Kapitel 2
Nachdem ich den größten Teil meines Nachmittags in der Kletterhalle verbracht hatte, betrat ich das neue, moderne Haus in der Vorstadt, in dem ich mit meiner Patchwork-Familie wohnte. Der Flur war genauso penibel sauber gehalten wie der Rest des Hauses und ich konnte die Stimme meiner Mutter schon in meinem Hinterkopf schimpfen hören, als ich meine dreckigen Converse neben der Schuhmatte abstellte. Da ich aber keine Lust auf eine stundenlange Diskussion mit meiner nervigen Mutter hatte, korrigierte ich den "fatalen Fehler", wie sie es betitelte und schob meine Schuhe auf die Matte. Als ich meine Mutter dann aus dem Augenwinkel in der Küche entdeckte, stieg der Hass in mir auf und wollte mir die Luft zu atmen rauben. Ihre Haare, die dieselbe rötliche Farbe hatten, wie meine, waren in einem strengen Dutt zusammen gefasst und ihr eigentlich recht hübsches Gesicht wurde von einer angestrengten Miene verschandelt. Allein an ihrer unentspannten Haltung war schon zu erkennen, dass sie heute noch schlechtere Laune hatte als sonst.
Dabei sollte man mich nicht falsch verstehen, meine Mutter war keine unfreundliche und fiese Frau. Schließlich arbeitete sie beim Jugendamt und musste mit Menschen gut umgehen können, darin war sie sogar sehr gut. Der Punkt war nur, dass sie dachte, dass meine Erziehung gescheitert war und sie mich deswegen einfach nicht leiden konnte. Als ich acht Jahre alt war, verließ sie meinen Papa und mich, um mit einem anderen Mann zusammen zu sein.
Damals war meine Weltanschauung erschüttert und ich fing an meine Mutter zu hassen, was dazu führte, dass sich die Beziehung und die Liebe zu meinem Vater um das dreifache verdoppelte. Mein achtjähriges-Ich vergötterte den verpeilten Franzosen, den ich meinen Papa nennen durfte und mein 17-jähriges-Ich tat es noch immer. Meiner Meinung nach hatte er mich zu einem besserem Menschen erzogen, als meine Mutter es je hätte tun können. Ich war ihm viele glückliche Jahre in meinem Leben schuldig, in denen er mich lehrte, immer an mich selbst zu glauben und auf mich stolz zu sein. Er brachte mir bei, keine Angst vor der Zukunft zu haben und immer für mich selbst und das was ich tue einzustehen. Er war ein wundervoller Mensch, der jedoch aufgrund seiner Arbeit vor einem Jahr nach Schottland ziehen musste und mich in Hamburg mit meiner mich hassenden Mutter, einem strengen Stiefvater und meinem kleinen Halbbruder Emil allein ließ.
Seitdem lebte ich hier. Auch wenn das nichtmal die richtige Beschreibung dafür war, denn ich versuchte so wenig Zeit wie möglich in diesem Haus zu verbringen und wenn ich hier war, ging ich ihnen allen aus dem Weg. Wie auch in diesem Moment, in dem ich versuchte die Treppe leise hinunter in mein Zimmer zu schleichen. Doch mein Stiefvater Sebastian kam mir zuvor.
"Warum kommst du erst so spät?", fragte er mich mit einem schneidenen Tonfall, verengte die Augen zu schlitzen und blickte mich abwartend an. Völlig perplex, da ich ihn nicht aus dem Wohnzimmer hatte kommen sehen, hob ich die Sporttasche mit der Kletterausrüstung hoch, damit er sie sehen konnte. Als er die Tasche mit dem Logo erkannte, nickte er und erteilte mir barsch den Befehl, gleich mit ihnen Abend zu essen, bevor er sich abwandte und in die Küche gehen wollte.
