Ten
~ 'Only Human' - George Ezra ~
LOUISE
Ich glaube, ich bin dein Bruder.
Ich hörte die Worte, und doch rasteten sie nicht gleich in meinem Gehirn ein. Es war wie als würden sich viele kleine und große Zahnrädchen drehen, ineinander greifen und die Information mit langsamem Klicken weiter transportieren. Irgendwann...mir kam es vor wie Stunden, es konnten aber nur Sekunden gewesen sein, schlug der Blitz ein. Der Meteorit krachte unter ohrenbetäubendem Lärm auf die Erde. Der Funke auf Benzin löste eine Explosion aus.
Ich glaube, ich bin dein Bruder.
Ich bin dein Bruder.
Dein Bruder.
Für etwa drei Sekunden glaubte ich es sogar. Dann...
"Was?" Mehr als ein Hauchen, ein leises Krächzen, drang nicht aus meinem Mund.
"Ich..." John holte tief Luft. "Ich denke, dass ich dein Bruder bin."
"Das ist doch Unsinn! Was erzählst du da?" Ich klang weit aus ungläubiger als ich war.
"Ich kann es selber kaum glauben, aber das würde alles erklären. Den gleichen Nachnamen. Dass wir uns so vertraut vorkommen. Oder hast du das nicht gemerkt?"
"Doch aber... Geschwister? Nein..."
Meine Fantasien gingen schon mit mir durch. Ich stellte mir schon lauter Dinge vor, die wären, wenn John doch keinen Mist erzählen würde. Wenn...Nein! Das war doch unmöglich!
"Sowas gibt es vielleicht in einem sehr schlechten Hollywoodfilm, aber nicht in der Realität..." Ich hörte auf zu reden, als ich merkte, wie Johns Augen nicht mehr die meinen fixierten, sondern irgendetwas hinter mir. Verwirrt drehte ich mich um und folgte seinem Blick. Er war auf die Fotos gerichtet, die über dem Kaminsims aufgereiht waren.
"Äh, John? Was machst du?", fragte ich, als er einfach an mir vorbei und zum Kamin lief. Ohne Umschweife nahm er sich eine der Fotografien und starrte soweit ich erkennen konnte völlig verdattert darauf.
"John?!" Ich lief näher zu ihm und schaute auch auf das Foto. Zu meiner Verwirrung musste ich feststellen, dass er eines der ältesten überhaupt hier aufgereihten Bilder in der Hand hielt. Es war von meiner Mom, aufgenommen in dem Jahr bevor ich geboren wurde. Sie lachte und trug ein hübsches Sommerkleid. Sie sah einfach umwerfend aus. Ich sah verwundert von dem Foto zu John und wieder zurück. Er war blass geworden, noch blasser als vorher schon.
"Wer ist das?" Seine kehlige Stimme war kaum mehr ein trockenes Kratzen.
"Meine Mom", hauchte ich mit einer gewissen Vorahnung. Was wenn...
John griff in seine Tasche und zog ebenfalls ein Foto hervor. Es war nicht irgendein Foto. Wortlos hielt er es neben den Rahmen des anderen Bildes.
Es waren die gleichen.
Die gleichen Fotos.
Auf beiden war meine Mom abgebildet, lachend, doch es schien nun, als wäre ihr Lachen erstarrt. Zu Eis gefroren.
John hatte Recht.
Er hatte Recht.
Es konnte gar nicht anders sein.
Er war mein Bruder.
Ich war seine Schwester.
"Das ist auch deine Mom, oder?", fragte ich, obwohl es eigentlich völlig überflüssig war. Doch erst sein Nicken ließ mich wirklich registrieren, was hier gerade passierte, was ich eben erfahren hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die einzige Option, die in meinem Kopf mit riesigen, roten Buchstaben geschrieben stand, war: Flucht.
