Kapitel 3
Meine Schreie wurden durch die Hand auf meinem Mund gedämpft, weshalb ich in noch mehr Panik geriet. Ich ließ mein Handy fallen, versuchte mich unter dem festen Griff zu winden, wollte dem Mann hinter mir sogar in die Hand beißen, doch leider mit eher weniger Erfolg, in der Hoffnung freizukommen. Verdammt, ich hätte doch nicht den Dachboden betreten dürfen. Doch diesmal griffen mich keine Ratten, sondern ein echter Mensch an. Ich zuckte zusammen, als ich auf einmal einen warmen Atem an meinem Ohr spürte.
„Pschht, wir wollen doch nicht, dass dein Dad aufwacht." Diese Stimme .... Ich kannte sie doch! Sofort entspannten sich meine Glieder und ich schlug die Hand, die mir auf den Mund gelegt wurde, weg. Sofort wurde ich losgelassen, weshalb ich genug Freiraum hatte, um mich ruckartig umzudrehen. Und genau da stand sie. Die Person, von der ich bereits vermutet hatte, dass sie es war. Harry zuckte nicht einmal zusammen, als ich ihm einen heftigen Stoß auf die Brust gab. Stattdessen grinste er mich nur amüsiert und mit sich selbst zufrieden an.
„Verdammt, was soll das, Harry? Ich hatte Todesangst!" Nun musste er noch heftiger Lachen, als wäre das alles bloß ein Witz gewesen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich ihm sofort an die Gurgel gehen. Doch ich war bloß ein Spatzengewicht im Gegensatz zu ihm, weshalb ich innerhalb von zwei Sekunden gegen ihn verloren hätte. Als er nicht die Anstalten machte, auch nur für eine Sekunde ernst zu werden, drehte ich mich kopfschüttelnd um, um zu meinem Zimmer zu gehen. Doch schnell packte Harry mein Handgelenk und zog mich wieder zu ihm.
Nun spiegelte sich bitterer Ernst in seiner Miene wider, doch ich konnte ihm nicht wirklich ins Gesicht sehen. Vielleicht war es für ihn ein Spaß, doch ich hatte in diesem Moment so viel Angst wie schon lange nicht mehr. Nachdem er mich ein paar Sekunden lang betrachtet hatte, schob er mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Normalerweise liebte ich diese Geste, vor allem da meine lange Mähne sowieso schon schwer zu bändigen war, doch nicht jetzt. Jetzt würde ich sie am liebsten wegschlagen, so wütend wie ich war. Danach legte er seine Hand an mein Kinn und zwang mich damit, ihn anzusehen.
„Hey, es tut mir leid, okay? Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie es dir dabei gehen könnte." Nun konnte ich tiefe Besorgnis in seinen Augen erkennen, welche all die Wut aus mir beseitigte. Ich seufzte laut, schüttelte den Kopf und sah wieder auf meine Monsterschuhe, die an den Sohlen nun schon ganz staubig waren.
„Schon okay." Zwar war es kein Spaß für mich gewesen, doch Harry hatte sich entschuldigt und ich konnte in seinen Augen sehen, wie ernst er es meinte. Außerdem wäre es von mir auch ganz schön kindisch, wenn ich weiterhin herumschmollte. Ich war achtzehn und keine neun, deshalb sollte ich mich auch danach benehmen.
Mein Blick wanderte wieder zu ihm hoch und ich konnte ihn, trotz der Dunkelheit, die uns umgab, grinsen sehen. Harry beugte sich zu mir runter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich atmete tief ein und schloss die Augen, um unsere Zweisamkeit zu genießen.
Auch wenn es ich mir selbst oft nicht eingestand, gab es nicht viele Momente, in denen er so ernst und verständnisvoll war, wie in diesem. Meistens lachte er bloß über meine Sorgen und Ängste und erklärte mir, wie lächerlich es doch war, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Harry war nicht immer so gewesen. Früher war er der Typ Mann, den sich jede Frau auf Erden wünschte. Er war liebevoll, aufrichtig und einfach so ... Harry. Ich konnte es nicht beschreiben, doch je älter ich wurde, desto mehr empfand ich so für ihn und er anscheinend auch für mich.
Wir kamen zusammen als wir fünfzehn waren. Er hatte mich damals zum Homecoming-Ball unserer Schule eingeladen und desto länger die Nacht wurde, desto mehr spürte ich das Prickeln, wenn er mich berührte oder auch nur ansah. Irgendwann hatten wir uns geküsst und da es unser beider erster Kuss war, verband uns beide diese unausgesprochene Bestätigung, dass wir nun wohl ein Paar waren. Niemand von uns beiden hatte je daran gezweifelt, es war einfach aus einer jahrelangen Freundschaft etwas Festes zwischen uns geworden.