"Ich kann nicht", rief ich schnell, wobei sich meine Stimme fast überschlug. Auf keinem Fall wollte ich an einem Familienessen länger als nötig teilnehmen und meine vorhandene Zeit zum duschen lief sowieso gerade ab. "Warum nicht?!", fuhr er mich aggressiver an, als nötig und ich konnte mich gerade noch davon abhalten, zurück zu zucken. Doch anstatt ängstlich zu reagieren, nervte mich sein Tonfall eher und so erklärte ich ihm in einem vielleicht zu angepissten Tonfall: "Ich habe einen Job im Kino angenommen, dass bedeutet, dass ich jetzt abends oft nicht da sein werde und heute ist mein erster Tag, da muss ich pünktlich kommen."
Nun nickte er im Einverständnis mit der Tatsache, dass ich arbeiten ging und er mich abends nicht mehr zu Gesicht bekam, wobei er meinen genervten Tonfall einfach ignorierte. Mit diesem Nicken entließ er mich und ich sprintete die Treppe hinunter, um das kleine Kellerzimmer zu betreten, dass ich bewohnte, solange ich hier wohnte. Der Schein des spärlichen Lichts, dass durch das einzige und vor allem winzige Fenster des unpersönlichen Zimmers fiel, fiel ausschließlich auf mein Bett.
Also erhellte ich alle Lichtquellen, die in diesem winzigen Zimmer vorhanden waren und öffnete in Hast die Kommode, um ein ein langes, schwarz-weiß gestreiftes Oberteil und eine meiner weiten Mom Hosen aus den Schubladen herauszuziehen. Eine Weile lang wühlte ich nach meinen gestreiften Glückssocken und ich hatte Glück: sie waren gerade frisch gewaschen worden und lagen neben der Kommode, weswegen ich sie in der Kommode nicht entdeckt hatte. Dazu zog ich noch ein rotes Bandana aus einer der Schubladen und ließ die Kommode in einem heillosen Durcheinander zurück, was mich in diesem Moment nicht wirklich störte.
In einer Rekordzeit von zehn Minuten hatte ich es geschafft zu duschen, meine Haare zu waschen und sie zu föhnen, worauf ich besonders stolz war. Zurück in meinem Zimmer, fasste ich die Haare dann doch noch in einem Zopf zusammen, nachdem ich eine Minute damit vergeudet hatte, unschlüssig vor dem Spiegel zu stehen. Schnell hatte ich mich noch geschminkt, hatte Mantel und kleinen Rucksack geschnappt und joggte die Treppe nun langsam wieder hoch. Ohne mich zu verabschieden, rauschte ich aus der Tür, denn vermissen würde mich sowieso niemand.
Es waren keine 100 m bis zur nächsten Bushaltestelle, welche mich dann zurück in die Innenstadt verfrachtete. Glücklicherweise hielt der Bus genau vor dem Kino mit dem Name "Passage Kino". Es war ein sehr altes Gebäude, welches nun in ein edles Kino, mit roten Sesseln, roten Teppichen und elegantem Inventar ausgestattet worden war. Der Duft von warmen Popcorn erfüllte die Luft und ließ mich befürchten, dass mein Bauch gleich anfing zu knurren, weil es so köstlich roch und mein Magen und ich Popcorn einfach vergötterten. Doch sobald ich die Eingangshalle betreten hatte, bereute ich es, dass ich nichts schickeres angezogen hatte, sondern einfach meine Lieblingssachen, in denen ich mich wohlfühlte. Denn mit meinem gemütlich, lässigen Stil passte ich so gar nicht in das Ambiente. Aber ich hatte mal wieder handeln müssen, bevor ich nachgedacht hatte, dass war zugegeben nicht so schlau gewesen.