Bevor ich überhaupt wusste, was ich tat, hörte ich die Tür hinter mir zu schlagen und spürte, wie die Energie durch meine Beine spross, als ich mit großen Schritten davon lief. Ich wusste nicht, wohin, es war mir auch egal. Einfach nur weg. Das Einzige, was ich jetzt wollte, war allein sein. Alles verdauen.
Als ich rannte, dachte ich gar nichts. Und das war auch gut so. Ich spürte nur die Kraft in meinen Beinen, hörte das Rauschen des Bluts in meinen Ohren und fühlte den kühlen Sauerstoff in meinen Lungen.
Meine Schritte trugen mich über die Wiese hinter unserem Haus. Die trockenen Grashalme bohrten sich in meine Beine und hinterließen rote Striemen, doch das merkte ich nicht. Meine Haare wurden mir vom Wind aus dem Gesicht getrieben und meine Füße wurden langsam taub, aber ich stoppte nicht. Das Karussell der Gedanken in meinem Kopf trieb mich weiter an.
Doch irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich konnte dem Druck nicht mehr standhalten, einfach nichts zu denken. Schwer atmend ließ ich mich neben eine riesige Buche ins trockene Laub fallen. Inzwischen war ich im Wald.
Die Gedanken in meinem Kopf wirbelten herum, wie auf einer Achterbahnfahrt und es war schwer, einen davon zu greifen. Immer wieder sah ich John vor mir, der mir sagte, dass er meine Bruder war. Meine Mom, die mir weismachen wollte, ich bräuchte das nicht zu wissen. Johns Vater, der mir etwas wichtiges sagen wollte. Johns Vater...mein Vater. Ryan Edwards war mein Vater! Ich hatte mir nie Gedanken über meinen Vater gemacht, hatte ihn immer für ein Arschloch gehalten, das seine junge, frisch in ihn verliebte Frau mit ihrem neugeborenen Kind - mich - einfach sitzen lässt, ohne Geld, ohne vernünftige Ausbildung,...
Aber...konnte ich dem jetzt noch glauben? Das wusste ich alles von meiner Mutter. Einer Mutter, die mir siebzehn Jahre lang einen Bruder verschwiegen hatte! Ich hatte das dringende Bedürfnis laut aufzuschreien, so wütend war ich auf meine Mutter. Wie konnte man seinem Kind jahrelang einen Bruder verschweigen?! Sie hatte mir ins Gesicht gelogen! Siebzehn Jahre hat sie mir vorgespielt, ich hätte keine Geschwister! Ich war nie gerne Einzelkind gewesen und hatte mir schon immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht. Und das hatte meine Mutter auch gewusst. Tat man so etwas seiner Tochter an? Tat so etwas eine Mutter? Und noch wichtiger - warum hatte sie das getan? Plötzlich wurde mir bewusst...sie hatte nicht nur mich angelogen, sie hatte auch John ein Leben ohne Mutter beschert. Was war sie für ein Mensch?
Da fiel mir wieder ein...und wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig, bevor meine Gedanken mit mir durchgingen...sie war meine Mutter. Sie hatte mich großgezogen. Mir Liebe geschenkt. Immer wenn ich sie gebraucht hatte.
War es mein Vater gewesen? War er derjenige, der alle Schuld trug? Hatte er vielleicht meiner Mutter den Kontakt verboten? Aber warum? Warum? Warum... Ein so kleines Wörtchen mit einer so großen Kraft. Der Kraft, vor einer Sache zu stehen. Einer Sache, die mich fertigmachte. Das Wörtchen, diese kleinen fünf Buchstaben, rangen mich nieder und zwangen mich in die Knie. Sie ließen mich verzweifeln.
Wieder sah ich John vor meinem inneren Auge. Sein Bild schob sich vor die Holundersträucher und Buchenstämme vor meinen Augen. Unweigerlich verglich ich ihn mit meiner Mom...mit mir. Hatten wir Ähnlichkeiten? Seine Haare, schoss es mir durch den Kopf. Sie waren genauso braun, wie meine es in früheren Zeiten gewesen waren. Nicht Kastanienbraun, auch nicht wie Zartbitterschokolade oder rostbraun, nein eher wie Nougat. Hell, warm und weich. Doch sonst...wir hatten den gleichen Humor, das war eindeutig. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden, es war wie, als hätte es da ein unsichtbares Band gegeben, das uns zusammenschweißte. Und das gab es ja auch. Wir waren Geschwister. Wir teilten 50 % unseres Erbmaterials. 50 %! Wir waren zur Hälfte identisch! Das konnte ich mir nicht vorstellen.
Auf einmal wurde ich mir der Tragweite des Ganzen überhaupt bewusst und meine Wut war verpufft. Ich hatte einen Bruder! Und den würde ich auch nie wieder loswerden. Ich würde mein restliches Leben mit ihm teilen! Ich hatte das, was ich mir immer gewünscht hatte, einen Bruder. Ich würde ihn nie wieder loslassen. Meine Familie hatte sich gerade um zwei Personen erweitert. Und eine davon mochte ich sogar, ich verband so viel mit ihr.
Der Gedanke war einfach...schön.
Doch dann wurde mir klar, was ich alles verpasst hatte. Ich hatte Johns ganzes Leben nicht mit bekommen! Die Wut war wieder da. Die Wut auf meine, auf unsere Eltern. Wie hatten sie das tun können? War ihnen eigentlich bewusst, was sie mir und John damit angetan hatten? Und ich war mir sicher, dass es John gerade genauso ging wie mir.
Wie er aufgewachsen war...
Wie er in die primary school kam...
Wie er Fahrrad fahren lernte...
Seine Hobbys...
Seine Freunde...
Seinen Alltag...
Was er mochte...
Sein Lieblingsessen...
Welche Musik er gut fand...
Ich kannte all dies nicht und hatte es nie erlebt. Verzweifelt vergrub ich meinen Kopf in den Armen. Das war alles so verwirrend und...neu. Ich hätte nie geglaubt, dass ich jemals über so etwas nachdenken würde. Wer würde es für möglich halten, plötzlich einen Bruder zu haben? Richtig, niemand! Natürlich hatte ich es mir vorgestellt, davon geträumt. Als ich noch kleiner war hatte ich dagesessen und mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich von der Schule kommen würde und mein großer Bruder wäre schon da und würde mit mir spielen, mich verarschen, Dinge mit mir aushecken. Oder ich hatte in meinem Bett gelegen und gedacht, was wäre, wenn am anderen Ende des Zimmers jetzt meine Zwillingsschwester in ihrem Bett liegen würde? Wenn mein Vater noch da wäre und er und meine Mutter noch ein zweites Kind bekommen hätten? Mein kleines Schwesterchen oder Brüderchen. Und jetzt sollte das Ganze wahr sein?
Ich war noch nie ein Mensch gewesen, der gern allein war. Ich hatte schon immer meine Cousins, Mateo, Henry und Liam, die jetzt in San Francisco lebten, beneidet, denn sie waren zu dritt. Wenn man zwei Brüder hatte, war Alleinsein wohl selten. Außerdem mochte ich die drei viel zu sehr und sah sie viel zu selten. Ich wäre manchmal gern auch ihre Schwester gewesen.
Und jetzt hatte ich selbst einen Bruder.
Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und ich konnte förmlich sehen, wie meine Augen zu leuchten anfingen.
Ab jetzt würde sich mein Leben für immer verändern.
An dieser Stelle muss ich mich einmal ganz lieb bedanken bei @allywiev, @Lisa-Linea und @Sprachparadoxon für eure vielen Votes und Kommis, das bedeutet mir echt viel.
Und natürlich auch bei euch, @Buchspringerin_, @15_Rahel_01 und auch bei dir, Vani, auch wenn du dich nicht hier rumtreibst. Ich hab euch lieb!
DANKE!
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