Als ich daran zurückdachte, musste ich lächeln. Damals war alles noch so einfach gewesen. Doch als Harry vergangenen Monat seine kleine Schwester in Folgen eines schweren Gehirntumors verloren hatte, war nichts mehr dasselbe. Er war nicht mehr derselbe. Zwar war er noch immer liebevoll und mehr als ich mir erträumen konnte, doch es hatte sich etwas zwischen uns geändert und ich wusste, dass wir beide es spürten.
Ich ballte meine Hand zu einer Faust und bohrte dabei meine Fingernägel so fest in meine Haut, sodass ich mich selbst in die Gegenwart zurückgeholt hatte. Die reinen Gedanken daran waren bloß nervenaufreibend und ermüdend. Durch meine optimistische Einstellung war ich mir bereits sicher, dass das zwischen uns wieder gut werden würde. Es musste wieder gut werden.
„Warum bist du überhaupt um diese Zeit wach?" Harry sah mich interessiert an und holte mich damit wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Mein Mund wurde staubtrocken und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er durfte nicht wissen, dass ich es nicht mal nach dieser langen Beziehung schaffte, ein Auge in seiner Nähe zuzumachen und mich vollkommen zu entspannen.
Ich musste mich räuspern und blinzelte ein paar Mal. „Ich... äh... Ich hatte einen Albtraum und konnte nicht mehr einschlafen." Harry nickte. Er ging nicht näher darauf ein, da er mir meine Unsicherheit genau anmerkte. Hoffentlich, weil er dachte, dass mich dieser Albtraum besonders zugeführt hatte. Stattdessen fragte er weiter: „Und du bist nach einem Albtraum mitten in der Nacht einfach so auf den dunklen Dachboden gegangen, den du schon seit Jahren nicht mehr betreten hattest, mit nichts anderem als einer Taschenlampe? Wieso?" Sein Blick fixierte meine Augen mit einer so extremen Intensität, sodass ich es kein einziges Mal wagte, wegzuschauen.
Ich seufzte leise. Harry würde nicht aufhören, zu fragen, bis er sich ganz sicher war, dass ich nun die Wahrheit sagte. Aber was war schon dabei, wenn ich ihm von meinen Sorgen erzählte?
„Ich ... Heute Mittag hatte ich eine Silhouette einer Person am Fenster gesehen. Und das hat mir bis jetzt keine Ruhe gelassen und..." Ich wurde von seinem lauten Auflachen unterbrochen, weshalb ich schnell verstummte. Harry schüttelte den Kopf und hob seine Augenbrauen.
„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder? Wir hatten schon so oft darüber gesprochen, dass du dir das alles immer nur einbildest. Aber du kannst es nicht lassen, aus deinen Ängsten einen Hehl zu machen, oder? So geht es schon seit Jahren, Taylor. Du hast vor unzähligen Sachen Panik und treibst dies immer ins Lächerliche. Du siehst Ratten auf dem Dachboden? Du betrittst ihn jahrelang kein einziges Mal. Du siehst etwas hier oben, von dem du glaubst, dass es eine Person ist? Dann musst du natürlich um vier Uhr morgens aufstehen und nachsehen, ob du dir das nicht doch einbildest. Und von deiner Angst vor Wasser möchte ich gar nicht anfangen ..."
Harry schüttelte den Kopf und fuhr sich durch die Haare, ohne mich nur ein einziges Mal anzusehen. Ich presste die Lippen aufeinander, hätte ihn am liebsten angeschrien, aber ich schwieg einfach. Er war gerade noch so verständnisvoll gewesen, weswegen ich geglaubt hatte, dass er mich nun vielleicht verstehen würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Natürlich ...
Ich drehte mich um und ging zur Tür, die aus dem Dachboden führte. Doch diesmal hielt Harry mich nicht auf, im Gegenteil. Er ließ mich gehen, versuchte nicht einmal sich bei mir zu entschuldigen. Ich knallte die Tür hinter mir zu, ohne auch nur ein einziges Mal an meine Eltern zu denken, die ich damit wohl aufgeweckt hatte.
• • •
Harry war ein paar Minuten nach mir in mein Zimmer gekommen, hatte sich seine Sachen geschnappt und war wieder hinter der Tür verschwunden. Etwas später hatte ich sein Auto starten und aus unserer Einfahrt fahren gehört. Bis jetzt hatte ich keine Sekunde mehr geschlafen. Aber ich wollte auch nicht darüber nachdenken, was Harry mir an den Kopf geworfen hatte, weswegen ich das getan hatte, was mich am meisten ablenkte – backen.
Den Mixer hatte ich auf niedrigster Stufe eingeschaltet, damit er in so früher Stunde noch nicht zu viel Lärm machte. Ich hatte mit einem einfachen Apfelkuchen begonnen und mit einem Schokotorte, mit Beerenmousefüllung aufgehört.
Nun war es zehn Uhr am Vormittag und ich rastete meinen Kopf auf den Händen, die auf der Tischplatte lagen, während neben mir meine Kuchen abkühlten. Jetzt traf mich meine Müdigkeit wie ein Schlag aufs Gesicht. Ich konnte nicht aufhören zu gähnen und meine Augenringe waren auch nicht mehr zu übersehen. Wenn ich die Chance hätte, würde ich nun jeden Moment einschlafen können. Doch ein Gedanke hielt mich wach: Hatte Harry recht?
Dramatisierte ich meine Ängste wirklich nur, sodass andere Personen schon genervt davon sein mussten? Und warum hatte er mich nicht früher darauf aufmerksam gemacht? Warum hatte Harry mir nicht weiterhin seine fürsorgliche Seite zeigen können?
„Ich habe gerade mit Brick Hendricks telefoniert. Er möchte noch einmal persönlich die Einzelheiten unseres Deals besprechen. Deine Mutter und ich werden morgen für ein paar Tage nach Seattle fahren. Ist das okay für dich?" Als Dad in die Küche ins Esszimmer kam und mich aus meinen Gedanken holte, riss ich den Kopf hoch und sah ihn zuerst etwas verwirrt an. Stimmt, der Deal mit den Hendricks...
Ich nickte bloß und rieb mir die Müdigkeit aus den Augen. Dad trug ein weißes Hemd, welches er am Kragen aufgeknöpft hatte, und eine schwarze Anzughose. Sein Handy hielt er in der rechten Hand, was darauf hinwies, dass er gerade mit Brick Hendricks telefoniert und wirklich innerhalb von ein paar Sekunden beschlossen haben musste, für ein paar Tage nach Seattle zu reisen.
Er starrte auf die Kuchen neben mir und sah dann mit einem undefinierbaren Blick in mein Gesicht. Natürlich hatte er meinem Streit mit Harry mitbekommen, doch ich war ihm dankbar, dass er ihn nicht ansprach. Er lächelte mich aufmunternd, dennoch distanziert an, ehe er sich ein Glas schnappte und es mit Wasser befüllte
Nun schnappte sich jedoch der Radio meine Aufmerksamkeit, von dem ich total vergessen hatte, ihn eingeschaltet zu haben. Eine Reporterin mit rauchiger Stimme ging die Nachrichten durch. Ein neuer Waldbrand in North Carolina, die gestiegenen Unfälle und das Wetter, welches in der kommenden Woche schon wieder keinen einzigen kühlen Tag bot. Doch eine Neuigkeit regte besonders mein Interesse.
„Der Mord an der Mexikanerin Lucia Pèrez ist nun schon eine Woche her, doch der Täter wurde noch immer nicht gefunden. Nach Zeugenaussagen wird vermutet, dass der Mörder Weston Blackburn nach North Carolina geflüchtet ist, der genaue Ort ist unbekannt. Wir bitten Sie jeden Hinweis der Polizei zu melden. Dem Finder würden nach Angaben der Polizei einhunderttausend Dollar als Belohnung zustehen."
Ich hatte vor ein paar Tagen schon einmal von diesem Fall gehört. Wie konnte man eine Person nur so kaltblütig ermorden und dann nicht einmal den Mumm dazu haben, die Tat zu gestehen. Diese Skrupellosigkeit war einfach zutiefst verstörend. Wie konnte man einem Menschen das Leben nehmen? Wie konnte man einer so jungen Frau nur ihre Zukunft und damit auch all ihre Ziele und Träume nehmen und ihre Familie und Freunde mit einem leeren Platz im Herzen hinterlassen?
Und nun befand sich dieser Weston auch noch in North Carolina. Ich war mir sicher, dass nach dieser Nachricht, die Einwohner wie Verrückte anfangen würden, ihn zu suchen, um an das Geld zu kommen. Und mit einem Blick auf meinem Dad erkannte ich, dass er wohl das Gleiche vorhatte, wie alle anderen auch. Und zwar Weston Blackburn zu finden und an die Polizei auszuliefern.
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