1.1
Meine Ohren surren und meine Augen werden durch das viel zu helle Licht geblendet als ich den Bunker verlasse. In der letzten Nacht war es bisher am schlimmsten gewesen. Beinahe ununterbrochen sind Bomben über uns eingeschlagen und explodiert. Es war selbst viele Meter unter der Erde ohrenbetäubend laut gewesen. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, und wenn ich nur daran denke läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist schrecklich mit tausenden anderen in einem engen und endlos scheinenden Tunnelsystem eingeschlossen zu sein. Das Gefühl zu haben, dass man jede Sekunde von tausenden Tonnen von Steinen begraben sein könnte.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an das blendende Licht. Doch was ich dann erblicke ist nicht viel angenehmer. Hier und da steht vereinzelt noch eine Hauswand zwischen dem ganzen Geröll, das herum liegt. Vor mir auf dem Boden liegt etwas verkohltes. Vorsichtig hebe ich es auf. Es ist oder besser war einmal eine Puppe. Ein Mädchen muss sie auf der Flucht in den sicheren Bunker verloren haben, das arme Kind. Ich kann mich noch daran erinnern wie meine kleine Schwester, Marie es geliebt hat mit ihrer Puppe zu spielen, auch als sie schon viel zu alt dafür gewesen ist. Sie ist dabei immer so glücklich gewesen.
Doch jetzt werde ich sie nie mehr lächeln sehen und Schuld daran ist nur dieser Tyrann, der uns den Krieg gebracht hat. Wie ich ihn hasse. Doch nur dies laut auszusprechen würde mich in die selbe Lage bringen wie die Männer, die den Ausgang des Bunkers bis vor wenigen Minuten noch freigeschaufelt haben. Sie bestehen nur noch aus Haut und Knochen. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch leben und das alles nur, weil sie anders sind und eine eigene Meinung haben. Ich habe das nie verstanden und werde es wahrscheinlich auch nie. Hoffentlich gewinnen die Alliierten den Krieg. Dann ist das alles enlich vorbei.
Es hat sehr lange gedauert bis ich erkannt habe, dass ich auf der falschen Seite gestanden habe oder immer noch stehe. Ich bin zu geblendet gewesen von dem hellen Schein, an den sie uns glauben gemacht haben. Die vielen Paraden, Feste, Ausflüge und noch viele andere wunderbare Dinge mehr haben die Auswirkungen, die ein Krieg haben würde verschleiert und selbst als er ausgebrochen war beschönigt. Niemand hat über die Konsequenzen nachgedacht. Niemand hat mit dem gerechnet, das momentan geschieht. Niemand hat damit gerechnet, dass der Krieg nicht nur auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden würde, sondern auch Zuhause, in den Städten, Dörfern und Häusern. Jeder hat geglaubt, dass wir gewinnen würden.
Hätte man mich vor einem Jahr noch gefragt, was Krieg bedeutet, hätte ich geantwortet, dass mutige Männer in die Schlacht ziehen und mit funkelden Orden, Medallien und anderen Ehrungen zurück nach Hause kommen würden, nachdem sie gewonnen haben. Wie dumm ich doch gewesen bin. Es ist der Traum eines verwöhnten kleinen Mädchens gewesen, das nicht im Entferntesten gewusst hat was das Wort Krieg in diesem Jahrhundert bedeutet, da es darüber nur in Geschichten über Rittern in strahlender Rüstung, Königen, Prinzen und Prinzessinen gelesen hat. Doch Ritter und Prinzen existieren nur noch in Märchen. Sie mussten Platz machen für den Teufel und seine Dämonenschar, denn Märchen sind nur Lügen, die man Kindern vor dem Zubettgehen erzählt, sodass sie in dem Glauben einschlafen, dass die Guten immer siegen. Doch das Gute gewinnt am Ende nicht immer. Man kann nur hoffen, dass dieses mal die Richtigen siegen. Lieber würde ich sterben als diesen Tyrann auf seinem langerträumten Thron zu sehen, von dem aus er der gesamte Welt seinen Willen aufzwingen kann.
Langsam bahne ich mir meinen Weg durch Schutt und Asche. Viel mehr ist von der einst so wunderschönen Stadt nicht mehr übrig. Immer wieder komme ich an den kuriosesten Dingen vorbei, die die Menschen auf ihrem Weg in den sicheren Bunker verloren haben mussten: ein Kochtopf, eine Flasche Parfüm und sogar ein Nachttopf. Man musste eben auf alles vorbereitet sein. Als ich fast dort angekommen bin wohin mich meine Beine tragen wollen, höre ich etwas hinter mir. Es ist das Tapsen von Pfoten auf Stein.
