Wie ein Wirbelwind.
»Ich bleibe nur ein paar Tage, maximal eine Woche«, versichere ich meinem Bruder zum gefühlt hundertsten Mal und schleife meine Reisetasche die Treppenstufen nach oben. Vier Stockwerke ohne Fahrstuhl – für den Zeitraum meines Aufenthalts kann ich mir das Fitnessstudio sparen.
»Mach dir keine Gedanken, Nika. Henry kommt erst in drei Wochen wieder und bis dahin kannst du sein Zimmer haben.« Mit erstaunlicher Leichtigkeit trägt Robbie einen Umzugskarton mit meinen wichtigsten Habseligkeiten nach oben. Alles Dinge, die ich auf gar keinen Fall im Studentenwohnheim lassen wollte.
»Und er hat sicher nichts dagegen?«, frage ich nach und bleibe schnaufend vor der Wohnungstür stehen.
»Absolut nicht. Er hat mich sogar gebeten, dass ich ein paar Fotos von dir beim Schlafen schieße.«
Ich schüttle mich bei dem Gedanken. Henry ist einer der nettesten Jungs, die ich kenne. Das Objekt seiner Fantasien möchte ich trotzdem nicht sein.
»Größere Sorgen mache ich mir allerdings um dich und Sixten.«
Der Name seines zweiten Mitbewohners löst eine Gänsehaut aus. Sixten Hendricks – es gibt viele Eigenschaften, die den dunkelhaarigen Womanizer beschreiben, aber die wenigsten davon sind positiv.
»Wieso denn?«, frage ich, als ob ich nicht wüsste, was gemeint wäre.
»Tu doch nicht so«, entgegnet Robbie lachend. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr beide euch an die Gurgel geht, liegt schätzungsweise bei einer Million Prozent.«
Abwehrend verschränke ich die Arme vor der Brust, während Robbie seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche zieht und aufschließt.
»Im Gegensatz zu ihm kann ich mich benehmen«, murre ich und folge meinem Bruder in die Wohnung.
Mein fleischgewordener Albtraum steht bereits im Flur, als könne er es gar nicht abwarten, mich persönlich zu begrüßen.
»Schade, ich hatte die leise Hoffnung, dass du den Giftzwerg unterwegs ausgesetzt hast.« Seine monotone Stimmlage schafft es innerhalb von Sekunden, mich aggressiv zu machen. Als hätte er ein einen siebten Sinn dafür, wie man mich am schnellsten auf die Palme bringt.
»Hallo, Sixten, solltest du nicht mit dem Kopf zwischen den Beinen einer Blondine sein, deren IQ gerade so im zweistelligen Bereich ist?«, erwidere ich mit einem künstlichen Lächeln und lasse die Reisetasche auf den Boden fallen.
Robbie verdreht genervt die Augen und trägt den Karton in »mein« Zimmer.
»Ich bin mir sicher, dass zwischen deinen Beinen schon lange keiner mehr gewesen ist, Herzchen.«
Ich fange bereits an, meinen Aufenthalt hier zu bereuen. Die einzige Alternative – unter der Brücke schlafen – klingt momentan geradezu verlockend.
»Da dürfen nur Menschen mit Niveau hin, Vollidioten wie du ausgeschlossen«, sage ich und quetsche mich an ihm vorbei, um zu meinem Bruder zu kommen.
»Schafft ihr beide es eigentlich, euch fünf Minuten im selben Raum aufzuhalten, ohne aufeinander loszugehen?«, fragt Robbie und sieht zwischen mir und Sixten, der mir still gefolgt ist, hin und her.
»Wir begrüßen uns nur«, erkläre ich schulterzuckend und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Egal wie sehr Sixten mir manchmal auf die Nerven geht, die Auseinandersetzungen mit ihm machen auf eine merkwürdige Art und Weise Spaß.
»Wie ihr meint. Das Bett ist frisch bezogen, fühl dich wie zu Hause.« Ganz der große Bruder drückt er mir einen Kuss auf den Kopf und geht ins Wohnzimmer.
Seufzend drehe ich mich um, um meine Tasche aus dem Flur zu holen, aber bevor ich das Zimmer verlassen kann, wird die Tür von Sixten und seinem tätowierten Arm blockiert. Genervt sehe ich ihm in seine stahlgrauen Augen und lasse mir nicht anmerken, wie sehr mich dieses Muskelspiel fasziniert. Dieser Mann verbringt schätzungsweise sein halbes Leben im Fitnessstudio – was soll man da erwarten?
»Ich denke, es wird Zeit, dass ich dir die Regeln erkläre.«
Habe ich mich gerade verhört?
»Die Regeln?«, frage ich nach und er nickt mit einem selbstgefälligen Lächeln.
»Zivilisierte Menschen stellen gerne Regeln auf, um das Zusammenleben miteinander zu erleichtern«, erklärt er, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, und ich schnalze als Reaktion darauf mit der Zunge. »Erstens: Ohne Kaffee brauchst du mich nicht anzusprechen. Zweitens: Ich will niemals sehen, dass du hier drinnen rauchst. Und drittens: Niemanden interessiert dein Privatleben, also ist Besuch während deines Aufenthalts hier absolut tabu.«
Ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen und schnaube ungläubig. »Ich wusste gar nicht, dass Robbie mit einem Diktator zusammenlebt«, necke ich ihn und Sixten nimmt endlich den Arm herunter, um mich vorbeigehen zu lassen.
»Benimm dich, Veronika, dann bekommen wir keine Probleme.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, dreht er sich um und verschwindet in seinem Zimmer.
Fassungslos stehe ich im Türrahmen und versuche die Wut, die explosionsartig in meinem Inneren aufkocht, zu unterdrücken. Meinen vollen Vornamen zu benutzen ist ein absolutes No-Go!
Robbie amüsiert sich prächtig, als ich ihm von Sixtens völlig überzogenen Regeln erzähle.
»Man muss dazu sagen«, sagt er und beißt ein Stück seiner Pizza ab, die wir uns eben beim Italiener um die Ecke geholt haben, »dass Sixten regelmäßig gegen jede einzelne seiner Regeln verstößt. Er veranstaltet Shisha-Partys im Wohnzimmer, trinkt ständig den Kaffee leer und hier herrscht generell ein Durchgangsverkehr wie in einem Bahnhof.«
Ich gönne mir ein Schluck eisgekühlten Biers.
»Doppelmoral«, brumme ich und verdrehe die Augen.
»Er kommt nur nicht darauf klar, dass jetzt ein Mädchen hier wohnt«, erklärt er schulterzuckend.
»Als ob ich absichtlich ein Loch in die Wasserleitung des Studentenwohnheims gebohrt hätte, nur um auf seine reizende Gastfreundschaft angewiesen zu sein«, erwidere ich sarkastisch.
»Lass dich nicht von ihm provozieren, Nika.« Robbie lehnt sich zurück und hält sich rülpsend den vollen Bauch.
»Was soll das denn heißen?« Skeptisch hebe ich eine Augenbraue und fühle mich aus unerfindlichen Gründen angegriffen.
»Schwesterherz, ich weiß, dass du es liebst, dich zu streiten und selbst auf die kleinste Provokation eingehen wirst. Sollen wir eine Wette abschließen, wie lange du es schaffst, ruhig zu bleiben?« Er lacht leise und ich trete ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein.
Aber wem mache ich was vor? Es wird eine sehr lange Woche für mich werden.
Meine erste Nacht in Henrys Zimmer ist erstaunlich erholsam. Das frisch bezogene Bett riecht nach Kirschblüten und Robbie hat mir sogar einen Luftbefeuchter auf den Nachttisch gestellt. Als mein Wecker um acht Uhr klingelt, ist meine Wut über Sixtens bescheuerte Regeln fast vergessen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Unterhaltung der Jungs aus dem Flur an mein Ohr dringt.
»Welpenschutz?«, fragt Sixten überaus skeptisch.
»Ich bitte dich nur, etwas netter zu Nika zu sein, Bro. Sie hat es momentan wirklich nicht leicht«, erwidert mein Bruder und ich schnaube.
Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, Bruderherz.
»Und bitte, bitte, bitte versuche nicht, sie anzugraben«, setzt Robbie nach und sein bester Freund lacht schallend.
»Nichts für ungut, aber deine Schwester ist nicht einmal ansatzweise so attraktiv, wie sie es sich einbildet, und darüber hinaus auch überhaupt nicht mein Typ.«
Ich widerstehe der Versuchung, meinen Kopf gegen die angelehnte Tür zu schlagen. Wow, Sixten, ein getroffener Hund bellt, oder was?
»Ich werde versuchen, ihr das Leben nicht noch schwerer zu machen. Aber ich kann dir nichts versprechen.«
»Gib dir Mühe«, bittet Robbie und einen Moment später hört man das Zuschlagen der Wohnungstür.
Ich schlüpfe aus dem Bett und werfe einen Blick in den Spiegel. Meine Haare sind etwas verstrubbelt und mein Outfit besteht aus Stoffshorts, die während des Schlafens etwas nach oben gerutscht sind, sowie einem bequemen Bralette. Im Gehen schnappe ich mir meine Zigarettenschachtel samt Zippo von der Kommode und verstaue sie auf dem Weg in die Küche in der Tasche meiner Shorts.
»Guten Morgen«, begrüße ich meinen neuen Mitbewohner fröhlich.
»Morgen«, grummelt Sixten und wirft einen auffällig langen Blick auf mein Outfit, welches ihn nicht kalt zu lassen scheint. Sein süffisantes Lächeln verrät ihn.
Übertrieben aufreizend strecke ich mich, um eine Tasse aus dem Hängeschrank zu holen, und spüre seinen Blick auf meinem Hinterteil, als ich mir einen Kaffee einschenke. Männer sind so einfach gestrickt.
»Weißt du«, ich schütte unauffällig die frisch aufgebrühte Kanne in den Abfluss, »ich bin euch Jungs wirklich dankbar, dass ihr mich aufgenommen habt. Ein Hotel wäre unbezahlbar gewesen.« Ich lehne mich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank, während Sixten absolut teilnahmslos in seine Zeitung vertieft zu sein scheint. »Wirklich dankbar«, wiederhole ich murmelnd und zünde mir eine Zigarette an.
Das Klicken des Zippos lässt seinen Lesestoff sofort zur Nebensache werden. Er fixiert mich mit seinen grauen Augen. Wenn Blicke töten könnten.
»Willst du mich verarschen?«, fragt er gefährlich leise.
»Oh, entschuldige.« Ich blase genüsslich den Rauch aus meinen Lungen und zeige mein bestes, künstliches Lächeln. »Das hatte ich ganz vergessen«, rechtfertige ich mich und lösche meine Kippe unter dem tropfenden Wasserhahn.
Sixten beißt augenscheinlich so heftig die Zähne aufeinander, dass sein kompletter Kiefer angespannt ist. Er hat meinem Bruder noch vor wenigen Minuten versichert, dass er sich Mühe geben wird, freundlich zu mir zu sein. Zum jetzigen Zeitpunkt würde er mir wohl am liebsten den Hals umdrehen.
»Danke für den Kaffee.« Ich verlasse hüftschwingend den Raum und höre lediglich einen wütenden Aufschrei, als Sixten die leere Kanne bemerkt.
Eins zu null für mich, Arschloch.
Erstaunlicherweise folgt Sixten mir nicht und ich kann in Ruhe meine Sachen für die Uni packen. Irgendwann verlässt er ohne ein Wort in meine Richtung die Wohnung und ich kann mir endlich meine langersehnte heiße Dusche gönnen. Minutenlang stehe ich wie ein kleines Mädchen in der Ecke der Kabine und warte bis sich Dampf bildet, aber das Wasser bleibt kalt und meine Laune sinkt in den Keller. Jemand hat den Boiler bis zum letzten Tropfen ausgereizt und mir bleibt nichts anderes übrig, als in einem Regenschauer aus Eiswürfeln zu duschen.
Stinksauer steige ich eine halbe Stunde später in mein Auto und fahre – einige Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreitend – zur Uni. Auf meinem Lieblingsparkplatz, einem schattigen Plätzchen in der Nähe der Kantine, steht natürlich kein anderes Auto als Sixtens Geländewagen.
»Du elender Scheißkerl«, nuschle ich wütend und balle die Hände zu Fäusten.
»Hallo, Nika«, grüßt mich Anastasia, eine Kommilitonin, mit der ich gerne meine Mittagspausen verbringe.
»Hast du Hendricks gesehen?«, frage ich sie erbost, und lasse meine sonst tadellosen Höflichkeitsformen außer acht.
»Sixten? Ja, er ist in der Kantine mit –«
Ich drehe mich auf dem Absatz um und laufe zum gelb gestrichenen Gebäude, ohne auf weitere Erläuterungen zu warten. In der hintersten Ecke hat er sich mit seiner Gefolgschaft bestehend aus zwei Studenten, die ähnlich breit gebaut sind wie er, und Trish, der Universitätsmatratze, bequem gemacht.
»Guten Morgen, Sonnenschein.« Er begrüßt mich mit einem Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen würde.
»Siehst du das?«, fauche ich und deute auf meine Haare, die sich dank der Blitzdusche und ohne die gewohnte Pflegespülung nun leicht wellen.
»Hast du etwas mit deiner Frisur gemacht? Steht dir gut.«
Trish hebt fragend eine Augenbraue, weil sie vermutlich noch nicht gecheckt hat, dass seine Aussagen sarkastisch gemeint sind. Ich hätte nicht wenig Lust, ihm dafür vor versammelter Mannschaft eine Ohrfeige zu verpassen. Er muss einen siebten Sinn dafür haben.
»Es geht mir am Allerwertesten vorbei, was du heute morgen mit Robbie besprochen hast«, erkläre ich ihm leise und deutlich. »Wenn du Krieg willst, kannst du Krieg haben.«
»Ich möchte doch keinen Krieg mit dir, Herzchen. Wir können uns doch bestimmt verhalten wie zivilisierte Menschen, die die Regeln und Grenzen des anderen akzeptieren«, erwidert er mit seinem typischen Psychogerede und bringt mich damit nur dazu, innerlich bis fünf zu zählen und tief durchzuatmen. »Glaubst du, wir bekommen das hin?«
Sekunden verstreichen und meine rechte Hand zittert gefährlich. Aber statt ihm diesen Triumph zu gönnen, präsentiere ich ihm ein fieses Joker-Gesicht und zeige ihm den Mittelfinger.
»Leck mich, Sixten«, säusle ich und verlasse mit wehendem Haar die Kantine.
✱✱✱
Mit schmerzenden Füßen beende ich am Abend meine Schicht im Travellers, einer gut besuchten Bar am Rande der Stadt. Mein heute verdientes Trinkgeld wird für zwei Schachteln Zigaretten und eine Tankfüllung für meinen geliebten Plymouth GTX reichen. Eine Runde Texas Hold'em mit dem richtigen Blatt und das Geld ... – nein, falscher Gedanke. Seufzend steige ich in meinen Wagen, stecke das Handy in die Halterung neben dem Lenkrad und blicke durch die Windschutzscheibe in die sternklare Nacht von Montana.
»So sieht also mein Leben aus?«, murmle ich und lehne mich in den bequemen Ledersitz. »Ich bin pleite, Kellnerin, wohne bei meinem Bruder und habe mehr Schwierigkeiten am Hals als Bonnie Parker.« Manchmal habe ich das dringende Bedürfnis, der Göttin des Schicksals den Mittelfinger zu zeigen.
Gerade als ich den Motor starte, leuchtet mein Handydisplay auf und zeigt einen eingehenden Anruf.
»Hallo, Diego, so spät noch wach?«, begrüße ich ihn über Lautsprecher und werfe einen Blick auf die leuchtenden Zahlen in der Ecke – halb zwölf.
»Als ich das letzte Mal vor Mitternacht im Bett war, war ich noch in der Vorschule«, erwidert er und lacht leise. »Im Wohnheim findet gerade eine kleine Party statt. Hast du Lust?«
Eigentlich bin ich hundemüde und möchte nichts lieber als meine schmerzenden Füße hochlegen. Aber ein bisschen Ablenkung und die Möglichkeit, mich kostenlos zu betrinken, klingen tatsächlich verlockend.
»Ich bin in zwanzig Minuten da«, sage ich und beende nach einer kurzen Verabschiedung den Anruf.
Die »kleine Party« entpuppt sich als ausgewachsene Studenten-Eskalation. Überall springen leicht bekleidete Mädels herum, man könnte meinen, halb Montana hätte sich hier versammelt. Nur mit Glück ergattere ich einen Parkplatz in der Nähe des Wohnhauses. Genervt quetsche ich mich durch die Menschenmenge in das Gebäude und entdecke Diego bei seinen Football-Kollegen auf der Couch vor dem Fernseher.
»Nika! Deine Schönheit erhellt den Raum.« Er springt mit einem breiten Grinsen auf und umarmt mich. »Komm, Süße, ich besorge dir was zu trinken.«
Amüsiert über seinen Enthusiasmus folge ich ihm in die Küche, die gerade von stark angetrunkenen Studenten verlassen wird. Mal wieder wird mir bewusst, warum ich solche Partys normalerweise meide.
Diego öffnet den Kühlschrank und beginnt, Flaschen hin und herzuschieben.
»Was darf es sein? Ich habe Sekt, Bier, Whiskey, Wodka, Wein aus Australien ...?«
»Ein Bier, das reicht mir vollkommen«, unterbreche ich ihn und mache es mir auf der Kücheninsel bequem.
Währenddessen holt er zwei eisgekühlte Flaschen aus dem Tiefkühlfach und drückt mir eine davon in die Hand.
»Erzähl, wie war die Halloween-Party?«, frage ich ihn neugierig. Das Event des Jahres, das ich für ein heißes Date mit meiner Badewanne und einer Flasche Merlot verpasst habe.
»Anscheinend der absolute Wahnsinn«, antwortet er schulterzuckend und gönnt sich einen großen Schluck seines Bieres.
»Was meinst du mit ›anscheinend‹?« Es ist kein Geheimnis, dass solche Veranstaltungen das Potential haben, komplett aus den Fugen zu geraten.
»Ich kann mich an rein gar nichts erinnern, Nika. Mit der Menge Alkohol in meinem Körper hätte ich jedem Fernfahrer Konkurrenz gemacht«, erklärt er und schafft es dabei, kein bisschen peinlich berührt zu wirken.
Augenrollend nippe ich an meinem Bier. »Die besten Partys sind immer solche, an die man sich nicht erinnern kann«, ziehe ich ihn auf und erhebe die Flasche zum Prost.
Diego lacht schallend und lehnt sich neben mich gegen die Theke.
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Besonders wenn man solch nette Freunde wie Cyrus hat, die einem am nächsten Tag seine Verfehlungen vor Augen führen.«
Beinahe löblich wie die Jungs aufeinander achten.
»Was hat unser Star-Quarterback Diego Ramirez denn angestellt?« Ich kann es nicht lassen, meine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Irgendwann wird mich diese Eigenschaft vermutlich das Leben kosten.
»Etwas zu offensiv an einem abgeneigten, aber extrem scharfen Grady-Zwilling gebaggert, die ihr Desinteresse mit einem Tritt in mein Heiligtum verdeutlicht hat«, erzählt er und ich kann nicht anders als loszuprusten.
»Respekt«, keuche ich unter meinem heftigen Lachanfall. »Die Kleine hat ganz schön Courage.«
»Ich kann es nicht verübeln. Und sollte ich jemals herausfinden, wer sie wirklich ist, werde ich mich dafür entschuldigen«, verspricht er mit erhobenem Zeige- und Mittelfinger.
»Guter Vorsatz«, lobe ich ihn grinsend und nehme einen weiteren tiefen Zug.
»Bei der nächsten großen Party bist du aber hoffentlich dabei.«
Ich schlage die Beine übereinander und bemerke, wie Diegos Blick anfängt zu wandern.
»Du weißt doch, dass ich kein Freund von einem solchen Studenten-Saufgelage bin«, erwidere ich und leere mit einem letzten Schluck die Flasche.
»Und dennoch bist du hier«, murmelt er mit einem verschlagenen Grinsen.
»Könnte daran liegen, dass ich dich mag«, erkläre ich schulterzuckend und er zwickt mir amüsiert in die Seite. Dieses Geplänkel zwischen ihm und mir ist vollkommen anders als bei Sixten.
»Jo, Diego, was ist das denn für eine lahme Party ohne Wodka?« Wenn man vom Teufel spricht. Mein fleischgewordener Albtraum betritt die Küche und meine Laune sinkt in den Keller. Als Sixten mich erblickt, verziehen sich seine Lippen zu einem creepy Grinsen.
»Nika, seit wann nimmst du denn am gesellschaftlichen Leben der unwürdigen Kommilitonen teil?«, stichelt er und heiße Wut kocht in mir auf, aber ich reiße mich zusammen.
»Seit ich selbst entscheide, wer in meinen Augen würdig ist.«
»Autsch«, zischt Diego belustigt und Sixtens Gesichtszüge verrutschen ein wenig. »Wodka ist im Kühlschrank, Bro.«
Das Verlangen, Sixten zu provozieren, pulsiert geradezu übermächtig in meinem Inneren und ich beschließe, die seltene Gelegenheit zu nutzen. »Bediene dich ruhig. Diego und ich wollten sowie gerade hochgehen.« Ich springe von der Küchentheke, stelle mein Bier darauf ab und nehme Diegos Hand, um ihn hüftschwingend aus dem Raum zu ziehen. Der Ausdruck in Sixtens Augen ist mehr als befriedigend.
Oben angekommen schließe ich die Tür hinter uns und kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
»Hast du seine Fresse gesehen? Dafür allein hat es sich gelohnt, heute herzukommen.«
Aber Diego lacht nicht, sondern stellt seine Flasche auf den Nachttisch und drängt mich sanft nach hinten, bis ich die Wand in meinem Rücken spüre.
»Willst du Six eifersüchtig machen?«, fragt er leise und schiebt mir eine lose Strähne hinter das Ohr.
»Wie kommst du denn darauf?« Provokation ist absolut nicht vergleichbar mit Eifersucht.
»Wenn wir schon mal hier sind«, sagt er und übergeht damit meine Frage, »könnten wir das auch nutzen. Um der alten Zeiten willen.« Seine Finger spielen am Saum meines ärmellosen Oberteils und ein angenehmer Schauer kriecht über meinen Rücken.
Die gute, alte Zeit, als wir nichts anderes waren, als zwei Menschen, die öfter mal das Bett teilten.
Mit einem verführerischen Wimpernaufschlag lege ich meine Hände auf seine Schultern und den Kopf schief.
»Wie kann ich da Nein sagen?«, erwidere ich schmunzelnd.
Als ich Stunden später die Wohnungstür aufschließe und auf Zehenspitzen durch den Flur tapse, freue ich mich einfach nur auf Henrys Bett. Dass Sixten oberkörperfrei im Türrahmen seines Zimmers steht und mich mit verschränkten Armen mustert, habe ich allerdings nicht erwartet.
»Ramirez, Nika, ernsthaft? Er fällt in die Rubrik Männer mit dem nötigen Niveau?« Sein Tonfall klingt fast beleidigend, sodass ich mich direkt wieder angegriffen fühle. Das kann nicht gut für meinen Blutdruck sein.
»Hast du ein Problem damit?« Ich stemme die Hände in die Hüfte und überlege, ob ich ihm eine sehr detaillierte Beschreibung meiner Orgasmen mit Diego liefern soll. Mein Gegenüber öffnet den Mund, aber im selben Moment hört man eine viel zu hohe Stimme aus seinem Schlafzimmer.
»Schaaaatz, kommst du?« Oh mein Gott, er hat sich Trish ins Bett geholt.
»Wie ich höre, brauchen wir uns über das Thema Niveau nicht zu unterhalten«, sage ich selbstgerecht und lasse ihn einfach stehen, ohne auf eine Reaktion zu warten.
Am nächsten Morgen sitzt glücklicherweise nur Robbie am Frühstückstisch und gießt mir frisch aufgebrühten Kaffee in eine Tasse mit Uni-Logo. Der Blick, mit dem er mich bedenkt, verunsichert mich allerdings ein wenig.
»Warum schaust du so?«, frage ich ihn und nehme mir einen Bagel aus der Bäckertüte, die neben einer offenen Packung Frischkäse liegt.
»Du siehst anders aus. Irgendwie ... zufrieden.« Schulterzuckend trinkt Robbie seinen Kaffee.
»Zufrieden?«
»Ja, zufrieden«, bestätigt er. »Hat das zufälligerweise etwas mit meinem Mitbewohner zu tun?«
Augenrollend beiße ich in meinen Bagel. »Meine Zufriedenheit ist absolut nicht von Sixten Hendricks abhängig«, erkläre ich ihm eindringlich, aber mein Bruder wirkt nicht sonderlich überzeugt.
»Dann haben deine ... anderen Probleme sich gelöst?«
Meine Hand, die die Tasse hält, verkrampft sich. Danke, Bruderherz, dass du mich daran erinnerst, dass ich neben diesem Kindergarten mit deinem gutaussehenden besten Freund auch ernste Probleme habe.
»Bedauerlicherweise nein«, antworte ich zähneknirschend und hoffe, dass Robbie nicht weiter nachbohrt.
Seufzend lehnt er sich nach vorne und packt seine Große-Bruder-Miene aus. »Nika, wenn du irgendwie Hilfe brauchst. Du weißt, dass ich –«
»Wir hatten dieses Thema bereits mehrmals und die Antwort lautet nach wie vor Nein«, unterbreche ich ihn. »Es sind meine Angelegenheiten und ich löse sie alleine.« Dass ich keine Ahnung habe, wie ich das bewerkstelligen soll, werde ich ihm jetzt allerdings nicht auf sein Mehrkornbrötchen schmieren.
»Du wirst dir mit dieser Einsamer-Wolf-Nummer eines Tages dein eigenes Grab schaufeln«, meint er angefressen, während ich meine mittlerweile leere Tasse in die Geschirrspülmaschine stelle.
»Mag sein«, gebe ich zu. »Aber dann weiß ich wenigstens, wem ich es zu verdanken habe.«
Nach einer heißen Dusche mache ich mich mit deutlich schlechterer Laune auf den Weg zur Uni und parke den GTX auf meinem Lieblingsparkplatz, der erstaunlicherweise nicht von Sixten blockiert wird. Die Erkenntnis, dass ich eine Affäre mit Diego habe, hat seinem männlichen Ego scheinbar einen herben Tritt verpasst. Leider kann ich nicht einmal Genugtuung empfinden, weil mich andere Sorgen und Gedanken plagen, die nichts mit diesem Idioten zu tun haben. Kopfschüttelnd versuche ich, mich auf meine heutigen Vorlesungen zu konzentrieren. Heute soll außerdem mal wieder eine Informationsveranstaltung für die erfolgreiche Integration der veganen Ernährungsweise in der Mensa stattfinden, für die ich die Bilder schießen darf, welche dann in einem Artikel in RAWR!news, unserer College-Zeitung, Verwendung finden. Dafür hole ich meine schwere Kameratasche aus dem Kofferraum und mache mich auf den Weg zur Redaktion.
Auf halbe Strecke, ich starre gedankenverloren auf die Fugen des Natursteinbodens, packt mich plötzlich jemand am Arm und zieht mich hinter das Bibliotheksgebäude.
»Lass mich los, du Gorilla«, fauche ich den Hünen an, der mir schmerzhaft die Handgelenke zusammendrückt.
Endlich gibt er mich ruckartig frei und ich stolpere nach vorne. Wütend hebe ich den Kopf und schaue direkt in das Gesicht der Inkarnation meiner Probleme – Blaine Wyler.
»Hallo, Nika.« Seine eiskalte Stimme genügt, um eine heftige Ganzkörper-Gänsehaut auszulösen.
»Schön dich zu sehen, Blaine«, begrüße ich ihn mit meiner üblichen Charme-Offensive, die an ihm abprallt, als hätte er den Lotuseffekt.
»Entschuldige die grobe Behandlung, aber ich habe immer mehr den Eindruck, dass du mir aus dem Weg gehst«, sagt er ohne jegliches Amüsement in der Stimme, während ich mir die schmerzenden Handgelenke reibe.
Mein Herzschlag beschleunigt sich drastisch und ich werfe einen beunruhigten Blick über meine Schulter. Blaines Gorilla, der sicherlich nicht zögern würde, mich krankenhausreif zu prügeln, wenn es ihm befohlen wird, schaut grimmig drein.
»Das würde ich niemals wagen«, lüge ich mit einem künstlichen Lächeln.
»Guuut«, säuselt er und zieht einen Mundwinkel nach oben, als er langsam den Abstand zwischen uns verringert. »Dann hast du auch sicher nicht vergessen, dass wir zwei Hübschen noch eine Rechnung offen haben.«
Die Situation wird immer ungemütlicher und ich muss mir dringend etwas einfallen lassen, um ihn zu besänftigen, sonst wird das nicht gut ausgehen für mich.
»Ich habe nicht vor, dich zu hintergehen, Blaine«, sage ich mit süßlicher Stimme. »Du bekommst dein Geld, fristgerecht und mit Zinsen.«
Ich zucke zusammen, als er die Hand hebt, aber er streichelt lediglich meine Wange.
»Das ist schön zu hören. Wir wollen schließlich nicht, dass diesem hübschen Gesicht etwas zustößt.« Die offensichtliche Drohung in seinem Tonfall verunsichert mich, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
»Wir sehen uns bald wieder, Nika«, verabschiedet Blaine sich leise, nickt seinem Handlanger zu und nimmt endlich seine Pfoten von meinem Gesicht.
Die beiden verschwinden im Parkplatz-Getümmel und ich atme kräftig ein, als ob ich minutenlang die Luft angehalten hätte.
Fuck – meine Probleme haben sich gerade verschlimmert.
✱✱✱
Kopflos schaffe ich es, meine Fotos zu schießen und die Kurse hinter mich zu bringen. In der Mittagspause schreiben Anastasia und ich den Artikel für RAWR!news und ich übernehme ein weiteres Projekt, nämlich die journalistische Dokumentation der Neugestaltung des Spielertunnels unseres Football-Stadions. Ich bemühe mich, professionell und selbstbewusst meinen Alltag hinter mich zu bringen, aber jedes Mal taucht Blaine in meinem Kopf auf und bringt meine Hände so heftig zum Zittern, dass ich rund ein Dutzend Fotos der grinsenden Hardcore-Veganer löschen muss, bevor der Artikel passabel genug für die Korrektur ist.
»Alles okay?«, fragt mich Anastasia, als wir schließlich bei Gemüseauflauf und Tortellini al Forno an einem der runden Tische in der Mensa sitzen.
»Klar, ist alles gerade ein bisschen stressig«, erkläre ich schulterzuckend und gönne mir einen großen Schluck Sprite. »Die ganzen Kurse, dazu noch die College-Zeitung, der Wasserschaden im Wohnheim und das Zusammenleben mit ...«
»Sixten«, vervollständigt sie schmunzelnd und ich fahre mir nickend durch meine hellbraunen Haare. Anastasia spielt währenddessen mit dem Strohhalm ihres Getränks. »Ich verstehe dein Problem mit ihm nicht, Nika. Wenn ich das Privileg hätte, bei Sixten Hendricks zu wohnen, würde ich ihm jeden Morgen Frühstück machen, damit er im Speck-und Spiegelei-Delirium vergisst, seine Badezimmertür abzuschließen, wenn er duscht.«
»Das klingt einfach nur creepy«, sage ich kichernd und schiebe mir ein Stück Brokkoli in den Mund.
»Du kannst mir nicht weismachen, dass du dich nicht ein klitzekleines Bisschen von ihm angezogen fühlst.«
Anastasia versucht, mich zu ärgern, aber ich esse unbedarft meinen Auflauf, ohne darauf einzugehen. Egal, wie gern ich sie habe, ich werde ihr nicht sagen, wie attraktiv ich Sixten mit seinen kantigen Gesichtszügen, den grauen Augen und seinem knackigen Hintern finde.
»Ich würde Wetten darauf abschließen, dass ihr noch vor deinem Auszug in der Kiste landet«, plappert sie völlig überzeugt und fuchtelt mit ihrer Gabel.
»Vielleicht sollten du und Robbie ein Wettbüro gründen.«
»Weißt du, Nika?« Sie tippt sich auf die Nase. »Mein Riecher hat mich nur sehr selten getäuscht.«
Augenrollend trinke ich einen Schluck meiner Limo und verzichte darauf, ihre Aussage zu kommentieren.
»Sixten ist arrogant, egozentrisch und hat ein paar ernstzunehmende Autoritätsprobleme. Warum sollte mich so ein Typ Mann ansprechen?«, frage ich sie und lasse meinen Blick schweifen. Die Kantine ist voll bis auf den letzten Platz und mein Unterbewusstsein scannt die Umgebung nach Blaine und seinem Gorilla ab, aber die beiden sind glücklicherweise nicht zu sehen. In der Nähe der Ausgabe sitzt Robbie bei seinen Bandkollegen und winkt mir zu, als er den Kopf hebt.
»Niemand hat gesagt, dass du ihn heiraten musst«, erwidert Anastasia, als wäre es die plausible Erklärung auf meine Frage.
»Und wenn, ernenne ich dich feierlich zu meiner Trauzeugin.« Schmunzelnd proste ich ihr mit meiner Sprite zu.
Sie hebt ihre Augenbraue und ich weiß, dass sie ihren Medizin-Studenten-Moment hat, auf den in der Regel eine wissenschaftliche Predigt folgt.
