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Kapitel 25 | Mallory

Nach der gestrigen Entdeckung, einem Schwächeanfall und schätzungsweise zwanzig Stunden Schlaf müsste ich mich eigentlich fühlen, als hätte mich ein Lastwagen überrollt - einmal im Vorwärts- und einmal im Rückwärtsgang. Stattdessen strotze ich vor Tatendrang, vor Energie. Mein Verstand weigert sich, in Schockstarre zu verfallen, obwohl oder gerade weil ich davon ausgehen muss, dass Cynthia entführt worden ist. Dank Archer bin ich optimistisch, dass sich die Polizei des Falles annehmen wird.

Ich atme, trinke, lebe Hoffnung, bis absolut keine Hoffnung mehr übrig ist. Dadurch habe ich die ersten zwei Kilometer der heutigen Tagesetappe einigermaßen gut weggesteckt.

Gedankenverloren beobachte ich Gavin dabei, wie er ein Blitzlichtgewitter auf die zweite Donkey Engine loslässt, die wir im Verlauf des West Coast Trails passieren.

Eindrucksvoll ragt der rotbraune, verwitterte Dampfzylinder vor uns auf. Die Seilwinde der Forstmaschine ist ebenfalls rostig und hebt sich damit kaum vom Erdboden ab, wodurch das Grün des Waldes umso kräftiger leuchtet. Ich verstehe, warum sie in Gavins Augen so ein faszinierendes Fotomotiv abgibt.

Seine Leidenschaft für die Fotografie, Astrids infektiöses Lachen, die witzigen Wortgefechte zwischen Emmabelle und Harlow, Shawns unerschöpflicher Wissensreichtum, Hunters lockere Art und selbst Wrens trockener Humor werden mir fehlen.

Am meisten graut es mir jedoch davor, Archer nicht mehr in meiner Nähe zu haben. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die Redensart ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹ auf uns nicht zutrifft.

Es war schön, ihn auf meiner Seite zu wissen. Archer hat mich von Anfang an unterstützt und bestärkt; mich zum Nachdenken angeregt und mit mir Probleme gelöst; mich zum Lachen gebracht und mein Kichern dann mit Küssen erstickt.

Wenn wir meine Schwester doch nur gefunden hätten. Wenn er mich nur nicht im Dunkeln stehen gelassen hätte.

Wenn. Wenn. Wenn.

Bis zum Haltepunkt der Fähre in Gordon River sind es noch drei Kilometer. Wie es von dort aus weitergehen soll, weiß ich nicht. Tausend Fragen schwirren mir im Kopf herum, als wir durch vernebelten Nadelwald streifen, der einem Märchen der Gebrüder Grimm entsprungen sein könnte.

Hat die Polizei Ermittlungen eingeleitet - oder haben sie den Fall abgeschmettert? Gibt es bereits Verdächtige? Wurde schon jemand befragt?

Als hätte er meine Gedanken gehört, taucht Wren neben mir auf. Er nimmt sich die Kopfhörer heraus.

„Hi", höre ich mich sagen, wobei meine Betonung eher auf eine Frage als eine Begrüßung hindeutet.

„Hey Mallory, können wir kurz reden?"

Mit geschlossenen Lippen lächle ich.

„Klar. Was gibt's denn?"

„Weißt du schon, ob du hier bleiben oder nach Niagara Falls zurückfliegen willst, wenn wir das Ende des Trails erreicht haben?"

„Kommt darauf an."

„Worauf?", hakt Wren nach.

„Ob die Profis übernehmen. Ich gehe nur, wenn es absolut nichts mehr gibt, was ich tun kann, um zu helfen."

„Also erstens: Autsch! Ich bin auch ein Profi. Und zweitens habe ich nichts anderes von dir erwartet, kleine Kämpferin." Mit ernster Miene betrachtet er mich. „Deshalb wollte ich dir nur kurz Bescheid geben, dass du dir keine Unterkunft zu suchen brauchst. Du kannst in meinem Ferienhaus in Port Renfrew pennen. Haben ohnehin deine Eltern bezahlt. Es gibt zwei Bäder und drei Schlafzimmer. Wir kommen uns also nicht in die Quere."

Ab ›Ferienhaus in Port Renfrew‹ habe ich aufgehört, zuzuhören und nicke eifrig.

„Klingt super. Danke Wren."

„Danke wofür?", mischt sich eine dritte Stimme in unser Gespräch ein, die meinen gesamten Körper augenblicklich in Gänsehaut hüllt.

Wir wirbeln zu Archer herum.

„Meine Fresse, Arch, irgendwann bekomme ich noch einen beschissenen Herzinfarkt deinetwegen", presst der große Blonde hervor. „Warst du in einem früheren Leben ein Panther oder was?"

„Ich bin ganz normal gelaufen. Du hörst einfach schwer."

Beide Männer fangen zu lachen an, als Wren Archers Oberarm boxt - und ich fühle mich wie im falschen Film.

„Was hast du?", will Archer von mir wissen. Zwei Paar Augen sind auf mich gerichtet.

„Nichts, ich wundere mich nur, wie schnell bei euch aus Antipathie, na ja, Bromance geworden ist."

Wren schnaubt: „Bromance - das gefällt mir."

„Keine Ahnung", erwidert Arch stattdessen. „Ich schätze, wir haben schnell festgestellt, dass diese Antipathie, wie du sie nennst, auf Wrens asozialem Verhalten, seiner mangelnden Intelligenz und Missverständnissen seinerseits beruht. Als wir das dann geklärt hatten, haben wir uns direkt gut verstanden."

Meine Augen weiten sich angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der Archer seine Ansage abliefert. Langsam drehe ich den Kopf in Wrens Richtung, dessen Stirn in Falten liegt. Seine Lippen bilden eine schmale Linie und ich überlege, mich mit einem Moonwalk im Rückwärtsgang aus dieser brenzligen Situation zu verkrümeln wie Nick Miller in New Girl. Leider versperrt mir ein Baumstamm den Fluchtweg.

Wren prustet plötzlich los und auch Archers Mundwinkel zucken, bevor er ebenfalls in Gelächter ausbricht. Mich hingegen nagelt eine Mischung aus Ungläubigkeit, Erleichterung und milder Belustigung an Ort und Stelle fest.

„Ach, halt die Klappe", entgegnet Wren, bevor er meine Frage ernsthaft beantwortet: „Ich glaube eher, es liegt daran, dass wir beide nicht sonderlich nachtragend sind. Außerdem ist die ganze Situation so schon verrückt genug." Mit einer ausladenden Armbewegung deutet er auf unsere Umgebung und ich verstehe, was er meint. Denke ich.

Meine Schwester ist verschwunden und wenn wir sie finden wollen, sollten die Befindlichkeiten des Einzelnen hinten anstehen. Wir müssen im Team zusammenarbeiten.

„Das freut mich", antworte ich. „Ohne euch hätte ich nicht gewusst, wo ich anfangen soll, geschweige denn die Kette gefunden. Ich habe euch schon jetzt viel zu verdanken. Wirklich, Danke."

„Gern geschehen und du bist in unserem Zuhause immer willkommen. Das Gästezimmer gehört dir, solange du es brauchst." Archers Hand landet schwer auf Wrens Schulter. „Dasselbe gilt für dich. Du kannst die Hundehütte haben. Rover schläft schon lange nicht mehr draußen."

„Na danke auch", erwidert Wren. „Aber nein danke. Mallory und ich bleiben im Ferienhaus, das ihre Eltern für uns angemietet haben."

Archer schiebt seine Unterlippe hervor, ringt sich aber ein Lächeln ab.

„Oh, okay, das ergibt Sinn", höre ich ihn sagen, während ich meine schlammigen Wanderschuhe betrachte, als wären sie das interessanteste, das ich seit Langem gesehen habe. Was er gerade erfahren hat, gefällt ihm ganz offensichtlich nicht. Aber er hält sich zurück, respektiert die Grenze, die ich zwischen uns gezogen habe. „Dann kommt wenigstens mal zum Essen oder auf einen Kaffee vorbei", fügt er hinzu.

„Eigentlich ...", beginnt Wren und legt dabei eine Hand um die Rückseite seines Halses. „Also, ich hatte irgendwie gehofft, du könntest mich nachher nach Nitinat fahren? Mein Mietauto ist dort geparkt. Und ich habe im Ferienhaus einiges an Informationen und Hinweisen zusammengetragen. Vielleicht können wir da ja alle gemeinsam drüberschauen?"

Wren blickt zwischen uns hin und her. Ich halte die Luft an, als ich auf Archers Antwort warte.

Wir sammeln uns vor einer hölzernen Plattform. Unser Gruppenleiter nutzt sie als Bühne für eine letzte Ansprache. Ich knete meine rechte Wade, die ich mir beim Abstieg einen Felsabhang hinuntergezerrt habe.

„So ihr Lieben, wir haben es offiziell geschafft: Fünfundsiebzig Kilometer West Coast Trail in sieben Tagen. Schöne Team-Abende am Lagerfeuer, grandiose Landschaften und das ein oder andere Schlammbad liegen hinter uns." Beim letzten Punkt zwinkert er in Emmabelles Richtung. Ihr Kichern hallt zwischen den Baumstämmen wieder. Es freut mich, dass sie inzwischen mit Humor auf ihren Unfall zurückblicken kann. „Übrigens liegt die Rekordzeit für die komplette Strecke bei unter zehn Stunden. Das sind dann die sogenannten Trailrunner." Kurz lässt er die Zahl auf uns wirken. „Könnt ihr euch das vorstellen - jetzt, wo ihr die gesamte Route kennt?"

Allgemeines Kopfschütteln geht durch die Runde. Keiner von uns kann sich ausmalen, fünfundsiebzig Kilometer voller Schlamm und Leitern in so einer kurzen Zeit zu bewältigen.

Hunter gesellt sich zu seinem Boss auf die Plattform. Hinter ihm fällt der bewaldete Abgrund steil ab, den wir gleich hinuntersteigen müssen. Zwischen den Bäumen schillert das türkisblaue Meer in der Sonne.

„Wie Shawn bereits sagte, haben wir ein paar ereignisreiche Tage hinter uns und ich möchte mich bei euch bedanken. Ihr wart eine super entspannte Gruppe", wirft er in die Runde. „Hoffentlich könnt ihr ein paar schöne Erinnerungen nach Hause mitnehmen. Seid bitte vorsichtig beim Abstieg. Wenn wir unten sind, ziehen wir die Boje hoch, damit die Mitarbeiter des Fährunternehmens wissen, dass wir acht Uhr fünfundvierzig die Fähre in Anspruch nehmen möchten. Anschließend machen wir noch ein Gruppenfoto."

Mit Leitern habe ich inzwischen Frieden geschlossen, somit ist das letzte Exemplar kein Problem mehr für mich. Als Schlusslicht gehe ich den Abstieg als letzte an, während Harlow per Seilzug die gelbe Signal-Boje nach oben befördert, um unsere gewünschte Abholung zu signalisieren.

Bei der Fähre handelt es sich um einen kleinen Metallkahn, der uns zu einem schmalen Bootssteg bringt. Dieser ragt nicht ins Wasser hinein, sondern verläuft am Ufer entlang. Daran sind ein weißes Motorboot und zwei Gummi-Motorboote, eines davon von Parks Canada, festgemacht.

Das sattgrüne bewachsene Ufer fällt zum Meer hin ein wenig ab und ist von dunklen Steinbrocken übersät. Über eine Rampe gelangt man an Land, wo sich mehrere flache Gebäude und ein paar weiße Wohnwagen befinden. Das längliche milchig-grüne Spitzdach eines der Häuser leuchtet in der Sonne.

„Nicht zu fassen, dass die Woche schon rum ist. Ihr werdet mir fehlen", flötet Emmabelle, als sie sich in den halben Meter Abstand zwischen Astrid und mir drängelt.

Sie wirft mir einen Arm um den Hals, der mir den Pferdeschwanz einklemmt, sodass ich automatisch den Kopf in den Nacken lege. Das scheint Emmabelle in ihrer Überschwänglichkeit nicht mitzubekommen. Astrid, der sie einen fetten Knutscher auf die Stirn drückt, hat sie den Arm um die Schultern geschlungen.

„Oh mein Gott, ihr mir auch", stimmt Astrid mit glitzernden Augen ein. Wenn man eine Woche lang intensiv Zeit miteinander verbracht hat, ist es schwer, plötzlich wieder getrennte Wege zu gehen. Die Kopenhagenerin fügt hinzu: „Aber wir haben Nummern getauscht und vielleicht können wir uns ja noch einmal treffen, bevor ich nach Dänemark zurückfliege."

Unsere Gruppe löst sich endgültig in ihre Einzelteile auf, nachdem sich jeder von uns im Büro von Parks Canada abgemeldet hat.

Mit Wren, Archer und Hunter treffe ich mich draußen auf dem Parkplatz. Wilburs roter Pick-up-Truck ist neben einem schwarzen SUV geparkt.

„Hi Wilbur", mache ich den Mittfünfziger auf mich aufmerksam. Er lehnt in der offenen Autotür und hält den Blick stur auf seine Söhne, Wren und einen Mann mittleren Alters gerichtet, die sich vor dem schwarzen SUV versammelt haben. Der Fremde trägt dunkelblaue Jeans, mit einem weinroten langärmeligen Hemd, das er in den Bund gezogen hat und braune Lederschnürschuhe. Das schwarze, ergrauende Haar trägt er kurz. „Wilbur?", wiederhole ich seinen Namen zaghaft.

Der fährt mit einem Ruck zu mir herum und sagt: „Mallory, hallo. Es ist schön, dich wiederzusehen." Doch da schielt er auch schon wieder über seine Schulter.

„Was ist da los. Wer ist das?"

„Roland, der damalige Partner meiner ersten Frau. Er will die Jungs auf dem Präsidium befragen, aber keiner verrät mir, weswegen."

„Arch hat es geschafft. Die Polizei sucht nach meiner Schwester", entfährt es mir.

Wilburs Kopf fliegt zu mir herum. Ich kann förmlich hören, wie hinter seiner gerunzelten Stirn die Zahnräder ineinander greifen.

„Deiner was?"

„Cynthia Levisay, die junge Frau, die verschwundene Wanderin ist meine Schwester. Ich mache keinen Urlaub. Ich suche sie und Archer meinte, dieser Roland würde sich den Fall mal anschauen."

„Darum geht's hier also", seufzt Wilbur. Dann legt er mir die Hand auf die Schulter. „Ach Kind, warum hast du denn nichts gesagt? Geht es dir gut? Kann ich irgendwas tun?"

Ich spüre die Rückseite von Archers Hand, seine Fingerknöchel an meinem Oberarm, noch bevor er spricht: „Kannst du sie erst mal zu uns fahren?"

Mittlerweile erschrecke ich mich schon nicht mehr, wenn er aus dem Nichts an meiner Seite auftaucht.

„Klar. Kein Problem, mein Junge. Verrätst du mir dafür endlich mal, was die Geheimniskrämerei mit Roland soll? Warum wollte er mir nicht sagen, worum es geht?"

Archer seufzt.

„Hör zu, Dad, ich kann mir vorstellen, wie beschissen es ist, außen vor gelassen zu werden, aber du musst mir vertrauen, okay?" Wilbur studiert das Gesicht seines Sohnes. „Wir kommen direkt vom Präsidium aus nach Hause und erklären euch alles. Roland hat versprochen, uns heimzufahren."

„Aber-", beginnt Wilbur, bevor er von seinem Sohn unterbrochen wird.

„Direkt nach der Befragung, in Ordnung? Bitte, hab so lange Geduld."

Als sein Vater das schweigend hinnimmt, wendet sich Archer mir zu.

„Die Polizei übernimmt den Fall. Cynthias Foto und eine Kontaktnummer für Hinweise wurde heute Morgen auf der Homepage der Polizei veröffentlicht. Wenn ich nachher zurückkomme, kann ich dir bestimmt mehr sagen. Kommst du vorerst klar?"

Stumm nicke ich.

„Okay, dann bis später."

Dann verschwindet Archer zusammen mit Hunter und Wren in dem schwarzen SUV. Wilbur schaut ihnen hinterher, als sie vom Parkplatz rollen. Mit der flachen Hand trommelt er zweimal kurz auf das Dach seines Wagens, als sie weg sind.

„Na komm, fahren wir." Seine Schultern wirken steif.

Ich lasse den Kopf sinken, so sehr nagt das schlechte Gewissen an mir.

„Es tut mir so leid, dass ich deine Gastfreundschaft strapaziere und deine Söhne in meine Angelegenheiten mit hineingezogen habe. Ich wollte nie irgendjemandem Probleme bereiten."

„Mach dir keinen Kopf, Kindchen." Wilbur streicht beruhigend über meinen Rücken. „Kleine Planänderung. Ich hab meiner Frau zwar schon gesagt, dass ich es nicht rechtzeitig schaffe, aber wenn wir uns beeilen, klappt es vielleicht doch noch. Hüpf ins Auto."

Sooke versprüht die charmanten Schwingungen einer Kleinstadt aus Hallmark Filmen. Bisher habe ich hier weder Reihenhäuser noch Wohnblöcke entdeckt. Die Straßen sind im Vergleich zu Victoria natürlich schmaler und der Verkehr überschaubar. Überall mischen sich kleine grüne Flecken, Büsche und Bäume zwischen meist einzeln stehende Gebäude.

Wir werden langsamer. Wilbur lässt sein Schlachtschiff von einem Pick-up an den silbernen SUV vor uns heranrollen und schließlich ganz anhalten.

Auf der Suche nach einer vermeintlichen Ampel verrenke ich mir beinahe den Hals, finde aber keine. Es ist, als würden die Wagen vor und hinter uns grundlos stehen bleiben.

Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass es die entgegenkommenden Autos auf der gegenüberliegenden Seite genauso machen. Lediglich die überkreuzende Straße, vor der alle halten, wird weiterhin befahren. Was zur Hölle ist den hier los?

Die Frage liegt mir auf der Zunge, zumal bei einer Kreuzung vierer gleichrangiger Straßen mit Stopp-Schildern immer das Fahrzeug Vorfahrt hat, das als Erstes herangefahren ist. Wenn sich aus allen Richtungen Fahrzeuge nähern, hat immer das rechts von einem Vorrang.

„Was-", setze ich an, merke aber schnell, dass mir Wilbur keine Aufmerksamkeit schenkt. Seine Augen bleiben starr auf den fließenden Verkehr der überkreuzenden Straße gerichtet.

„Da ist sie. Gleich geht es los."

„Wer? Was geht los?", frage ich ungläubig.

Fünf Autos rollen über die Kreuzung. Das erste, ein oranger Jeep, bremst die Autos hinter sich - einen roten und zwei silberne Kleinwagen sowie einen dunkelblauen SUV - ordentlich aus, bevor er sie schließlich zum Anhalten zwingt.

Im Fahrzeug vor uns gehen die Türen auf. Korrektur: Die Insassen sämtlicher Fahrzeuge purzeln aus ihren Autos wie Erbsen aus ihren Schoten.

Wilbur wirft mir ein kurzes ›na komm‹ zu, bevor er es den anderen Verkehrsteilnehmern gleich tut. Draußen ertönen über eine schwarze Lautsprecherbox auf dem Dach des orangen Jeeps die ersten Klänge des Songs Kung-Fu Fighting - der neuen Version, die ich aus dem Animationsfilm Kung-Fu Panda kenne. Den haben Thia und ich schon etliche Male zusammen gesehen, als wir jünger waren.

Dutzende Menschen sammeln sich um die Kreuzung. Der Verkehr ist inzwischen vollständig zum Erliegen gekommen.

Cheerleaderinnen mit schwarz-weißen Uniformen und weißen Pompons steigen aus den zwei silbernen Kleinwagen. Sie bilden zwei Vierergruppen, die jeweils mitten auf der Kreuzung einen Liberty Stunt vollführen.

Dabei stehen sich zwei von ihnen, die Bases, gegenüber und heben eine weitere Cheerleaderin, die Flyerin hoch, bis diese mit einem Fuß auf den Handflächen der Bases zum Stehen kommt. Das andere Bein hat die Flyerin angewinkelt, während sie die Arme in die Höhe streckt wie eine Bodenturnerin, die gerade ihre Kür beendet hat. Die vierte Person, genannt Back Spot, hat der Flyerin in den Stunt geholfen und stabilisiert nun von hinten deren Knöchel.

Man könnte sagen, Bases und Back Spot bilden den Sockel, während die Flyerin die Freiheitsstatue repräsentiert.

Abgesehen davon, dass ich einige Begrifflichkeiten kenne, war Cheerleading noch nie mein Fall, allerdings kann ich nicht leugnen, dass mich das Können und die Disziplin dieser Turnerinnen beeindrucken. So sehr, dass ich die Typen in Panda-Aufmachung nicht gleich bemerke, die sich von den Seiten nähern und zu tanzen beginnen. Über ihren Ganzkörperkostümen tragen sie schwarz-weiße Trikots mit der Aufschrift Glacial Pandas. Darüber kann man die zähnefletschende Fratze eines solchen Tieres erkennen. Zwei Hockeyschläger bilden den Rahmen des Logos.

Ich lasse die Szene weiter auf mich wirken, bis mir ein Stuhl ins Auge sticht, der eben noch nicht dagewesen ist. Einer der tanzenden Pandas öffnet die Beifahrertür des roten Kleinwagens. Er hilft einer Frau um die sechzig aus ihrem Sitz heraus. Ich kann nur ihr graues, zu einem langen Zopf geflochtenes Haar erkennen und dass sie ihren langen roten Rock mit einem engen schwarzen Rollkragenpullover kombiniert hat.

Sie nimmt mit dem Rücken zu Wilbur und mir auf dem schlichten braunen Holzstuhl Platz. In dem Moment, als ihr Gesäß das Sitzkissen berührt, wird die Musik lauter. Die Fahrerin ist sichtlich verwirrt, als auch sie das Auto mit zaghaften Schritten verlässt und sich hinter der älteren Frau positioniert.

Die optische Ähnlichkeit und der Altersunterschied zwischen den beiden legen nahe, dass es sich um Mutter und Tochter handelt. Die jüngere Frau trägt ihr hüftlanges schwarzes Haar offen. Es schillert in der Sonne wie das Gefieder eines Raben und steht damit im krassen Kontrast zum hellroten Stoff ihres flatternden Sommerkleides.

Ich konzentriere mich wieder auf die tanzenden Pandas, von denen ich siebzehn zähle. Ihre Choreografie harmoniert mit der energetischen Natur des Songs. Dabei machen Kampfsport-Bewegungen einen Großteil der Abläufe aus.

In dem Moment stellen sie sich in einer aus drei Reihen bestehenden Formation auf. Jeder einzelne von ihnen stemmt seine Beine etwas mehr als schulterbreit in den Asphalt und winkelt die Knie an. Es sieht aus, als würde die Panda-Armee auf unsichtbaren Stühlen sitzen. Die Arme winkeln sie mit geballten Fäusten eng an ihrem Oberkörper an, die Handinnenflächen sind dabei nach oben gedreht. Dann drücken sämtliche Tänzer abwechselnd den linken und dann den rechten Arm nach vorn, als würden sie boxen. Die acht Cheerleaderinnen heizen derweil die Zuschauer an, mitzusingen, mitzuklatschen und durchzudrehen.

Der Moment ist magisch, Energie surrt durch die Luft, als wären wir alle durch unsichtbare Drähte miteinander verbunden. Zusammengehörigkeit - und sei es auch nur für den Moment - rollt in Wellen über uns hinweg. Ich bin mir sicher, dass die anderen Anwesenden das ebenfalls spüren können.

„Da drüben ...", lässt mich Wilburs Stimme plötzlich zusammenzucken. Mit dem Zeigefinger deutet er auf ein einzelnes quadratisches, weißes Gebäude. „Das ist die Dialyse-Einheit. Die Frau im Stuhl heißt Perla Gerring. Sie ist die Mutter von Sue Ellens bester Freundin Evie. Perla leidet seit Jahren unter einer chronischen Nierenerkrankung und dieses Jahr wurde es so schlimm, dass sie schweren Herzens ihre Anstellung als Highschool-Lehrerin aufgegeben hat. Sie muss zukünftig mehrmals pro Woche für einige Stunden herkommen. Die Kids sind ihre ehemaligen Schüler und wollen am Tag ihrer ersten Dialyse für die Frau da sein, die ihnen so viel gegeben und beigebracht hat."

Meine Augen prickeln, so sehr rühren mich Wilburs Worte. Und als zwei Pandas ein Banner mit der Aufschrift ›Not only do you have to fight, but you have got to win!‹ aufflattern lassen, just in dem Moment, als CeeLo Green dieselben Textzeilen singt, kann ich die dicken Krokodilstränen nicht mehr zurückhalten, die meine Wangen hinunterkullern.

Wie vorhin auf dem Parkplatz schon, legt mir Wilbur tröstend den Arm um die Schulter. Er riecht nach Holz und frisch geschnittenem Gras, nach sonnenwarmen Steinen - und Heimat.

„Liebe Mrs. Gerring", ertönt eine Stimme nicht aus den Lautsprechern, aber aus einem Megafon. Einer der Tänzer hat sich den Pandakopf unter den Arm geklemmt. Das lange glatte blonde Haar steht in alle möglichen Richtungen ab. „Sie waren die beste Lehrerin, die wir uns hätten wünschen können. Es ist schade, dass Sie Ihren Beruf aufgeben mussten, aber wir sind dankbar, dass wir Sie noch bis zum Abschluss in unserem Team hatten. Dass es Ihnen nicht gut geht, macht uns alle traurig, aber wir lassen Sie jetzt nicht allein."

Perla Garrings Schultern zucken in einem unregelmäßigen Rhythmus. Ich bin mir sicher, dass sie weint.

Der Sprecher nähert sich ihr weiter, steht vielleicht noch zwei Meter von ihr entfernt, während sich hinter ihm sämtliche Pandas von ihren Köpfen befreien.

„Wir haben eine Tabelle erstellt, die Sie mit den Daten und Uhrzeiten Ihrer Dialysebehandlungen befüllen können. Wir sorgen dafür, dass sich für jeden einzelnen Termin jemand findet, der Sie zur Behandlung fährt und wieder abholt, damit Ihre Tochter weiter arbeiten gehen kann und Sie kein Taxi nehmen müssen. Sie waren immer für uns da und jetzt möchten wir das zurückgeben."

Diese Jugendlichen haben einen Flashmob und eine Fahrgemeinschaft für ihre Lehrerin organisiert. Wie wundervoll ist das denn bitte?

„Du siehst also", dringt Wilburs Stimme in mein Ohr, „so etwas wie strapazierte Gastfreundschaft gibt es bei uns nicht. Hier kümmert man sich umeinander und das schließt auch dich mit ein. Du bist im Zuhause meiner Familie nicht nur willkommen, Mallory, sondern wir haben immer ein offenes Ohr, eine Tasse Kaffee und eine helfende Hand für dich", sagt Wilbur. Tränen verschleiern mir die Sicht, weshalb ich zu Boden schaue. „Meine Frau ist da drüben. Gehen wir rüber und fragen sie, ob sie Lust auf ein paar Waffeln oder Pfannkuchen vom Diner hat, in Ordnung?"

„J-ja", stammle ich zurück. Wie kann eine Familie nur so zauberhaft und gutmütig sein?


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