Die Streberin
„Ich kann nicht fassen, dass du mir das antust, Jake", murre ich schlecht gelaunt und ziehe die Reißverschlüsse meiner Ankle Boots hoch.
„Du tust gerade so, als würde ich dich zwingen, nackt über den Campus zu rennen", erwidert Jacob und fängt schmunzelnd das kleine Kissen auf, welches ich von der Couch nehme und nach ihm werfe.
„Das wäre deutlich angenehmer, als zu einer Studentenparty zu gehen." Ich nehme meinen schwarzen Parka von der Garderobe und schlüpfe hinein.
„Warum bist du denn so negativ? Ein bisschen Musik und ein paar Drinks ... Wann hattest du das letzte Mal richtig Spaß?", fragt er und ich verziehe das Gesicht.
„Als McDonald's eine neue Eissorte auf den Markt gebracht hat", witzle ich und erhalte lediglich ein trockenes, humorloses Lachen dafür.
Wir verlassen die Wohnung und machen uns auf den Weg zum Baker House. Es gibt nur wenige Dinge, die mir noch mehr zuwider sind als kollektive Saufgelage, und Jake weiß das. Warum musste ich Idiotin mich auch verplappern? Am besten hätte ich ihm noch gesteckt, dass meine Aufmerksamkeit mehr Diegos Hintern als dem Spiel gegolten hat. Aber damit würde ich mir im wahrsten Sinne des Wortes ein Eigentor schießen.
Das Innere des Studentenhotspots ist rappelvoll und ein leichter Anflug von Klaustrophobie macht sich in mir breit, als ich mich zwischen zwei Grüppchen giggelnder Studentinnen hindurchquetsche. Jake und ich bahnen uns den Weg zum Gemeinschaftsraum, wo ein paar Biertische aufgebaut wurden, zusammen mit einer breiten Auswahl an hauptsächlich alkoholischen Getränken.
„Darf ich der Dame etwas empfehlen?", fragt Jake mit einer leichten Verbeugung, während ich mit skeptischem Blick die einzelnen Flaschen betrachte.
„Solange es keinen Alkohol hat, gerne."
„Du willst auf einer Studentenparty nüchtern bleiben?", erwidert er und zieht eine Augenbraue nach oben, als er bereits nach einer Flasche Bier greift.
„Ich habe vor einer Stunde eine Kopfschmerztablette genommen und erspare dir den Vortrag über Nebenwirkungen von Schmerzmitteln in Kombination mit Alkohol."
Seufzend reicht Jake mir eine Dose Eistee, bei der ich mir sicher sein kann, dass sie nicht bereits von angeheiterten Studenten gepanscht worden ist, und prostet mir zu.
„Ist das eigentlich schon deine Bestrafung? Du schleppst mich an einen lauten Ort mit nervigen, betrunkenen Menschen und provozierst meine innere 80-Jährige-Frau, die jetzt am liebsten bei Mozart in ihrem Wintergarten sitzen und stricken würde?"
Wir schauen ein paar Jungs dabei zu, wie sie ihre persönliche Beer-Pong-Meisterschaft austragen und dabei bejubelt werden wie Popstars.
„Du kannst nicht stricken", sagt er und zieht mir mit einem breiten Grinsen leicht an meinem Zopf.
„Challenge accepted", murmele ich und bin mir nicht sicher, ob Jake das gehört hat, als mein Blick an einer Sitzgruppe in der hinteren Ecke des Raumes hängenbleibt und ich mich beinahe an meinem Eistee verschlucke. Ein paar Footballer und Cheerleaderinnen haben es sich dort bequem gemacht und einer der knapp bekleideten Mädels schiebt unser Starquarterback gerade die Zunge in den Hals. Mit einem irrationalen Stich im Herzen wende ich mich ab und fluche leise. Als wäre ich fremdbestimmt, tragen mich meine Füße ins Nebenzimmer, wohin Jake mir folgt.
„Was ist los?", fragt er, als ihm mein zu einer Grimasse verzerrter Gesichtsausdruck auffällt.
„Man kann wirklich nirgendwo mehr hingehen, ohne mit der geballten Männlichkeit von Diego Ramirez konfrontiert zu werden", meckere ich und trinke um Gelassenheit bemüht meinen Eistee.
„Mh ..." Jake legt den Kopf schief und bedenkt mich mit einem undefinierbaren Blick. „Auf der anderen Seite der Couch lag Jason Keating vom Team quer auf einer Cheerleaderin. Das hat dich aber offensichtlich nur wenig interessiert."
Ertappt blicke ich gen Boden auf die Spitzen meiner Schuhe. „Ist mir nicht aufgefallen", nuschle ich.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass hier eine gewisse Schwärmerei erkennbar ist."
Eingeschnappt funkle ich ihn an. „Wie kann man bitte für diesen Mann schwärmen oder auch nur die gleiche Luft atmen wollen wie er, Jacob? Diego Ramirez ist ein selbstverliebter, egozentrischer Macho. Er sieht Frauen nur als Spielzeug und sein Interesse beschränkt sich lediglich auf sein bescheidenes Weltbild und darauf, wie schnell er das nächste Weibchen besteigen kann. Im gesamten Kosmos gibt es kein Paralleluniversum, in dem ich irgendetwas mit ihm zu tun haben möchte", keife ich ihn regelrecht an und merke, wie mein Gesicht vor lauter Wut immer wärmer wird.
Jake steht währenddessen seelenruhig mit verschränkten Armen vor mir und presst die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen. Immer öfter huschen seine Augen an mir vorbei und ich bekomme ein ganz schlechtes Gefühl. Mein Herzschlag beschleunigt sich.
„Er steht hinter mir, nicht wahr?", frage ich leise und spüre, wie meine Handflächen feucht werden und mein Nacken anfängt zu kribbeln, als Jake nickt. Oh mein Gott, geht's eigentlich noch peinlicher, Lynch?
Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und sehe sofort Diego, der auf der Rückenlehne eines Sessels Platz genommen hat und mich mit hochgezogener Augenbraue mustert. Sein Mundwinkel zuckt und ich weiß, dass meine Blamage in diesem Moment kaum größer sein könnte.
„Wow." Er zieht dieses Wort unnötig in die Länge und ich muss es mir sichtlich verkneifen, die Augen zu verdrehen. „Wenn ich dich auf einer Party flachgelegt und am nächsten Morgen mit Taxigeld und ohne Frühstück aus der Wohnung geworfen hätte, könnte ich deine Meinung ja irgendwo nachvollziehen. Aber sofern meine alkoholvernebelte Erinnerung mich nicht im Stich lässt, hatten wir beide noch nicht das Vergnügen", sagt er mit schief gelegtem Kopf.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder mich übergeben soll. „Und das wird auch nie passieren", erwidere ich und verschränke mit heißen Ohren die Arme. Unfassbar, dass ich gerade so ein Gespräch führe.
„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben", säuselt Diego und überkreuzt seine Knöchel. Diesmal kann ich es tatsächlich nicht lassen, mit den Augen zu rollen, und schüttle den Kopf.
„Also, ich höre mir das nicht länger an. Gehen wir, Jake." Seufzend wende ich mich meiner Begleitung zu, die bis über beide Ohren grinst und offenbar auf eine Fortsetzung wartet.
„Anastasia?", ruft Diego mir hinterher, als ich gerade versuche, Jake aus dem Raum zu bugsieren.
Genervt drehe ich mich um.
„Wir sehen uns", verabschiedet er sich mit einem Zwinkern, während ich krampfhaft verdränge, wie sehr es mir gefällt, wie er meinen Namen ausspricht.
Ohne viel Gegenwehr lässt sich Jake in den Flur schieben und fährt sich schmunzelnd durch die Dreads.
„Du hättest mich ruhig mal warnen können, dass er direkt hinter mir steht", fauche ich ihn an.
„Wollte ich ja", erwidert er und hebt abwehrend die Arme. „Aber du warst nicht zu bremsen."
„Ganz toll", grummle ich und bin im selben Moment froh, Schuhe mit höheren Absätzen zu tragen, weil ich sonst aussehen würde wie ein sich lächerlich machender Gartenzwerg. „Nun bin ich höchstwahrscheinlich zur persönlichen Zielscheibe unseres Starquarterbacks geworden."
„Ach was, dank seines besten Freunds Jack Daniels hat er diese Aktion bis morgen doch schon wieder vergessen", antwortet Jake und winkt ab.
Ein leichter Schmerz zieht sich durch meine Schläfen und ich beschließe, das Experiment der feucht-fröhlichen Studentenversammlung für heute zu beenden. „Jake, sei mir nicht böse, aber das war genug Drama für heute. Ich wünsche dir noch viel Spaß, aber ich befriedige jetzt die Bedürfnisse meiner inneren 80-Jährigen und gehe nach Hause. Wir sehen uns nächste Woche", verabschiede ich mich und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.
Er bietet mir noch an, mich nach Hause zu begleiten, aber mein Wohnhaus ist nur einen Katzensprung von hier entfernt. Somit schüttle ich nur dankend den Kopf, bevor ich mich auf den Weg mache.
-
Am Montagmorgen stellt sich ein seltsames Gefühl in meiner Magengegend ein und sorgt dafür, dass ich beim Frühstück bis auf eine trockene Scheibe Toast nichts herunterbekomme. Ich schlüpfe in eine schwarze Stoffhose sowie eine hochgeschlossene Bluse und binde mir die Haare zu einem hohen Zopf, bevor ich meine Wohnung in Richtung Uni verlasse.
Das Grummeln in meinem Bauch bleibt, bis ich im Hörsaal sitze und auf den Beginn meiner Vorlesung Grundlagen der Physiologie warte, während ich Tablet, Block und Stifte aus meiner Tasche krame und bereitlege. Der Saal füllt sich allmählich, lässt aber noch genügend Platz für rund ein Dutzend Personen.
Ich schreibe das heutige Datum in die Ecke meines Blattes und nehme nur am Rande wahr, wie links neben mir der Stuhl nach hinten geschoben wird und ein frischer Geruch von Duschgel mir in die Nase steigt.