»Neusten Studien zufolge, meine Liebe, steigert regelmäßiger Geschlechtsverkehr und die dadurch resultierende Ausschüttung von Endorphinen nicht nur die Leistungsbereitschaft, sondern auch die generelle Zufriedenheit und das Wohlbefinden. Und, was noch viel wichtiger ist, du wärst dann nicht mehr so zickig.« Sie kichert, als ich ihr für diesen Satz die Zunge herausstrecke.
»Ich bin nicht untervögelt«, verkünde ich zwinkernd und spüre eine Sekunde später eine sanfte Berührung in meinem Nacken, die ein angenehmes Kribbeln auslöst. Mit einem schiefen Grinsen läuft Diego an unserem Tisch vorbei und schenkt mir einen glühenden Blick, der auch Anastasia nicht entgeht.
»Siehst du?« Selbstgerecht hebe ich eine Augenbraue.
»Angeberin«, brummt sie.
✱✱✱
Gedankenverloren fülle ich am nächsten Morgen den letzten Rest Kaffee aus der Kanne in meine Tasse und gönne mir einen Schluck des flüssigen Glücks.
»Verdammt nochmal«, faucht jemand hinter mir und ich zucke erschrocken zusammen. »Du legst es wirklich darauf an, hochkant rausgeworfen zu werden, nicht wahr?« Sixten steht mit wütender Miene hinter mir und ich erkenne meine Verfehlung: Der Kaffee war für ihn bestimmt.
»Sorry, Süßer, kommt nicht mehr vor«, murmele ich und laufe gelangweilt an ihm vorbei. Ich habe momentan absolut keine Lust, mich mit ihm zu streiten.
Dummerweise sieht Sixten die Situation nicht als beendet an und packt mich am Handgelenk, um mich zum Stehenbleiben zu zwingen. Ein beißender Schmerz durchzuckt mich, als er genau die Stelle trifft, die gestern von Blaines Gorilla malträtiert worden ist.
»Was ist los?«, fragt Sixten alarmiert, als ich ihm energisch meinen Arm entreiße.
»Nichts«, antworte ich sofort und schiebe den Ärmel meines Longsleeves nach unten.
»Lüg mich nicht an.« Er kneift die Augen zusammen und schafft es trotz Gegenwehr meinerseits, einen Blick auf das Hämatom zu erhaschen.
»War das Diego?« Sein schockierter Gesichtsausdruck bringt mich beinahe zum Lachen, wäre die Situation nicht so verdammt grotesk.
Augenrollend gehe ich ein paar Schritte zurück, um Abstand zu gewinnen, aber er folgt mir und nach wenigen Sekunden habe ich die Wand im Rücken.
»Diego hat mir nichts getan, außer mich mit Handschellen an den Bettpfosten zu ketten, als wir es getrieben haben«, lüge ich ihm ins Gesicht in der Hoffnung, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
»Verkauf mich nicht für dumm, Veronika.« Argh, schon wieder der volle Name. »Handschellen scheuern höchstens und hinterlassen rote Spuren, keine blauen Flecken.« Fuck.
»Da kennt sich jemand aus«, murmele ich, aber auch auf diese Provokation geht er nicht ein.
Stattdessen verringert er den Abstand zwischen uns und steht nun direkt vor mir. Wenn er mir damit Angst machen will, versagt er auf ganzer Linie. Ich bin eher angetan von seiner Nähe und dem frischen Geruch seines Aftershaves. Wenn er nicht so ein Idiot wäre, hätte ich ihn schon längst angesprungen wie eine ausgehungerte Löwin.
»Wenn du es mir nicht sagen willst, gehe ich Diego suchen und verpasse ihm mehr als nur ein paar blaue Flecken«, knurrt er und ich gebe seufzend auf.
»Komm runter, es war nicht Diego.«
»Wer dann?« Mr. Hendricks bleibt beharrlich, was auch sonst.
Da er mir partout keine Lüge abkaufen will, halte ich einfach den Mund und sage gar nichts.
»Gut. Ich finde es so oder so heraus«, sagt er ruhig, doch die leichte Drohung in seiner Aussage ist nicht zu überhören. Für jemanden, der immer wieder betont, wie sehr ich ihm am Allerwertesten vorbeigehe, interessiert diese Kleinigkeit ihn plötzlich brennend. Automatisch verziehen sich meine Lippen zu einem breiten Grinsen.
»Sag bloß, du sorgst dich um mich«, necke ich ihn, aber Sixten schnaubt genervt und stößt sich von der Wand ab. Wie schade, es fing gerade an, interessant zu werden.
»Bilde dir nichts ein, Herzchen. Ich kann es nur nicht leiden, wenn man Frauen zu hart anpackt«, erklärt er und verlässt den Raum, ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten.
Meine gute Menschenkenntnis macht sich bemerkbar und registriert wohlwollend, dass er gelogen hat.
»Interessant«, murmele ich. Sixten ist eifersüchtig und besorgt.
✱✱✱
Die Tage vergehen, ohne dass ich dazu komme, über Sixtens Verhalten nachzudenken. Stattdessen beschäftige ich mich intensiv mit meinen Geldproblemen, indem ich jede Chance nutze, im Travellers zu arbeiten. Jeder Dollar, der nicht in Benzin oder dringend benötigtes Nikotin investiert wird, landet in einem Umschlag unter meinem Kopfkissen. Es ist kein besonders großer Betrag, aber es wird reichen, um Blaine davon abzuhalten, mir die Reifen aufzuschlitzen – zumindest fürs Erste.
Nach meiner extrem anstrengenden Schicht am Samstag stehe ich vor dem Wohnhaus und ziehe in Ruhe an meiner Feierabend-Zigarette, damit Sixten keinen Grund hat, mir den Kopf abzureißen, weil die Wohnung nach Rauch riecht. Morgen ist es genau eine Woche her, dass ich bei diesem Diktator eingezogen bin. Wie lange braucht man bitte, um ein geplatztes Rohr zu reparieren?
