2.2
Als ich an einem verregneten Morgen aufwache, bin ich allein in meiner Zelle. Von James fehlt jede Spur genau wie von meinem Fieber. Habe ich ihn mir doch nur eingebildet? Doch sind die Sorgen, die ich mir um ihn zu machen beginne, nicht der Gegenbeweis dazu? Wie könnte ich mich um jemanden sorgen, der nur in meiner Vorstellung existiert? Einige Zeit verbringe ich so mir den Kopf darüber zerbrechend und hoffnungsvoll den Zelteingang beobachtend. Jeden Moment könnte er hereinkommen, aber ich warte und warte. Doch nichts geschieht.
Stattdessen versuche ich mich abzulenken und lausche dem Prasseln der Regentropfen auf der Zeltdecke. Dann zähle ich die dicken Wassertropfen, die durch ein Loch hindurch vor mir auf dem Boden aufprallen und eine kleine Pfütze bilden, aber höre damit auf, als ich bei 231 angekommen bin, weil ich glaube mich verzählt zu haben. Stattdessen verfolge ich einen kleiner Strom, der sich seinen Weg durch die Nachbarzelle hindurch bahnt, und sich schließlich an der Zellentür aufstaut, wo er einen sich rasch vergrößernden Stausee bildet. Gespannt beobachte ich wie dieser nach einigen Minuten den Damm überwindet und seinen Weg unter einem Stuhl hindurch fortsetzt. Bevor es auf den Zeltausgang zusteuert und dort mit einem lauten Platsch! von schweren Stiefeln in alle Himmelsrichtungen verteilt wird.
Eine in einen Regenmantel gehüllte Person tritt ein. Der Mann klopft sich zuerst das Wasser von der Kleidung während die beiden Wachen ihn erwartungsvoll anblicken. Auch meine Aufmerksamkeit besitzt er voll und ganz. Es ist das spannendste Ereignis, seit man mich in diese Zelle gesperrt hat. Als er seine Klamotten anscheinend für trocken genug hält, tritt er aus der Pfütze heraus, die sich um ihn herum gebildet hat und wechselt einige Worte mit den Wachen.
Ich frage mich gerade was sie wohl zu bereden haben, als sie aufstehen und gemeinsam in meine Richtung gehen. Mit einem lauten Klacken schließt einer von ihnen die Tür zu meiner Zelle auf und der, der gerade herein gekommen ist, tritt ein. Hinter ihm fällt die Gittertür laut scheppernd ins Schloss.
"Stand up.", weißt er mich an. Unter seiner Kapuze sieht er mich aus braunen Augen an. Sein Blick sagt mir, dass er keinen Widerspruch dulden würde und ich meine einen nervösen Unterton herausgehört zu haben, der entweder daher kommt, dass ich wohl das erste weibliche Wesen bin, dem er seit Monaten begegnet ist oder dass ich ihm Angst einjage. Warum ich so angsteinflößend auf ihn wirken mag, kann ich nicht sagen, wobei mir ersteres der wahrscheinlichste Grund für seine Nervosität zu sein scheint. Welche anderen Gründe es noch geben mag, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Doch wie streng würde er sein? Kann er sich denn überhaupt durchsetzen? Ich würde es gleich testen.
Also stehe ich in aller Ruhe auf, streiche mir gemächlich mein Kleid glatt und fahre mir zu guter Letzt noch mit den Fingern durch meine Haare um ein paar der Knoten zu lösen. Doch der Soldat vor mir hat ganz andere Probleme als sich über mein Tempo zu beschweren.
Denn dieser zupft er ungeschickt an Handschellen herum, die an seinem Gürtel befestigt sein müssen. Dabei versperrt ihm sein Regenmantel allerdings die Sicht, sodass er nur blind daran ziehen kann. Doch seine Ungeschicklichkeit liegt nicht nur an seinem eingeschränkten Sichtfeld, sondern auch an seinen Händen, die zittern wie mir auffällt.
Mit einem entnervten Seufzer stemme ich meine Hände in die Hüften und beobachte ihn mit strengem Blick, der wohl in jeder Sprache ganz klar und verständlich die Aussage: Amateur, vermittelt. Das lässt ihn nur noch unruhiger werden und noch verzweifelter.
"Ha- hands.", ist das einzige Wort, das er noch vor Nervosität stammeln kann, als er es dann endlich geschafft hat die Handschellen von seinem Gürtel zu lösen.
Mit einem weiteren Seufzen strecke ich ihm dann wie gefordert meine Hände hin. Zu meinem Erstaunen braucht er nur einen Versuch um mir die Handschellen anzulegen ohne, wie ich zumindest annehme, sie zu fest oder zu locker zu verschließen. Immerhin habe ich damit keine große Erfahrung, weil ich noch nicht so oft gefesselt worden bin.
Schließlich zieht er mich ohne ein weiteres Wort an der Kette, die meine Hände verbindet, aus dem Zelt hinaus und zielstrebig auf ein anderes zu.
