt Hunter und weckt damit meine Neugierde.
„Also versuchst du doch, uns zu verkuppeln. Wusste ich es doch", lache ich. Bevor mein Bruder antworten kann, zischt die junge Brünette neben uns ein „Psst" in unsere Richtung.
Was ist ihr Problem? Sind wir hier in der Kirche oder was?
Doch dann entdecke ich die Babyschale in ihrem Einkaufswagen und das Neugeborene darin. Es beginnt, mit den Armen und Beinen zu strampeln und mit geschlossenen Augen zu quäken.
„Verdammt, tut mir leid", entschuldige ich mich und schiebe mich an Hunter vorbei, bis ich direkt vor dem kleinen Schreihals stehe. Die Stickerei auf der Mütze des Kleinen verrät mir, dass er Jason heißt.
Seine Mutter verschränkt die Arme vor der Brust und verengt ihre Augen zu Schlitzen. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich, wenn ich mich daran erinnere, was für ein Schreikind Hunter war und wie schwer es war, ihn zum Schlafen zu bringen.
„Darf ich?", frage ich die Frau, ihre Augenringe so groß wie Tischtennisbälle unter den Augen, und deute dabei auf ihren Sohn. Anstatt zu antworten, wirft sie resigniert die Hände in die Luft, als würde sie sagen: „Ach, mach doch, was du willst."
Behutsam löse ich Jasons Anschnallgurt, lege eine Hand in seinen Nacken, um seinen Kopf zu stützen, und schiebe mit der anderen Hand von der Seite unter seinen Körper.
Inzwischen hat er aufgehört zu weinen und betrachtet mich mit seinen milchig-blauen Augen.
„Hey Kumpel. Lust auf ein Schlaflied?" Der Kleine blinzelt nur. Klar, schließlich versteht er mit seinen ein oder zwei Monaten kein Wort von dem, was ich sage.
Meine Stimme ist tief und ruhig, als ich die ersten paar Zeilen von Rock-a-bye zum Besten gebe.
„Wow", flüstert die Mutter, „Sie sind ein Zauberer." Dabei deutet sie auf ihren Sohn, der binnen weniger Sekunden in meinem Arm eingeschlafen ist.
„Das nicht." Behutsam lege ich Jason in seine Babyschale zurück. „Aber ich habe ihn früher oft ins Bett gebracht." Dabei nicke ich in Richtung von Hunter. Er nickt schmallippig zurück und winkt ihr kurz zu. Ich wette, er wäre gerade gerne der Ältere von uns beiden. „Entschuldigen Sie bitte das Aufwecken."
Verlegen kratze ich mich verlegen am Hinterkopf.
„Alles gut!", erwidert die Frau. „Dafür durfte ich einem optischen Leckerbissen von einem Mann dabei zuschauen, wie er mein Baby in den Schlaf wiegt. Und das war es absolut wert."
„Okay, schönen Tag noch", gebe ich zurück und wende mich ab, weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Ich drehe mich zu Hunter um, der nur den Kopf schüttelt.
„Ey, was kann ich dafür, wenn mich die Frauen lieben?", scherze ich. Dabei stört es mich eigentlich, wenn ich aufgrund meines Aussehens ständig die falsche Art von Aufmerksamkeit anziehe.
Trotz des Klischees, dass Männer Frauen nur auf ihr Äußeres reduzieren, werde ich oft mit plumpen Annäherungsversuchen konfrontiert.
Meine Wurzeln liegen in der Ditidaht First Nation, und ich bin stolz auf meine Identität, meine Kultur und meine Herkunft. Ich habe keinen Wunsch, aufgrund meines Aussehens zur sexuellen Fantasie anderer zu werden. Längere Haare und ein trainierter Körper machen mich nicht automatisch zum romantisierten Bild vom „Wind in seinem Haar" oder dem „letzten Mohikaner".
Vielleicht hält Hunter mich für einen Frauenhelden, der jede Nacht eine andere erobert. Und obwohl ich das selbst zu verantworten habe, weil ich nicht versuche, dieses Vorurteil zu widerlegen, entspricht es nicht der Realität. Ich sehe einfach keinen Grund, mich in eine feste Beziehung zu begeben, solange ich nicht die Art von Verbindung mit einer Frau gefunden habe, nach der ich suche.
Wenn ich mich konsequent an dieses Prinzip gehalten hätte, wäre mir das Drama mit Lexi erspart geblieben. Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, irgendwann die Richtige zu treffen - jemanden, mit dem ich mir vorstellen kann, einen kleinen Wurm wie Jason in die Welt zu setzen.
Der Gedanke lässt mich innehalten. Wo ist das eben hergekommen? Es wird langsam Zeit, den Laden zu verlassen. Offensichtlich tut mir der Sauerstoffmangel hier drinnen nicht gut. „Haben wir alles?", unterbreche ich unser Schweigen, als Hunter und ich uns zum vorderen Bereich des Outdoor-Geschäfts bewegen.
„Du brauchst noch ein paar Shirts aus Merinowolle und eine Funktionshose, die per Reißverschluss an den Knien in Shorts umgewandelt werden kann. Hast du eine Regenjacke oder ein Cape?", fragt er.
Ich runzle die Stirn. „Ist das wirklich notwendig? Hat Dad das nicht alles noch da?"
Hunter lacht laut auf, und als ich genauer darüber nachdenke, muss auch ich schmunzeln bei dem Gedanken, in die XXL-Shirts meines Vaters zu schlüpfen.
„Die wären dir viel zu groß. Dad hat ordentlich zugelegt", neckt Hunter. Doch sein Grinsen erstarrt, als er meinen Blick bemerkt.
„Das habe ich gehört, Jungs!", dröhnt plötzlich die tiefe Stimme unseres Vaters durch den Laden.
Hunter dreht sich zu ihm um. „Verdammt, Dad! Du hast mich erschreckt", keucht er und legt sich dabei die Hand flach auf die Brust. „Warum schleichst du dich so an uns heran?"
Unser Vater strahlt über das ganze Gesicht, als ob er sich nur knapp das Lachen verkneifen könnte. „Euer Gespräch schien gerade spannend zu werden", antwortet er gelassen und lächelt Loraine zu, die sich mit einer offenen Kiste voller Karabinerhaken an ihm vorbeischiebt.
„Guten Morgen, Wilbur!", zwitschert die Verkäuferin im Vorbeigehen, die hier bereits seit über zehn Jahren arbeitet.
„Interessant? Warum? Ist dir etwa die riesige Kugel vor dir bis jetzt nicht aufgefallen, die du da herumschiebst? Ein bisschen Wandern würde dir guttun", kontert Hunter frech.
„Und wer kümmert sich dann um unseren Rover?", antwortet Dad mit einer Gegenfrage, in Anspielung auf den betagten, taub-blinden Schäferhund meines Bruders. Dabei ignoriert er Hunters Kommentar über seine Körperfülle. „Nein, ihr Jungs könnt das schon allein machen. Euer alter Herr hält euch nur auf. Passt lieber gut auf euch und das Mädchen auf."
„Wenn wir hier jemals wieder herauskommen", stöhne ich und lasse mich von Hunter in den Gang mit der Wander- und Outdoorbekleidung schieben.
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