Stirnrunzelnd drücke ich meine Kippe in den Standaschenbecher und öffne den überfüllten Briefkasten, um die Post der schätzungsweise letzten drei Wochen mit hochzunehmen. Kaum trete ich durch die Wohnungstür, begrüßen mich lautstarke Soundeffekte, die darauf schließen lassen, dass die Jungs ihren Abend vor der Konsole verbringen. Wie erwartet sitzen beide auf der Couch, vor ihnen eine beachtliche Anzahl an leeren Bierflaschen und aufgerissenen Chipstüten. Während Sixten seinen Controller energisch bearbeitet, unterhält sich Robbie mit seinem zweiten Mitbewohner via Skype.
Seufzend setze ich mich auf die Armlehne der Couch und begrüße Henry, der auf dem Laptop-Bildschirm meines Bruders fröhlich winkt.
»Hey, Nika, ich hoffe mein Bett ist bequem und Sixten geht dir nicht zu sehr auf die Nerven«, sagt er und neben Robbie ertönt ein spöttisches Schnauben.
»Alles ist besser, als unter der Brücke oder im Auto zu schlafen, also vielen Dank nochmal für deine Gastfreundschaft. Und was die Jungs angeht, die habe ich ganz gut im Griff.« Lässig schlage ich die Beine übereinander und lege die Post auf meinem Schoß ab.
»Dann störe ich euch nicht länger und genieße mein wohl verdientes Feierabend-Bier. Hooroo, meine Freunde«, ruft Henry und prostet uns mit einer braunen Flasche zu, bevor Robbie und er das Gespräch beenden.
»Das Work-and-Travel in Australien scheint ihm viel Spaß zu machen«, stelle ich amüsiert fest.
»So sehr, dass er seinen Aufenthalt um weitere drei Monate verlängert hat«, erwidert Sixten emotionslos und ich bin überrascht, dass wir uns bereits fünf Minuten friedlich im selben Raum befinden und er mir bisher keinen dummen Spruch an den Kopf geworfen hat.
»Ist das die Post?« Robbie nimmt die Briefe an sich, sortiert Rechnungen und Werbung aus und drückt mir einen Umschlag in die Hand, auf dem die Hausverwaltung der Studentenunterkünfte als Absender vermerkt ist. Robbies Adresse dort anzugeben, war eine sehr gute Idee.
Beim Lesen werden meine Augen immer größer und ich springe laut fluchend auf.
»Nein. Nein. Nein!«, rufe ich laut und lasse dieses elende Blatt Papier auf den Tisch fallen.
Verwirrt liest Robbie es sich durch und umfasst ratlos seinen Nacken.
»Der Wasserschaden in Nikas Wohngebäude ist schlimmer als ursprünglich angenommen. Eine großflächige Sanierung ist geplant und vom Vorstand abgesegnet. Die Kosten für die Unterbringung der Studenten werden eingefroren und die Fertigstellung ist zum Ende des Jahres geplant«, fasst Robbie für Sixten zusammen, der sofort sein Videospiel pausiert hat.
»Zum Ende des Jahres? Das sind noch über zwei Monate. Und wo genau soll ich in der Zeit unterkommen?« Verzweifelt fahre ich mir durch die Haare und suche in meinem Kopf nach einer schnellen und kostengünstigen Alternative, um nicht unter der Brücke schlafen zu müssen.
»Dein Aufenthalt hier ist definitiv nicht verlängerbar, Herzchen«, sagt Sixten lautstark und ich zeige ihm dafür den Mittelfinger. Ich habe auch wenig Lust, weiterhin bei dir zu wohnen, du Blödmann!
Mein Bruder, der sich nach wie vor nachdenklich Nacken reibt, liest sich den Brief ein weiteres Mal durch und faltet ihn schließlich akkurat zusammen.
»Was wäre denn schlimm daran, wenn wir die jetzige Situation beibehalten?«, fragt er langsam und sowohl mir als auch Sixten entfährt ein schockiertes »Was?«.
Beschwichtigend hebt Robbie die Hände und atmet tief durch. »Es ist ganz einfach: Nika braucht bis Ende des Jahres eine Bleibe, die sie sich leisten kann. Sixten und ich brauchen die Miete, die uns durch den Ausfall von Henry entsteht. Win-win-Situation.«
Schnaubend verschränke ich die Arme vor der Brust und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr Robbies Logik mir auf den Zeiger geht. Unsere Begeisterung über seinen Vorschlag hält sich sichtlich in Grenzen, aber es ist die einzig vernünftige Möglichkeit.
»Wenn Mr. Hendricks keine Probleme damit hat«, gebe ich nach minutenlanger Stille zähneknirschend nach.
»Solange Miss Lancaster sich anständig benimmt«, erwidert Sixten schmallippig.
»Wow, so viel Liebe in diesem Raum«, kommentiert Robbie augenrollend und erhebt sich. »Ich würde sagen, zur Feier des Tages bestellen wir Pizza«, verkündet er und geht in die Küche, um die Prospekte der umliegenden Italiener zu holen.
Währenddessen taxieren Sixten und ich uns wie zwei Raubtiere, bis seine Augen plötzlich zu wandern beginnen. Sein Blick gleitet über meine Lippen und meinen Ausschnitt, verweilt an dem Schwung meiner Hüfte und folgt meinen Beinen hinab bis hin zu den Füßen und wieder zurück. Hitze breitet sich in meinem Inneren aus und lässt meinen Unterleib kribbeln.
Als Robbie mit einem halben Dutzend Speisekarten wieder aus der Küche kommt, nimmt Sixten seinen Controller wieder in die Hand und spielt seelenruhig weiter, als wäre nichts passiert.
Was zum Teufel war das denn bitte?
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