- - - - -
"Nun, Fräulein-", setzt er zu seiner Erklärung an, aber lässt es in einem geschickten Täuschungsmanöver enden, "Wie darf ich sie eigentlich nennen, mein Fräulein?"
"Das ist momentan nicht von Belang, Herr-"
"Zola, Dr. Arnim Zola.", stellt er sich mir vor.
Sofort begreife ich, was das zu bedeuten hat und es lässt mich für einen kurzen Moment meine Fassung verlieren, bevor ich wieder einen neutralen Gesichtsausdruck aufsetzen kann wie eine Maske. Felix ist sein Hund. Ich habe seinen Besitzer gefunden. Doch wo war das kleine schwarze Fellknäuel? Ich ertappe mich dabei, wie ich den Raum nach ihm durchsuche. Bei den silbernen Schüsseln auf dem Boden verharrt mein Blick schließlich. Es muss ihm gut gehen. Sonst würde Doktor Zola bestimmt nicht unnötig Hundefutter in seinem Büro herumstehen lassen.
"Da Sie nun meinen Namen kennen, wäre es nur höflich mir auch ihren zu nennen."
"Alexandra Fuchs.", sage ich ihm nach einigem Schweigen widerwillig meinen richtigen Namen. Ich hätte mir auch irgendeinen anderen ausdenken können, aber meine Lüge wäre sicherlich leicht zu durchschauen gewesen, da ich eine miserable Lügnerin bin.
"Gut, Fräulein Fuchs. Was würden Sie dazu sagen, wenn es uns in naher Zukunft gelingen würde alle Krankheiten zu besiegen?" Er frägt mich das als sei er ein Professor an einer Universität und würde mit einigen seiner Studenten nach einem gemeinsamen Abendessen in einer gemütlichen Runde zusammen säße und bei einigen Gläsern Wein über Dinge zu fantasieren beginnt, die es wohl nie geben wird.
"Humbug.", antworte ich ihm deshalb.
"Für das hielt ich es am Anfang auch, aber einem meiner Kollegen ist es gelungen genau das zu erreichen. Es gab zwar ein paar nicht nennenswerte Nebenwirkungen, aber das Ergebnis bleibt das selbe: ein Mittel, das den Patienten so stark macht, dass er immun gegen viele Krankheiten ist."
"Wer?", unterbreche ich ihn, doch er ignoriert meine Frage einfach und fährt mit seinem Vortrag fort.
"Ist das nicht einfach wunderbar? Mit noch ein paar Jahren weiterer Forschung wäre er in der Lage gewesen einen Impfstoff gegen jegliche Krankheiten zu entwickeln. Doch leider ist dieser gewisse Kollege abtrünnig geworden und zum Feind übergelaufen. Bei seiner Flucht hat er einige seiner Notizen und Formeln mit sich genommen, aber aus denen, die er zurücklassen musste, konnte ich das Serum replizieren oder zumindest ein Ähnliches, wenn es nicht sogar vollbracht haben sollte es zu verbessern."
"Dieses Mittel worüber sie reden, das kann doch nur ein Märchen sein, eine Geschichte, die man sich erzählt, weil man selbst daran glauben möchte.", entgegne ich ihm.
Zola hat mir so viele Informationen gegeben, aber ich weiß, dass er mir noch vieles verschweigt. So zum Beispiel wer dieser Patient ist, wenn er überhaupt noch lebt oder wer dieser geheimnisvolle Kollege ist. Doch die brennendste Frage die sich mir aufdrängt ist, die nach der Existenz eines solchen Wundermittels. Es hört sich einfach zu sehr nach Wunschdenken an, wie Dr. Zola darüber spricht.
Doch da drängt sich mir das, was mir mein Vater beigebracht hat, in den Vordergrund. Er hat vor dem Krieg als Händler gearbeitet. Alles hat er zu Geld machen können, aber das ist nicht sein einziges Talent, denn so wie er einem unnötige Dinge aufschwatzen kann, kann er auch beim Feilschen genau den Preis erreichen, den er sich in den Kopf gesetzt hat. Jedoch hat er, als er es an der Zeit fand mich und meinen Bruder in seine Geschäfte einzuführen uns nicht nur beigebracht wie man um Ware oder Geld feilscht, sondern hat uns auch den Wert von Informationen gezeigt und wie man mit ihnen handelt.
Genau dort liegt auch das Problem. Zola und ich tauschen Informationen aus und nicht nur das, wir handeln mit ihnen, doch so wie ich mit ihm um meinen Namen gefeilscht habe, wird er nun auch einen Preis verlangen.
- - - - -
Schon nach den wenigen Metern, die zwischen den beiden Zelten liegen, bin ich vom Regen völlig durchnässt worden. Die nassen Haare hängen mir ins Gesicht, aber ich kann sie nicht einfach wegstreichen, weil mich der Soldat immer noch an meinen Handschellen zieht.