Als mir das bewusst wurde, wurde mir plötzlich ganz mulmig zumute und ich fing wieder an, mit den Finger auf meinem Oberschenkel herum zu trommeln. Unschlüssig stand ich im Eingang des Kinos und war mir nicht sicher, zu wem ich jetzt gehen sollte, um mich anzumelden und das verunsicherte mich noch mehr. Seit wann war ich denn so unsicher, fragte ich mich und schluckte den Gedanken an komplettes Versagen gleich wieder hinunter. Ich durfte nicht versagen, weswegen ich einen ruhigen Atemzug nahm, die Hände kurz zu Fäusten ballte, um das Bedürfnis meiner Finger zu unterdrücken und dann mit festem Schritt auf die Theke zu zu gehen. Dort stand ein junges Mädchen, die wahrscheinlich eine meiner neuen Kolleginnen war.
"Hallo", begrüßte ich sie mit einem freundlichen Lächeln, "Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag und wollte fragen wo ich mich melden soll?" Sie schaute von ihrer Arbeit auf und blickte mich mit einem strahlenden Lächeln an. "Dann bist du also Maxime", stellte sie überrascht fest und reichte mir über den Tresen die Hand. Mit einem verwegenen Grinsen bemerkte sie: "Ich hatte irgendwie eine Person des männlichen Geschlechts erwartet."
Zustimmend nickte ich mit einem leichten Lächeln und schüttelte kurz ihre Hand, bevor ich erklärte: "Ja das passiert mir häufiger und deswegen reicht Max vollkommen." Damit brachte ich sie kurz zum Lachen, welches so mitreißend war, dass ich ein Kichern nicht unterdrücken konnte und als sie nach hakte, ob mir denn bewusst wäre, dass Max auch ein Jungenname war, wusste ich auch warum sie lachte. "Das stimmt", gab ich grinsend zu, da ich mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht hatte, stellte ich nun fest, dass es nur einen bestimmten Grund gab, warum ich jedem sage, man solle mich Max nennen.
"Max klingt einfach besser als Maxime schätze ich", bemerkte ich belustigt und betrachtete das Mädchen kurz, welches mir zustimmend zunickte. Von ihrem Stil passte sie perfekt hier rein, ihr strahlendes Lächeln wirkte sehr ehrlich und einladend auf Menschen. Generell machte sie einen lieben und freundlichen Eindruck und ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich auch denselben Eindruck auf Menschen machen konnte. Meine Stärken lagen eher im Sarkasmus und im Witze reißen, nicht im freundlich sein.
"Also, ich bin Monica und wenn du mitkommst, kann ich dir gleich zeigen wo du hin musst", erklärte sie mir und ich stellte fest, dass ihr Name auch noch perfekt auf sie selbst passte. Weil ich nicht geantwortet hatte, legte sie den Kopf leicht schräg und blickte mich fragend an. "Ja klar, das wäre super", antwortete ich hastig und warf ihr ein leichtes Lächeln zu. Sie nickte wieder mit dem perfekten Lächeln auf den Lippen und während sie sich umdrehte, winkte sie mich zu ihr, um zu signalisieren, dass ich ihr folgen sollte. Um ihr nicht lästig hinterher zu tippeln, beeilte ich mich, sodass wir auf einer Höhe liefen.
Wir gingen an der Treppe zu den Kinosälen vorbei und durch eine Tür, auf der "Personal" stand. Dahinter befanden sich Fächer für die Angestellten und eine weitere Tür, auf welche Monica nun deutete. "Da musst du rein. Sie sagt dir was zutun ist", versprach sie mir und gab mir einen vorsichtigen Stups. Bevor ich in den Raum hinein ging, drehte ich mich noch einmal um und bedankte mich bei ihr. Sie grinste mich eifrig an und machte eine scheuchende Handbewegung in Richtung der Tür hinter mir.
Mit einem Nicken, drehte ich mich um und klopfte an der Tür. Als eine weibliche Stimme, mit einem: "Ja", antwortete, öffnete ich die Tür sachte und trat in den Raum. Hinter dem Schreibtisch saß die Frau, mit der ich mein Vorstellungsgespräch hatte und sie fing an zu lächeln, als sie mich erblickte. "Ach ja, Maxime. Setz dich", begrüßte sie mich erfreut und deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Hastig zog ich meinen Rucksack ab und stellte ihn neben mir auf den Boden ab, während ich mich auf den gemütlich aussehenden Stuhl setzte. Meine Hände, die auf den Armstützen lagen, trommelten lautlos auf ihnen herum und ich spürte das glatte Holz unter meiner Handfläche.
