IV
IV - Entkommen
Und wenn es nicht mehr anders ging, ging Hanna spazieren. Bewegung, frische Luft, Zeit zum Nachdenken, zum Herunterfahren. Manchmal merkte sie überhaupt nicht, wo sie entlanglief. Nur mit Glück war sie bisher immer heil wieder nach Hause zurückgekehrt.
Auch dieses Mal versagte die Rettungsroutine nicht. Hannas Bewusstsein war nicht bei dem kleinen Wäldchen, das sie gerade durchquerte. Nicht bei dem Gezwitscher der Vögel oder der Würze der Waldluft. Hannas Bewusstsein war tief nach innen gerichtet. Hanna verirrt in den Wirrungen ihrer Gedanken. Der Körper marschierte auf Autopilot.
Sie liebte Geschichten, in denen kein Happy End in Sicht war. Geschichten voller Tragik und verpasster Chancen. Trennungen unter unglücklichen Umständen, bei denen beide litten. Manchmal war man miteinander genauso unglücklich wie ohne den anderen. Es gab Menschen, die waren zum Alleinsein bestimmt. Hanna bewunderte Autoren, denen es gelang, ihre Figuren seitenlang leiden zu lassen ohne Aussicht auf Licht und Liebe, nur um dann im letzten Moment doch noch eine glückliche Fügung des Schicksals ins Bild zu zaubern. Schmerz. Wut. Trauer. Paukenschlag und Ende. Solche Geschichten ließen ihr Herz höher schlagen und genau so eine Geschichte war es, die sie schreiben wollte.
Mit diesem Wunsch schleppte sie sich in dieser Nacht zu Bett. Erschöpfung und Übermüdung taten ihr Übriges. Sie hatte ihr Notebook aufgeräumt und ihre Schlafzimmertür abgeschlossen. Als sie erwachte, glaubte Hanna, endlich ruhiger geschlafen zu haben. Geschlafwandelt war sie ganz sicher nicht.
Sie fühlte sich frisch und erholt, als sie sich mit ihrer Kaffeetasse und ein paar Keksen an den Schreibtisch begab.
Voller energiegeladener Entschlossenheit fuhr sie den Rechner hoch und öffnete das Dokument. Sie hatte schon einige Kapitel geschafft und scrollte bis ans Ende.
»Das darf doch nicht wahr sein! «, entfuhr es ihr. Sie rieb sich über die Augen. Blinzelte, schaute erneut. Warf einen Blick über die Schulter in den Raum. Das übliche Durcheinander an Notizzetteln, leeren Tassen, Textmarkern und Stiften, nichts Besonderes.
Erneut schaute sie auf den letzten Satz, der sich fett gedruckt von den anderen, den ihren, abhob. Sie schüttelte den Kopf.
Nur was man ziehen lässt, kommt zu einem zurück.
Was passierte hier gerade?
Wanderten ihre Gedanken irgendwie auf magische Art in dieses Manuskript? Daraus ließe sich sicher auch eine Geschichte spinnen, aber normal war das nicht. Geschichten sollte man sich ausdenken, nicht erleben. Sonst würde das kein fiktionaler Roman werden, in dem alles möglich war, sondern ihre Autobiografie, und wer wollte das schon lesen – so langweilig und eintönig, wie ihr Leben war. Geprägt von schlaflosen Nächten, Unordnung, Kopfschmerzen und Verspannungen.
Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Ob in ihrem Kopf oder in ihrer Geschichte, ober in beidem, Hanna vermochte es nicht zu sagen.
Sie massierte ihre Schläfen, rieb sich über die Stirn, atmete ein paar Mal ein und aus, während sie erwog, nach dem nächsten Psychodoktor in ihrer Stadt zu googeln. Sie wurde doch nicht langsam verrückt?
Entschieden schob sie diesen Gedanken von sich. Dafür war jetzt keine Zeit, der Psychiater musste warten. Sie machte einen Screenshot, öffnete ihr Mailprogramm und schickte die Bilddatei an ihren Bruder.
Hey Philipp,
ich brauche mal kurz deine Hilfe bei meinem neuesten Projekt.
Lies mal bitte den letzten Satz. Was steht da?
PS: Heute Abend schicke ich dir noch einmal einen Text.
Nicht wundern. Ich erklär's dir später! Ist nur ein Experiment.
Hanna
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