Doch ich genieße es etwas anderes als die Zeltwände und die Wachen zu sehen und ich genieße die Freiheit, die ich trotz meiner Fesseln durch das Verlassen der Zelle fühle. Ich will nie wieder dorthin zurück. Vielleicht muss ich das auch gar nicht, denn ich bin mir sicher, dass sie mich nun endlich befragen werden und ich endlich erklären kann, dass ich nicht der Feind bin. Aber ich kann leider nur hoffen, dass sie mir auch Glauben schenken.
Im Zelt schlägt mir beißender Zigarrenqualm entgegen, der die Luft verpestet und das Zeltinnere in einen nebligen Dunst legt. Auf einem großen Tisch steht eine Petroleumlampe, die die einzige Lichtquelle in diesem Raum darstellt und deren Licht sich hartnäckig durch den Nebel zu kämpfen versucht. Neben der Lampe stapeln sich Akten, Formulare, Telegramme und eine darüber ausgebreitete Landkarte, über der ein Mann gebeugt dasteht.
Als der Soldat, der mich hergebracht hat, auf unsere Anwesenheit aufmerksam macht, faltet er die Karte hastig zusammen. Natürlich solle ich sie nicht zu Gesicht bekommen, aber dazu ist es nun schon zu spät. Ich habe schon genug Zeit gehabt um einen Blick darauf zu werfen und mir in groben Zügen das meiste einzuprägen. Das bemerkt der Mann schließlich auch und stößt über seine eigene Unachtsamkeit einen leisen Fluch aus.
"Sit down.", weist er mich an und deutet auf einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und fügt nachdem er mich nochmals genauer mustert hat noch hinzu: "Please."
Möglichst entspannt versuche ich auf den Stuhl zuzugehen, doch alles in mir sträubt sich dagegen. Dieses Gespräch wird über alles entscheiden. Das steht fest.
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"Wieso erzählen Sie mir das alles?"
"Ich möchte ihnen eine Chance geben an diesem Projekt mitzuwirken."
"Mitwirken? Wie stellen Sie sich das vor? Ich besitze keinerlei Kenntnisse im Bereich der Medizin, der Physik, Chemie, Biologie oder was sie sonst noch brauchen um diesen Impfstoff zu entwickeln.", versuche ich mich dumm zu stellen, in der Hoffnung so noch weitere Informationen von ihm zu erhalten.
"Entwickeln? Ich denke Sie haben mich ein wenig missverstanden, mein Fräulein. Dieses Serum existiert bereits, auch wenn Sie noch Zweifel daran haben mögen. Es befindet sich sogar in diesem Gebäude."
"Wobei brauchen Sie dann meine Hilfe, wenn nicht bei der Entwicklung?", frage ich. Die Antwort meine ich schon zu kennen, doch sie gefällt mir ganz und gar nicht.
"Es muss noch getestet werden. Ich würde es gern an Ihnen testen. Sie scheinen mir eine starkes, selbstbewusstes und gesundes junges Fräulein zu sein. Damit sind Sie genau das, wonach wir suchen."
Ich schlucke einmal heftig den Klumpen hinunter, der sich bei seiner Antwort in meinem Hals gebildet hat, bevor ich etwas erwidern kann.
"Halten Sie es wirklich für richtig es an Menschen zu testen und nicht wie bei anderen Medikamenten zuerst an Tieren Versuche durchzuführen?"
"Oh, es handelt sich hier nicht einfach nur um ein Medikament. Es ist viel mehr als das. Natürlich stimmt es, dass durch die Stärkung des Patienten, eine gewisse Immunität gegen bestimmte Krankheiten erzeugt wird, aber es hat noch ganz andere, gravierendere Wirkungen. Sie würden schneller und stärker werden und das nicht nur körperlich, sondern auch-", er macht eine kurze Pause und tippt sich dann mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, "geistig."
"Sie meinen es macht einen Menschen kräftiger und schlauer?", wiederhole ich was er gerade eben gesagt hat in meinen eigenen Worten.
"Ganz genau!", meint er dann begeistert, "Was halten Sie nun davon?"
"Ich weiß nicht.", gebe ich zu. In meinem Kopf formen sich bereits Gedanken, die es mir noch schmackhafter machen anzunehmen. Es hätte so viele Vorteile und doch macht es mich stutzig so wenig über die negativen Seiten dieses Mittels zu erfahren.
"Es stimmt. Natürlich gibt es auch einige nicht zu unterschätzende Risiken wie bei jeder neuen Erfindung. Doch wenn sie das ein wenig beruhigt: ihr Tod ist allerdings ein, ich möchte sagen, unmöglicher Ausgang einer Behandlung mit dem Serum. Andere bleibende Schäden dagegen sind nicht auszuschließen und daher sollten Sie keine leichtfertige Entscheidung treffen."
"Wieso können Sie sich so sicher sein, dass es mich nicht umbringen würde?"
"Sonst würden Sie nicht hier vor mir sitzen."
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