Ich bleibe stehen und drehe mich um, um nachzusehe was mir folgt. Es ist ein kleiner Hund mit nur noch drei Beinen und zerzaustem schwarzen Fell. Er konnte nicht mehr rechtzeitig stoppen dadurch, dass ich so plötzlich stehen geblieben bin, gegen meine Füße läuft und so vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht, auf seinem Hinterteil landet. Er schüttelt seinen Kopf, um dann mit großen Augen zu mir auf zu blicken. Es bricht mir das Herz so etwas liebenswertes wie diesen kleinen Hund so zugerichtet zu sehen. Besonders Tiere sind schutzlos gegen die Angriffe aus der Luft, denn sie verstehen nicht was die Sirenen bedeuten. Sie wissen nicht was vor sich geht, wenn Menschen panisch im Dunkeln an ihnen vorbei rennen. Sie sind den Explosionen schutzlos ausgeliefert. Woher sollten sie auch wissen wie sie sich dagegen schützen können? Es hat ihnen niemand beigebracht. Und doch ist dieser kleine schwarze Hund irgendwie auch ein kleiner Glüchspilz. Er hat nur ein Bein verloren und nicht sein Leben. Ich gehe vor dem Tier in die Hocke um nach einem Halsband zu suchen oder etwas anderen mit dem ich seinen Besitzer ausfindig machen könnte, der bestimmt schon verzweifelt nach ihm sucht und sich bestimmt große Sorgen macht. Vielleicht gehört der Hund auch zu den Dingen, die ihre Besitzer auf dem Weg in den Bunker verloren haben.
Auf einmal fängt der Hund an zu fiepen. Das Geräusch, das es von sich gibt klingt so schmerzerfüllt. Hört es sich so an, wenn Hunde weinen? Am liebsten würde ich mit ihm weinen. Ich bin genauso allein wie er. Mutter hat uns in den Süden geschickt damit wir dort sicher sind, doch meine kleine Schwester wird es nicht bis dorthin schaffen. Sie wird es nie. Ein bedrückendes Gefühl macht sich in mir breit. Es fühlt sich an als würde ein großer Stein auf meine Brust drücken, mich am atmen hindern und als würde mir gleichzeitig jemand tausend kleine Nadeln in mein Herz rammen. Immer und immer wieder. Warme Tränen rollen meine Wangen hinunter. Sie brennen wie Feuer auf meiner Haut. Ich schließe meine Augen und versuche so sie zurück zu halten. Große Mädchen weinen nicht, erinnere ich mich selbst an die Worte, die ich immer zu Marie gesagt habe. Doch ich kann die Tränen nicht aufhalten. Sie fließen unaufhaltsam weiter. Anscheinend bin ich doch kein großes Mädchen. Langsam sinke ich auf die Knie und kauere mich zusammen. Ich habe keine Kontrolle darüber. Es geschieht einfach.
Plötzlich fühle ich etwas weiches, feuchtes an meiner Hand. Ich öffne meine Augen und richte mich ein wenig auf. Durch den Schleier, den die Tränen auf meine Sicht legen, sehe ich verschwommen den kleinen Hund, der meine Hand ableckt. Im selben Moment in dem ich zu ihm sehe, springt er auf und mit seiner Vorderpfote auf mein linkes Knie. Vorsichtig fasse ich den Hund am Bauch, hebe ihn nach oben und drücke das Fellknäul an mich. Bevor ich es auf meinen Oberschenkeln absetze und mich über es beuge. Der Hund kuschelt sich an mich und fängt dann wieder an mich mit seiner Zunge abzuschlecken - dieses Mal im Gesicht. Es kitzelt. Ein kleines Lachen kann es mir hervorlocken und nur wenige Sekunden später sitze ich, den Hund auf meinem Schoß in einem großen Haufen Dreck und lache. Es ist befreiend. Die Last, die gerade noch auf mir wie ein großer Felsbrocken gelastet ist, ist verschwunden und ich fühle mich leicht wie eine Feder.
Vorsichtig stehe ich auf und der Hund springt schwanzwedelnd von mir herunter. Ich werde seinen Besitzer finden, denn wenn ich das schaffen kann, dann schaffe ich es auch in den Süden zu kommen wie Mutter es wollte. Auch wenn meine Schwester es nicht mehr schaffen wird und wir nicht, wenn der Krieg vorbei ist, wir fünf in einem kleinen Haus am Meer wohnen würden wie es Maries Traum war.
"Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Guten Tag. Ich bin Alexandra. Wie heißt du?", frage ich den Hund.
Ich weiß Tiere können nicht sprechen, aber es fühlt sich für diesen Moment richtig an mit dem Hund zu reden. Er war schließlich derjenige, der mich gerade getröstet hat. Wir sind in den wenigen Minuten, seit wir uns getroffen haben, schon mehr als nur zwei Fremde geworden. Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, dass wir bereits Freunde sind.
Als hätte der kleine Hund zu meinen Füßen meine Worte verstanden, legte er seinen Kopf schief und sah mich mit einem Blick an, der eindeutig besagte: Du sprichst meine Sprache nicht. Wie soll ich dir also antworten? Dann schüttelte er seinen Kopf und etwas klimpert. Will er mir sagen, dass er eine Hundemarke trägt? Ich beuge mich zu dem Tier hinunter und strecke vorsichtig meine Hand nach seinem Kopf aus. Sie zittert ein wenig. Er sieht sie nur an und beschnuppert sie. Dann fahre ich mit meiner Hand langsam durch sein Fell und ertaste zwischen dem langen zotteligen Fell ein Stück Stoff. Es ist ein Halsband. Den Hund kraulend fahre ich weiter um dessen Hals um das Stück Metall zu finden auf dem für gewöhnlich der Name des Hundes und der seines Herrchens steht. Als ich die golden glänzende Marke gefunden habe lese ich was darauf steht.
Felix,
Dr. Arnim Zola
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