„Hallo Anastasia." Diese Stimme – ich verfluche die aufkommende Gänsehaut.
Mein Kopf fliegt zur Seite und ich blicke direkt in das süffisant grinsende Gesicht von Diego.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Ramirez. Du hast dir nicht wirklich einen Platz in diesem Kurs erschlichen, nur um mir auf die Nerven zu gehen?", zische ich, als im selben Moment die Professorin auftaucht und um Ruhe bittet.
„Da ich ein Sportstipendium habe, steht Physiologie in der engeren Auswahl meiner Wahlkurse. Und meine Studienberaterin meinte, ich solle meinen Horizont in diese Richtung erweitern", erklärt er, als wäre es die einzig logische Erklärung.
„Und das fällt ihr komischerweise erst zwei Monate nach Semesterbeginn ein?", erwidere ich, während ich mich frage, ob mein Magen mich vorhin vor genau dieser Situation hat warnen wollen.
Professor Kubica schreibt währenddessen irgendwas auf das Whiteboard, aber ich erhasche nur einen Blick auf das heutige Oberthema, weil Diego sich ziemlich weit in meine Richtung lehnt und somit meine ganze Aufmerksamkeit einnimmt.
„Ich nehme meinen Horizont sehr ernst, Anastasia", raunt er und diesmal spüre ich die Gänsehaut bis in die Zehen. „Und zu glauben, ich würde nur in diesen Kurs gehen, um dich mit meiner Anwesenheit zu erfreuen, ist ziemlich - wie war das noch gleich - egozentrisch und selbstverliebt?"
Mittlerweile beiße ich so fest die Zähne aufeinander, dass mein Kiefer schmerzt, als die laute Stimme von Professor Kubica mich zusammenzucken lässt.
„Miss Lynch, da Sie garantiert nicht nur den Erzählungen von Mr. Ramirez, sondern bestimmt auch meinem Unterricht so angestrengt lauschen, können Sie mir doch sicher erklären, was es mit dem inneren Milieu auf sich hat, wenn wir beim Thema Homöostase sind?" Sie tippt geradezu aggressiv mit ihrem geschlossenen Marker auf die Überschrift des Whiteboards und ich bin mehr als dankbar, mir jetzt nicht die Blöße zu geben, da ich über diesen Begriff erst gestern ausführlich in der Bibliothek gelesen habe.
„Das innere Milieu beschreibt die Umgebungsbedingungen der Zellen im Körperinnern, welche für die Funktion der Zellen entscheidend sind. So besagt das Gesetz der Homöostase, dass der Organismus zur Erhaltung eines dynamischen Gleichgewichts zwischen seinem Leistungsvermögen und den Anforderungen der Umwelt tendiert, während wir als Menschen allerdings durch das Bedürfnis kontinuierlicher Weiterentwicklung diesen Zustand immer wieder willentlich durchbrechen."
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Diego mich mit leicht geöffnetem Mund anstarrt, während Professor Kubica zufrieden nickt.
„Diese Antwort dürfen sich die anderen gerne notieren", sagt sie schließlich und beginnt damit, das komplexe Thema der Homöostase zu vertiefen.
„Ich weiß bereits, bei wem ich Nachhilfestunden nehmen werde, um den Stoff der vorherigen Lesungen aufzuholen", murmelt mein Sitznachbar und ich schnaube leise.
„Vergiss es, Ramirez. Irgendwer in diesem Saal ist sicherlich Mitglied in dem eigens für dich gegründeten Fanclub und würde dir mit Vergnügen Nachhilfe geben", flüstere ich, ohne groß die Lippen zu bewegen, um nicht noch mehr böse Blicke von der Lady vor dem Whiteboard zu ernten, und schreibe fleißig mit.
„Ich will aber die Beste."
Mit einem tiefen Atemzug verkneife ich mir einen dummen Spruch und versuche, Diegos Anwesenheit für den Rest der Stunde zu ignorieren. Dummerweise löchert er mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Fragen und mein innerer Streber kommt nicht umhin, ab und an zu reagieren, auch wenn mir jedes Mal fast schlecht wird, wenn er mir daraufhin vorschwärmt, was für eine tolle Nachhilfelehrerin ich doch wäre.
Als Professor Kubica ihren Monolog über Regelsysteme beendet, danke ich den Göttern und packe in Lichtgeschwindigkeit meine Sachen zusammen.
„Wie wäre es mit einer kleinen Lernsession am Mittwoch um 18 Uhr?", ruft Diego mir hinterher, als ich gerade den Raum verlassen will, sodass ich mich seufzend umdrehe und nebenbei den Sitz meiner Umhängetasche korrigiere.
„Diego, zu dieser Fantasie, dass ich dir mit einem Bleistiftrock und tief sitzender Brille die Grundlagen der Physiologie erkläre: Verabschiede dich davon. Das wird nie, niemals passieren." Mit einem gequälten Lächeln zwinkere ich ihm zu und renne regelrecht aus dem Vorlesungssaal.
Ganz toll, Jacob, offensichtlich hat Diego die Aktion am Samstag nicht vergessen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro