Menschlich
Am nächsten Morgen lief ich einfach wieder zum Fluss und setzte mich ans andere Ufer. Wir hatten zwar eine feste Uhrzeit abgemacht, aber Jay hatte natürlich keine Ahnung dass ich gar keine Uhr zur Verfügung hatte. Im Auto, das ich derzeit zu meinem Wohnsitz umfunktioniert hatte, war zwar eine am Amaturenbrett, jedoch war sie stehengeblieben und einer der Zeiger fehlte.
Mir wurde in den nächsten Stunden bewusst, dass ich wirklich nicht gut darin war, Uhrzeiten einzuschätzen. Ich lehnte gedankenversunken an einem Baum, der nah am Fluss stand. Als ich ein Rascheln hörte, schaute ich auf.
Ein Reh stand nur wenige Meter von mir entfernt und sah mich mit seinen großen, braunen Augen an.
Ich musste lächeln. Seltsamerweise konnte ich schon immer gut mit Tieren umgehen.
Dann streckte ich die Hand aus. Es machte Anstalten, noch näher zu kommen, doch plötzlich drehte es sich um und gallopierte zurück in den Wald. Ich drehte mich um, hinter mir stand Jay und sah mich verwundert an. "Hey Lili! Wie hast du das gemacht? Sind Rehe nicht total scheu?"
Lili... so hatte Vic mich immer genannt. Es war lange her, seit ich diesen Spitznamen das letzte Mal gehört hatte. Außer von Zephyr oder Cole, aber das zählte ich natürlich nicht mit.
"Ich habe schon immer viel Zeit im Wald verbracht, vielleicht merken sie das!", lachte ich und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Er setzte sich neben mich und nahm seine Tasche auf den Schoß.
"Kommst du direkt aus der Schule?", fragte ich.
"Lilian... es ist Samstag."
Mir stockte der Atem. "A-achja, ich habe da heute morgen gar nicht drauf geachtet!", kicherte ich nervös. Er sah nicht wirklich überzeugt aus. "Wie lange gehst du schon nicht mehr zur Schule?"
Verdammt.
"Ach... ist schon ein bisschen länger, aber ich habe seitdem überhaupt kein Zeitgefühl mehr."
"Was möchtest du denn später beruflich machen?"
Ich entspannte mich wieder ein wenig. "Ich würde gerne etwas mit Tieren machen. Oder ärmeren Menschen helfen. Was ist in deiner Tasche?"
Ich hasste es, über mich zu reden. Ich baute mit der Zeit ein riesiges Netz aus Lügen auf, das ich bereits durch den kleinsten Fehler einreißen konnte.
"Ich komme gerade von der Nachhilfe. Da sind bloß ein paar Schulsachen und Essen drin."
Er hielt mir eine Papiertüte vor die Nase. "Möchtest du? Meine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn sie sieht dass ich mein Frühstück nicht gegessen habe."
Ich nickte und nahm sie entgegen.
"Hast du Geschwister?"
Was sollte ich da antworten?
"Ich hatte eine große Schwester, aber sie ist gestorben. Und du?"
Um nicht weiter darüber reden zu müssen, nahm ich einen großen Bissen von dem belegten Brötchen.
"Das tut mir leid. Nein, ich bin Einzelkind.", antwortete er und fuhr sich durch das blonde Haar.
Lange sagten wir nichts. Das warme Sonnenlicht fiel zwischen den Zweigen hindurch. Der Sommer hatte das Land nun vollkommen erreicht und nicht einmal in der Nacht fror ich in meiner dünnen Kleidung.
"Wo in der Stadt wohnst du eigentlich?"
Machte er das mit Absicht?
"Oh ich... lebe etwas außerhalb der Stadt!" Wieder lachte ich angespannt.
Er nickte. "Hast du Lust, nächsten Mittwoch mit mir zum Jahrmarkt zu gehen?" "E-eigentlich schon, aber ich habe überhaupt kein Geld und-" "Macht nichts, ich lad dich ein!"
Ich spürte wie ich rot anlief. "Das kann ich doch nicht..."
"Mach dir mal nicht immer so viele Sorgen. Du siehst irgendwie immer viel zu unglücklich aus."
Wahrscheinlich hatte er Recht. Meine Lage war bedrückend, das sah man mir an. Es war vielleicht gut, mich ein wenig abzulenken.
"Danke...", flüsterte ich und wich seinem Blick aus. "Weißt du, das liegt nicht an dir... im Gegenteil..."
Jay lächelte leicht. "Ja, ich weiß. Wenn du drüber reden möchtest-" "Möchte ich nicht.", antwortete ich ungewöhnlich deutlich.
Er hob abwehrend die Hände. "War nur ein Angebot!"
Ich fühlte mich so wohl in seiner Nähe. Er strahlte eine Wärme aus, die es mir unmöglich machte, ihn nicht zu mögen. Obwohl ich mich gegen solche Gefühle wehren musste, wie Zephyr es sagte.
Ich konnte es mir nicht leisten, jemandem zu vertrauen.
Wieso musste mein Leben so kompliziert sein? Wieso konnte ich nicht einfach... menschlich sein?
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