1.10
Kurze Zeit nach jenem kleinen Zwischenfall hat es begonnen wie aus Eimern zu gießen und so ist es nicht verwunderlich, dass als wir endlich in dem Lager der Amerikaner ankommen, meine Kleidung völlig durchnässt ist. Doch ein warmer Schauer durchfährt mich, als ich den schwachen Schein eines Lagerfeuers in der Ferne erkenne. Es durchflutet mich mit neuer Kraft und ich fühle mich als würde ich auf es zu schweben – immer schneller und schneller. Die Tortur des kräftezehrenden Abstiegs ist gleich vergessen und nur die beiden Soldaten vor und hinter mir halten mich davon ab einfach darauf los zu rennen.
Nachdem wir wenige Meter weiter dem geschlungenen Pfad gefolgt sind, kann ich auch einige dunkle Schatten ausmachen, die sich um das Feuer versammelt haben. Diese springen hektisch auf und ich höre Schreie, als ich auf einen Ast getreten bin, der unter meinem Fuß mit einem lauten Knacken in zwei Teile zerbrochen ist. Die Gestalten – die Männer kommen mit ihren Waffen auf uns zu gerannt, stoppen aber als einer meiner Begleiter ihnen etwas zuruft.
"What took you so long, Dougan?", frägt nun einer, der gerade einmal vier Soldaten, die hier ihr Lager aufgeschlagen haben. Nur kommt weiter auf uns zu während die anderen drei sich leise unterhaltend wieder zurück begeben.
Der Rothaarige antwortet ihm mit einem Schwall von Worten, die ich angesichts der Schnelligkeit, mit der er spricht, nicht verstehen kann. Ich bin neugierig zu erfahren was sie besprechen, aber im selben Moment bin ich auch viel zu müde um mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Außerdem hätte ich den Rothaarigen bis zu diesem Augenblick auch eher als schweigsam eingeschätzt, da er den gesamten Weg über nur das nötigste an Worten verwendet hat, allerdings beweist er mir gerade das Gegenteil und ich vermute, dass es daher eher auf sein fehlendes Vertrauen mir gegenüber begründet ist.
Schließlich erreichen wir das Lagerfeuer und die beiden, die mich hierher gebracht haben, setzen sich zu ihren Kameraden ans Feuer, um das mehrere Plastikplanen ausgelegt waren auf denen sie sitzen und andere aufgespannt sind um vor dem erbarmungslosen Regen zu schützen. Sogleich werden ihnen dann zwei Schüsseln gereicht, aus denen sie zu essen beginnen.
Jedoch wird mir diese Freundlichkeit erst zuteil nachdem einer der anderen meine Hände mit einem dicken Seil zusammengebunden hat. Doch nachdem sie mich dann an einen Baum gelehnt an einer Stelle, die noch vom Wasser einigermaßen verschont geblieben ist platziert haben, reichen sie auch mir eine Metallschale, in der sich eine in der Dunkelheit schlecht zu identifizierende dickflüssige Brühe befindet. Ich nehme das Gefäß mit einem leise gemurmelten: Danke entgegen und trinke noch bevor ich den Löffel bemerke, der mir angeboten wird, einen großen Schluck daraus. Mein leerer Magen knurrt begierig auf mehr und so schlucke ich noch mehr von der heißen Mahlzeit herunter, die mir Mund und Rachen verbrennt. Langsam spüre ich wie sich die Wärme allmählich in meinem Körper ausbreitet und mich Müdigkeit und Erschöpfung überkommen.
Als nur noch ein kleiner Rest übrig ist, bin ich viel zu satt um diesen auch noch aufzuessen und lege die Schüssel achtlos neben mir ab. und drifte langsam mit einem mollig warmen Gefühl, das mich durchflutet, ins Land der Träume ab.
- - - - -
Das Heulen von Sirenen reißt mich plötzlich aus dem Schlaf. Schnell drehe ich mich um und rüttle meine kleine Schwester Marie wach. Zuerst murrt sie noch, aber dann springt sie genauso eilig auf und wir werfen all das, das wir bei uns tragen auf die Decke, in die wir uns zuvor noch eingewickelt haben. Dann packe ich sie an allen vier Enden und drehe sie so zu einem Sack zusammen, sodass der Inhalt nicht herausfallen kann und werfe sie mir über die Schulter. Mit dem Gepäck, das ich mit der einen Hand festhalte und meiner anderen Hand, an der ich Marie mit mir ziehe, eile ich aus dem leerstehenden Haus, in dem wir Unterschlupf gesucht haben.
Draußen bietet sich mir ein Bild des Chaos. Der Schein der Feuer erhellt bereits die Nacht. Pausenlos ertönt das Geräusch der Explosionen und der Abwehrgeschütze. Eine kleine Familie rennt an uns vorbei. Ein Junge, der vielleicht im Alter meiner kleinen Schwester ist, läuft ihnen hinterher und sorgt dafür, dass alle zusammen bleiben. Auch ich möchte ihnen so schnell wie möglich in den sicheren Bunker folgen, aber nachdem wir einige Meter die Straße entlang gegangen sind, bin ich gezwungen Halt zu machen, da Marie versucht sich mir zu widersetzen und versucht mich wieder zurück in die andere Richtung zu ziehen.
"Amelia! Amelia!", ruft sie dabei immer wieder, aber ich ziehe erbarmungslos sie immer weiter in Richtung des nächsten Bunkereingangs an ihrem kleinen Ärmchen.
"Komm! Vergiss die blöde Puppe!", fahre ich sie schärfer als ich es wollte nach einigem hin und her zerren an. Dann kann sie sich plötzlich aus meinem Griff befreien und rennt schneller, als ich sie wieder einfangen hätte können zurück und verschwindet in dem Haus. In Panik sprinte ich ihr hinterher, werde aber zurückgeschleudert bevor ich auch nur in die Nähe der Haustür komme.
Ein furchtbares Kreischen ist zu hören und ich lande unsanft auf dem gepflasterten Weg. Als ich aufstehen möchte, klingelt es in meinen Ohren, sodass ich nichts anderes mehr hören kann. Schwarze Flecken tanzen durch mein Sichtfeld, aber ich versuche sie weg zu blinzeln und stehe so schnell wie möglich auf.
Wo gerade noch ein Haus gestanden hat, erinnern nur noch ein paar wenige Mauern an dessen Existenz, hinter denen meterhohe Flammen alles verschlingen, dass sich ihnen in den Weg zu stellen versucht. Aber ich renne trotzdem dem Feuer entgegen. Sie muss noch irgendwo da drin sein! Ich muss sie suchen und ihr helfen! Was ist wenn sie verletzt ist?
Doch so weit kommt es gar nicht erst, denn jemand stellt sich mir in den Weg und hält mich mit aller Kraft zurück. Ich versuche nach ihm zu schlagen, zu treten und an ihm vorbei zu kommen, aber er zieht mich in eine feste Umarmung und lässt mich nicht los.
"Marie! Marie!", schreie ich immer wieder ihren Namen in der Hoffnung, dass sie mich hört. Tränen formen sich in meinen Augen und fließen mir in strömen die Wangen hinunter und vernebeln meine Sicht, als ich begreife, dass sie das wohl niemals wird. Doch ich schreie weiter und weiter bis meine Stimme versagt und ich nur noch Schluchzer von mir gebe. Ich vergrabe mein Gesicht in der Schulter des Fremden. Mir ist es egal wer er ist oder in welche Schwierigkeiten er mich bringen könnte. Ich will nur meine kleine Schwester wieder. Bei dem Gedanken an sie knicken mir meine Beine weg und sinke zu Boden, doch der Fremde hebt mich auf und trägt mich davon.
Das gleichmäßige Schaukeln, die durch seine Schritte erzeugt wird beruhigt mich ein wenig, aber als ich über seine Schulter blicke, entdecke ich eine kleine Gestalt, die uns verfolgt. Das kleine Mädchen kommt hüpfend immer näher bis ich sie besser sehen kann.
Ich blicke in ihr Gesicht in dem Moment, in dem ich sie erkenne, befinde ich mich plötzlich mit ihr allein in einem dunklen Raum, der kein Ende zu scheinen hat. Marie steht unversehrt mir gegenüber in einem weißen Kleid mit Rüschen verzierten Kleid und ihrer Puppe Amelia in der Hand.
"Bin ich tot?", frägt sie mich. Ihre Stimme ist ganz ruhig und sie sieht mich aus großen Augen fragend an.
Eine weitere Träne rollt meine Wange hinunter und mein Hals ist wie zugeschnürt, sodass ich ihr nicht antworten kann. In meinem Kopf schwirren so viele Gedanken herum, dass er sich anfühlt als würde er gleich platzen.
"Ma- Mar-", stammle ich und gehe auf sie zu. Ich möchte nichts lieber als sie in den Arm zu nehmen, aber jemand stellt sich mir in den Weg. Es ist unsere Mutter, die mit Tränen in den Augen auf mich zu kommt.
"Was ist mit ihr? Was ist mit Marie passiert?", will sie von mir wissen und als ich auch ihr keine Antwort gebe schüttelt sie heftig an meinen Schultern. Dann verändert sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig zu einer wütenden Fratze und sie beginnt mich zu beschimpfen und verpasst mir eine Ohrfeige, die mich zu Boden gehen lässt.
"Wie konntest du das nur zu lassen?!", höre ich Mutter mich anbrüllen, "Wie konntest du ihr das nur antun?!"
Ich bleibe dort liegen und kauere mich zusammen während sie weiter nach mir tritt. Erneut weine ich und wünsche mir nichts mehr als meine kleine Schwester wieder in meine Arme schließen zu können.
Mit verweinten Augen und trockenem Hals wache ich aus meinem Albtraum auf. Die Sonne ist gerade eben aufgegangen und ihre Strahlen machen das erloschene Lagerfeuer, um das fünf schlafende Soldaten liegen, sichtbar.
Schon seit Wochen habe ich immer wieder den selben Traum. Anfangs habe ich mir noch gewünscht, dass es endlich aufhören würde, aber jetzt ist mir klar, dass dies meine gerechte Strafe ist dafür, dass ich nicht besser aufgepasst habe. Ich habe es verdient keine Ruhe zu finden so wie es Marie nie können wird, weil sie nie ihren Frieden finden wird ohne eine angemessene Bestattung. Doch dazu wird es dank mir nie kommen. Stattdessen werden ihre sterblichen Überreste in irgendeinem namenlosen Grab enden, wenn überhaupt noch etwas von ihr gefunden wird.
"Here.", reißt mich plötzlich eine bekannte Stimme aus meinen düsteren Gedanken, "Drink something."
Ich drehe mich in die Richtung, in der ich den Sprecher vermute und entdecke sofort die Feldflasche, die mir der Rothaarige Soldat entgegenhält. Dankend nehme ich sie entgegen und trinke gierig daraus.
"Bad dreams?", frägt er dann und setzt sich neben mich. Er hofft wohl so mehr über mich zu erfahren, aber es stört mich nicht und ich schüttle nur den Kopf.
"Horrific dreams.", antworte ich ihm knapp. An der Art wie ich es sage scheint er erkannt zu haben, dass ich nicht weiter darüber reden möchte und steht wieder auf.
Dann beobachte ich wie er Holz über der verbliebenen Glut des gestrigen Feuers aufstapelt und ein neues entfacht um das Frühstück zuzubereiten. Auch dieses mal bekomme ich wieder eine große Portion von der Brühe, die bei Tageslicht betrachtet sogar ziemlich lecker aussieht und sich als Eintopf mit Bohnen und Gemüse herausstellt. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit habe ich nichts vergleichbar gutes mehr gegessen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro