Fremde
Ich hatte schon ewig nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen.
Die Schmerzen in meinem Kopf waren verschwunden und ich fühlte mich für meine Verhältnisse wirklich gut. Die Sonne war schon vor einigen Stunden aufgegangen und warf warmes Licht in den kleinen Raum. Ich setzte mich im Bett auf und streckte mich. Mein Blick fiel auf ein kleines Bündel, das neben der Tür lag. Verschlafen schob ich mich aus dem Bett, tapste über den Holzboden und hob es auf. Ein weißes, sauberes Oberteil, das mir etwas zu groß war und ein dunkler Rock, der mir bis zu den Knien reichte. Es war anscheinend für mich, also zögerte ich nicht, es anzuziehen. Am Vorabend hatte ich mich zwar waschen und kämmen können, aber bis jetzt hatte ich noch keine Wechselkleidung gehabt. Zephyr schlief immer noch am Fußende meines Bettes. Ich beschloss, sie schlafen zu lassen, schließlich wollte ich mir ihre sinnlosen Sprüche auch nicht den ganzen Tag anhören.
Die Wirtin arbeitete unten schon. Sie fegte in der Mitte des Raumes einen Haufen aus Staub, Scherben und Essensresten zusammen. "Ahh, da bist du ja. Ist gestern Abend ziemlich eskaliert hier. Weiß nich', wie du bei dem Lärm schlafen konntest."
Sie schaute zur Wand, auf der ein dunkler Weinfleck entstanden war und kratzte sich am Kopf.
"Mach mal weiter hier. Du hast ja noch 'n bisschen was abzuarbeiten."
Mit diesen Worten streckte sie mir den Besen entgegen und ging zur Theke hinüber.
"Bist wohl nicht so redselig heute, was? Wie heißt du denn eigentlich?"
"Lilian."
"Und weiter?"
Ich überlegte.
Sie schaute mich mit einem mitleidigen Blick an. "Vergiss es. Ich bin Lorraine. Hast du Hunger?"
Ohne meine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verschwand in der Küche.
Nach wenigen Minuten hatte ich den Dreck, der den Boden bedeckte, zusammengefegt und setzte mich auf einen der Barhocker an der Theke.
Ich griff nach dem Ende meiner Kette und drehte es zwischen den Fingern herum.
Es war schwer zu realisieren, dass ich jetzt "frei" war. Doch im Prinzip konnte ich zum ersten Mal seit langem wieder selbst entscheiden, wohin ich gehen wollte.
Lorraine öffnete die Küchentür. In den Händen hielt sie einen Teller mit Ofenkartoffeln und Speck, den sie vor mir abstellte. Ich traute meinen Augen kaum. Es war mir unangenehm, mich von Fremden durchfüttern zu lassen, doch ich war viel zu hungrig um das Essen abzulehnen.
Sie lächelte, als sie sah, dass ich mich zurückhalten musste, um den Teller nicht in einer Minute zu leeren. Dann setzte sie sich neben mich und begann, zu sprechen:
"Ich möchte dir keine falschen Hoffnungen machen, also sag' ich es dir jetzt schon. Ich kann dich nicht hier behalten. Ich hab schon eine Angestellte, und zu zweit können wir den Betrieb hier gut genug im Schuss halten. Mir fehlt aber das Geld, um dich dauerhaft zu ernähren. Du kannst hier noch einmal übernachten, aber danach musst du es woanders versuchen."
Ich nickte nur, es war mir eigentlich schon die ganze Zeit klar gewesen.
"Versuch es östlich von hier. Diese Stadt ist kein guter Ort für Nekos."
Sie wusste es? Ich spürte, wie ich ein bisschen rot wurde und griff mir ins Haar. Das weiße Band war zu meiner Verwunderung noch am richtigen Platz und verdeckte meine Ohren.
"Du bist überrascht? Man sieht es an deinen Augen. Man sieht es an deinem Halsband. Und wenn man sich deinen Körper anschaut, wird auch sofort klar, dass das keiner mit einem normalen Menschen anstellen würde. Ich bin nicht blind, Kleine."
Lorraine lachte leise und blickte dann gedankenverloren aus dem Fenster.
Ich schwieg einen Moment, bis ich mich schließlich traute, meine Frage zu stellen.
"Kennst du noch andere Nekos?"
"Nicht dass ich wüsste. Suchst du denn jemanden?"
Wieder nickte ich. Ich spürte Enttäuschung in mir aufsteigen, obwohl es natürlich fast unmöglich war, dass sie Vic kannte. Wenn er überhaupt noch lebte. Eigentlich war auch das ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem würde er nicht nach mir suchen. Wenn er von dem Angriff auf unser Versteck gehört hatte, würde er sicher auch davon ausgehen, dass ich getötet wurde.
Es war so seltsam.
Kaum jemand wusste, dass ich überhaupt existierte.
Victor, falls er noch lebte.
Die Männer vom Sklavenmarkt.
Lorraine, aber die kannte ich ja kaum.
Wem würde es auffallen, wenn ich plötzlich fehlen würde?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro