35.
H.
Gestern Abend hatte ich eine Menge Spaß gehabt, mit Changkyun, Minhyuk und Kihyun. Wenn es ums Bowlen ging, waren unsere beiden Möchtegernprofis noch genauso ernst wie damals. Verlieren konnten sie immer noch nicht und an diesem Abend sollte der schlechte Verlierer ausnahmsweise mal Kihyun sein. Minhyuk freute sich ein Bein ab. Er rieb der beleidigten Leberwurst schadenfroh seinen Sieg unter die Nase. Es war das dritte Mal in seinem Leben, dass er Kihyun besiegt hatte, deshalb wollte er dieses Erfolgserlebnis auch unbedingt in vollsten Zügen auskosten. Das heißt; er beauftragte mich als Fotograf den Moment festzuhalten. Ich musste von ihm, von ihm und dem Punktestand und von ihm, dem Punktestand und Kihyun ein Foto schießen. Und zugegeben, Kihyuns Schnute war es wirklich wert festgehalten zu werden. Zufrieden sah er sich das letzte Foto an, das ich geschossen hatte. "Das hänge ich mir ins Wohnzimmer. Gute Arbeit Hyungwon." Er klopfte mir grinsend auf meine Schulter.
Als wir alle Hunger bekamen, lud er uns drei noch zum Essen ein, weil man dieses Ereignis ja feiern müsste, erklärte er. Die ganze Zeit über sang er fröhlich vor sich hin; "Ich bin besser als Kihyun!" Er konnte von Glück reden, dass Kihyun zu diesem Zeitpunkt keine Gurke in seiner Nähe hatte. Changkyun und ich amüsierten uns prächtig über sie.
Ich war wirklich froh darüber mich mit ihnen getroffen zu haben, die drei Spastis hatte ich echt vermisst. Zwar hatte ich geglaubt, dass ich mittlerweile zufrieden mit meinem "neuen" Leben war, doch dieser Abend hatte mich eines besseren belehrt. Natürlich wusste ich, dass Milano sich nicht ehrlich für mich interessierte. Trotzdem hatte ich mir stets eingebildet mit ihm zusammen Spaß zu haben. Rückblickend an unseren Kurztrip nach Tokyo fiel mir nun auf, dass ich derjenige war, der sich für die unzähligen Kunstgalerien und Museen begeistern konnte. Milano dagegen war eigentlich nur geistesabwesend hinter mir her getrottet. Ich hatte es nur nicht bemerkt, weil ich zu sehr in meiner eigenen kleinen Welt versunken war.
Dabei ist es doch so viel schöner, wenn man seine Freude mit anderen teilen kann... wie damals, diese eine unvergessliche Woche in Mailand mit Wonho.
Wonho, das alles schien soweit zurück in der Vergangenheit und doch war er jetzt auf einmal wieder ganz präsent. Obwohl er nicht einmal anwesend war, hatte er bloß durch die Idee, dass ich ihn vielleicht gefunden haben könnte, mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ständig musste ich an ihn und die alten Zeiten denken. Ich verspürte das dringende Gefühl, ihn unbedingt sehen zu müssen und alles, was vorgefallen war, mit ihm zu klären. Doch falls hinter Shine tatsächlich Wonho stecken sollte, hatte ich keinen blassen Schimmer wie ich an diesen anonymen Designer rankommen sollte...
Wenigstens war eins wieder beim alten; ich hatte meine Freunde wieder. Wie ich das mit der Anonymität von Wonho lösen sollte, würde ich auch noch irgendwie bewältigt bekommen... hoffte ich jedenfalls. Das einzige Problem, welches ich noch hatte, rief mich gerade an.
"Hey Babe, na wie geht's dir so?", fragte Milano. Er klang so überfreundlich, dass es schon wieder gestellt wirkte und da wusste ich, dass etwas nicht stimmen konnte. Ich seufzte, nicht in der Stimmung für sein Theater. "Was ist los?"
Sein freundlicher Tonfall änderte sich sofort in einen vorwurfsvollen. "Wir hatten gestern eine Verabredung und du hast dich nicht gemeldet! Wo warst du? Sag schon, hast du mich betrogen? Wer ist es?"
Ich musste mir den Hörer vom Ohr halten, weil er viel zu laut keifte. "Du hast dich doch auch nicht gemeldet...", verteidigte ich mich.
Milano wollte mich zwar gerade als Betrüger abstempeln, dabei hatte ich schon länger das Gefühl, dass er vielleicht nicht so treu ist, wie er tut. Schließlich hörte ich manchmal Wochen nichts von ihm. Ab und zu verhielt er sich merkwürdig, so als wollte er etwas verheimlichen. Dieser Verdacht wollte mich einfach nicht mehr loslassen. Und obwohl ich keine Gefühle für Milano hatte, verletzte mich diese Vermutung mehr als sie sollte, auf eine merkwürdige Art und Weise.
"Ich hatte... viel zutun."
"Was denn?"
"Etwas wichtiges eben."
"Aha." Wieder seufzte ich. "Hör zu, ich muss jetzt auflegen. Ich hab auf der Arbeit noch viel zu erledigen." Und so würgte ich das Gespräch ab.
Milanos Aufmerksamkeit hatte mich stets gefreut, doch seit ich glaubte Wonho gefunden zu haben, ging er mir nur noch auf die Nerven. Aber warum wunderte ich mich auch darüber? Von Anfang an war er für mich nichts weiter als der Ersatz für Wonho...
Mein Telefon klingelte erneut. Diesmal war es jedoch kein nervtötender Milano, sondern mein Assistent Herr Min.
"Herr Chae." Er klang aufgeregt. "Shine will mit Ihnen reden. Soll ich sie durchstellen?"
Kurz blieb ich still, wiederholte in meinem Kopf noch einmal seine Worte, nur um sicher zustellen, dass ich ihn richtig verstanden hatte. Meine Realisation nahm mir den Atem. Nun war er nicht mehr der einzige aufgeregte. "Natürlich! Worauf warten Sie?"
Würde ich nun etwa mit Wonho höchstpersönlich reden?
Mein Adrenalin stieg.
Was sollte ich ihm sagen?! Oh man. Damit, dass dieser Moment so früh eintreten könnte, hatte ich nicht gerechnet.
Völlig unvorbereitet konnte ich kaum meine chaotischen Gedanken sortieren. Mehr Zeit zum überlegen blieb mir sowieso nicht. Eine weibliche Stimme meldete sich bereits am anderen Ende der Leitung und holte mich zurück ins hier und jetzt. "Herr Chae? Sun mein Name, ich bin die Managerin von Shine."
Unbewusst atmete ich die Luft, die ich vor Aufregung angehalten hatte, langsam aus. Enttäuscht nicht Wonhos Stimme zu hören war ich schon, das konnte ich nicht leugnen. Aber überrascht darüber war ich nicht.
Schnell hatte ich mich wieder gesammelt und antwortete ihr professionell; "Guten Tag, wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Shine plant eine Modenshow hier in Seoul und wir würden Sie dafür gerne als Model buchen."
"Gerne! Ich bin dabei.", kam es aus mir herausgeschossen, wie aus der Pistole. Großartig über das Angebot nachzudenken brauchte ich nicht. Sofort hatte ich meine Schlüsse gezogen, in Hinblick darauf, wie mir dieser Job Vorteile verschaffen könnte. Das Fazit - ganz einfach; wenn ich für Shine laufe, könnte ich vielleicht im Backstagebereich den anonymen Designer aka Wonho antreffen.
Frau Sun und ich redeten noch kurz über ein paar Einzelheiten, bis wir schließlich unser Gespräch beendeten.
In meinem Kopf machte der, von mir gerade spontan geschmiedete, Plan mehr als nur Sinn. Überzeugt von meiner Genialität lehnte ich mich zufrieden in meinem Schreibtischstuhl zurück. Das ging ja leichter als gedacht... Plötzlich spannte ich mich an. - Eigentlich viel zu einfach.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto dümmer kam ich mir vor. Ich schlug mir mit meiner flachen Hand gegen die Stirn. Nicht ich war das Genie, sondern Wonho.
Er hatte mich zu sich bestellt. Es war eindeutig... Nun ja, eben falls es sich tatsächlich um ihn handeln sollte - Warum stellte ich das überhaupt noch in Frage? Er musste es sein. Alles passte perfekt zusammen. Geschickt musste er alles genauso eingefädelt haben.
"Wenn ich mein Glück gefunden habe, werde ich zu dir zurückkehren.
Ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst, dass du auf mich warten wirst und wir dann zusammen nochmal von vorne anfangen können."
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich an die Zeilen seines Abschiedsbrief dachte. Das war der Moment. Dieser eine Moment, von dem ich Nächte lang geträumt und mir Tage lang vorgestellt hatte. Wie lange hatte ich nur auf genau diesen einen Moment gewartet? Zu lange, definitiv. So lange, dass ich an seinen Worten tatsächlich gezweifelt hatte, dass ich mir selbst vorgespielt habe mit meinem "neuen" Leben glücklich zu sein...
Endlich schien ich Licht am anderen Ende des düsteren Tunnels zu sehen. Jetzt musste ich es nur noch erreichen; all meine letzten Kräfte sammeln und lossprinten.
Ungläubig schweifte mein Blick durch das Fenster. Vor mir die Skyline Seouls und trotzdem starrte ich gedankenversunken ins Nichts.
Mit Leichtigkeit hatte ich in meiner Vorstellung mein Ziel längst erreicht. Von Hindernissen keine Spur. Ich konnte mich nur darauf konzentrieren wie Wonho endlich sein Glück gefunden hatte und wir unser wohlverdientes Happy End bekommen würden. Alles andere hatte ich komplett ausgeblendet.
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