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X - Wortflucht
Hanna schrieb, flüchtete sich in Worte. Füllte Zeile um Zeile, Seite um Seite. Da war kein Raum für die Unordnung, die sie umgab. Da war kein Raum für Gedanken. Da waren nur Hanna und ihre Geschichte. Benutzte Kaffeetassen warteten geduldig, ob in der Spüle oder im Bücherregal. Es war ihnen gleichgültig, wo sie ihr Dasein fristeten.
Wenn eine kosmische Regel besagt, dass alle Dinge der Unordnung entgegen streben, so ist das nichts, dem wir uns kampflos fügen müssen. Der Mensch kämpft dagegen an, indem er aufräumt und seine Umgebung in künstliche Ordnungen presst: Das Periodensystem der Elemente. Die Einteilung der Zeit in Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen und Monate.
Wir pressen unsere Gedanken in Wort und Schrift. Halten sie ordentlich auf genormten Seiten fest, damit kein Buchstabe verloren gehen kann. Ordnung gewinnt vielleicht am Ende, aber wie so oft im Leben siegt nicht immer das Gute. Vielleicht wäre Unordnung genauso gut und wir wissen es bloß nicht, weil wir uns nicht trauen, loszulassen? Weil wir Angst haben, die Kontrolle zu verlieren, wenn wir es doch tun.
Zufrieden mit ihrem Schlusswort ging Hanna zu Bett, nicht ohne die Geschichte auf dem Datenträger abzuspeichern. Mit einem Lächeln auf den Lippen glitt sie in dieser Nacht ins Traumreich hinüber. Die Geschichte des tragischen Liebespaares war zu einem Ende geführt und sie spürte, dass sich auch der Knoten in ihrem eigenen Gefühlsleben bald auflösen würde.
Da hatte sich einiges aufgestaut, aber jetzt war sie frei und hatte Zeit, sich all den Problemen zu widmen, die sie bisher nur zur Seite geschoben und ignoriert hatte.
Sie schlief unruhig, wälzte sich auf ihrem Bett hin und her. Da war ihre Heldin, wie sie am Fenster stand, hinausschaute und über ihr Leben sinnierte. Aber es war gar nicht die Protagonistin. Auf einmal war es Hanna selbst, die dort stand und eine Kaffeetasse in der Hand hielt. Sie schaute auf die Straße hinunter, aber alles, was sie sehen konnte, war Dunkelheit. Finsternis umgab sie. Überall undurchdringbare Schwärze. Und in ihrem Kaffee fehlte die Milch. Deshalb kann ich nichts sehen, dachte Hanna noch und dann schepperte etwas. Scherben. Die Tasse war zu Boden gefallen und zu Bruch gegangen.
Mit einem Satz saß Hanna im Bett. Nur einzelner Lichtstrahl flutete durch die geschlossenen Jalousien von den Straßenlaternen herein. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Es war mitten in der Nacht. Sie hatte geträumt und dabei die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit vermischt, wie es ihr so oft passierte. Nichts Ungewöhnliches, aber es würde eine Weile dauern, bis sie die beiden Welten wieder voneinander getrennt hatte.
Ihre Atmung ging unruhig und sie schwitzte. An Schlaf war nicht mehr zu denken und so erhob sie sich. Sie schüttelte den Kopf. Keinen Kaffee, aber einen Schluck Wasser brauchte sie jetzt. Was ihr Unterbewusstsein manchmal zusammenreimte.
Sie schlurfte barfuß über den Flur in Richtung Küche. Der Raum lag dunkel vor ihr. Etwas nagte am Rand ihres Bewusstseins, aber sie konnte es nicht greifen. Mit jedem Schritt nahm die Gewissheit zu. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie wusste nicht was. Alles war still. Nur Hannas Herz pochte.
Da war die Tür zum Badezimmer. Geschlossen, damit es nicht kühl in die Wohnung zog. Hanna sog scharf die Luft ein. Ein eiskalter Schauer legte sich über ihre Haut. Die Tür zu ihrem Arbeitszimmer stand weit offen. Hanna erinnerte sich, diese zugezogen zu haben, in einem symbolischen Akt und dem nutzlosen Versuch, die Arbeit hinter sich zu lassen. Abzuschließen, sich abzugrenzen. Auch diese Geschichte hatte sie bis in die Träume verfolgt. Oder hatte sie doch vergessen die Tür zu schließen? Kein Wunder, wenn ihr Unterbewusstsein sie ob dieses Versäumnisses nicht in Ruhe ließ.
Hanna ignorierte die Gänsehaut auf ihren Armen.
Sie schlich näher und spähte in den Raum. Und mit einem Mal setzte ihr Herz aus.
Da stand ein Schatten mit dem Oberkörper über ihren Schreibtisch gebeugt. Finger huschten über die Tastatur ihres Notebooks, das Gesicht und die dunklen Locken vom Monitor erleuchtet.
Hanna erkannte das geöffnete Dokument sofort. Das war ihr soeben beendetes Manuskript. Sie trat näher und erhaschte einen Blick.
Nimm mich zurü – stand da. Fett markiert.
»Olivia!«
»Hanna.«
»Du?« Ein verlorener Laut in der Dunkelheit, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
»Ich-« Wie ein verirrtes Echo. Stille. Dann räuspern. »Lass uns reden.«
Alle Dinge streben der Unordnung entgegen oder dem Ende. Das Ende einer Geschichte ist der Anfang einer neuen – und manchmal, da löst reden wirklich Probleme. Aber das ist eine andere Geschichte.
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(4908 Wörter)
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