Die Frau, welche nun meine Chefin war, fing an mir zu erklären, wie das hier im Kino ablief und ich versuchte alles in mir aufzunehmen. Als sie fertig war, stand sie auf und kam um den Tisch herum auf meine Seite und auch ich stand auf, um ihr zu folgen. Mit gerunzelter Stirn blickte sie auf ihre Armbanduhr und murmelte vor sich hin: "Wo bleibt denn nu-"
Da wurde sie von dem schwungvollen öffnen der Tür unterbrochen. Augenblicklich schoss mein Blick zur Tür, zu der ein großer Junge, mit geröteten Wangen, verwuschelten Haaren und schwer gehendem Atem herein stürmte.
"Es", keuchte er gehetzt und holte tief Luft, bis er seinen Satz vervollständigen konnte: "tut mir leid, dass ich zu spät bin!" keuchte er und stützte sich auf dem Türgriff ab, hielt den Blick nach unten gesenkt und versuchte tief ein und auszuatmen. Vollkommen perplex, war die einzige Frage, die in meinem Kopf herumschwirrte, wie lang er wohl gerannt war, um so außer Atem zu sein.
Auch meine Chefin schien etwas überrascht, doch fasste sie sich schnell und beruhigte ihn im sanften Tonfall: "Alles in Ordnung. Schieben wir es auf den Bus, ich weiß doch, dass der bei dir immer zu spät kommt. Aber jetzt wo du gerade hier bist, kannst du Maxime auch alles zeigen, dann kann ich mich wieder den Rechnungen zuwenden."
Er nickte hastig und schaute dann auf, um mich zu betrachten, als hätte er mich gerade erst bemerkt und für einen kurzen Moment schien er verblüfft. Doch dann nickte er mir zu und verkündete: "Ich bin Léon."
"Max", erwiderte ich seine kurze Vorstellung und wunderte mich über die italienische Aussprache seines Namens. Auch schon im vorherigen Satz hatte man diesen italienischen Akzent raushören können, was mich zu der offensichtlichen Schlussfolgerung brachte, dass er Italiener war. Erst jetzt fiel mir auf, wie gut er aussah und nun war ich an der Reihe verblüfft auszusehen. Nicht das ich überrascht war, einen so gutaussehenden Kerl im Kino arbeiten zu sehen. Aber verblüfft, weil ich das nicht vom ersten Augenblick an gemerkt hatte.
Sein gebräunter Hautton verriet seine südländische Herkunft und die vom Wind zerzausten, tiefschwarzen Haare, die nach oben abstanden, waren unglaublich attraktiv. Seine Augen strahlten mir in einem hellen Grünton entgegen, der überaus selten sein musste. Dazu war seine Statur auch noch schlank und athletisch, ja sein ganzes Antlitz war zum dahin schmelzen. In meinem Kopf stellte ich mir vor, wie gut er wohl ohne den Rollkragenpullover aussehen würde, doch bevor ich nun tatsächlich anfangen würde zu sabbern, schüttelte ich den Kopf, um meine Gedanken zu klären.
"Alles in Ordnung?", fragte der Schönling irritiert und völlig aus den Gedanken gerissen, blickte ich neugierig zu ihm auf. Als ich endlich, immer noch von seinem Aussehen geblendet, begriff was er von mir wollte, nickte ich hastig und murmelte: "Ja, klar. Alles gut." Mit gerunzelten Augenbrauen nickte er, für einen Moment schien es noch so, als wolle er etwas neckendes anmerken, denn ein freches Grinsen huschte über sein gesicht, doch dann entschloss er sich, es nicht zu tun und schlug stattdessen vor: "komm mit, ich zeig dir alles."
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