Kapitel 9.2
Als wir uns zum letzten Mal für die Eignungsprüfung im großen Konferenzraum einfanden, lichteten sich die grauen Gedankenwolken und wir wurden beide wieder ein wenig aufgeweckter. Wie auch mich, schien Nik eine prickelnde Aufregung zu durchströmen, denn er lief mit beschwingtem Gang zu einer der vorderen Sitzreihen, ließ sich mit einem enthusiastischen »Hey!« zu einem Jungen nieder und trommelte dann mit seinen Fingern auf dem aufgeklappten Tisch herum. Obwohl mich das unstete Geräusch nervte, ließ ich ihn weitermachen. Ich war selbst nervös und wollte mich mit solch einer Geringfügigkeit einfach nicht rumschlagen.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
Obwohl bereits fast alle anwesend waren, blieben heute viel mehr Plätze frei, denn gestern hatten die ersten ihre Sachen packen und das Militärgelände verlassen müssen. Nun waren es nur noch achtzig von uns, die um einen der Ausbildungsplätze kämpften.
Ich saß stocksteif mit angespannten Schultern da und starrte unentwegt nach vorn zum Rednerpult, welches bisher noch unbesetzt war.
Die Prüfer ließen nicht lange auf sich warten. Sie marschierten in einer Reihe und mit ernsten Mienen in den Saal und stellten sich, wie auch am ersten Tag schon, nach Einheiten geordnet und mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen auf.
Der einheitslose Lieutenant trat wie immer als Erster vor und sagte einige begrüßende Worte, wechselte dann aber sofort zum eigentlichen Thema, was ich sehr begrüßte, denn viel länger würde ich nicht warten können. Ich musste wissen, ob ich mit meiner Familie in Zone Zwei glücklich werden und zusätzlich noch die Stadt beschützen konnte, oder ob ich mich auf ein Leben voller Fische und Wasser gefasst machen musste.
Einer nach dem anderen traten die Vertreter der Einheiten vor und riefen Namen auf, woraufhin sich einer nach dem anderen aus den Reihen der Teilnehmer löste und in seine zugehörige Gruppe trat. Ich sah in glückliche und betretene Gesichter. Letztere hatten sich wohl die Zuteilung zu einer anderen Einheit gewünscht und obwohl ich wusste, dass das hier kein Wunschkonzert war, konnte ich erahnen, wie sie sich fühlten. Ich hätte mit Sicherheit genauso empfunden. Doch immerhin hatten sie die Gewissheit, als Wächter zu arbeiten, während ich noch immer nicht wusste, was die Zukunft für mich bereithielt.
Zwei kleine Trauben von jeweils zwanzig Leuten hatten sich nun hinter den jeweiligen Prüfern versammelt, nun blieb nur noch die Auswahl der Rekruten der Schutzeinheit. Meine Muskeln waren noch gespannter, als zuvor und ich hatte das Gefühl, als könnten sie jeden Moment reißen.
Commander Dax trat vor, legte sein HUD auf das Pult und warf einen bedeutungsschweren Blick in die Runde.
»Es gibt dieses Jahr eine kleine Änderung. Normalerweise werden Sie für die nächsten vier Wochen ausgebildet und danach in fünf Untereinheiten eingeteilt. Für die meisten wird sich daran nichts ändern, doch für zwei von Ihnen bietet sich die Chance nach nur zwei Wochen Ausbildung bereits in meine Einheit aufgenommen zu werden.«
Sofort brach ein allgemeines Raunen unter den übrigen Teilnehmern aus. Bloß für Nik und mich war das keine Neuigkeit und so waren wir die Einzigen, die sich nur einen stummen, wissenden Blick zuwarfen.
»Ruhe, bitte!«, dröhnte die Stimme des Commanders durch den Saal und obwohl er darum gebeten hatte, war es eindeutig ein Befehl. Er schien auf einmal ungeduldig.
Augenblicklich kehrte die Masse zu der absoluten Stille zurück, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Aus diesem Grund werden zweiundzwanzig und nicht zwanzig Teilnehmer rekrutiert. Die ersten zwei Wochen stehen Sie unter ständiger Beobachtung. Wenn Sie also einen der zwei Plätze haben wollen, strengen Sie sich an!«, sprach Dax weiter.
Ich drehte den Kopf nach hinten und sah in kämpferische, entschlossene Gesichter, die vor allem zu Teilnehmern aus Zone Eins und Zwei gehörten.
Als der erste Name aufgerufen wurde und ein Junge unter stürmischem Applaus - er kam aus Zone Zwei - mit der Siegerfaust in der Luft die Treppen hinunterlief, wandte ich mit einem Augenrollen den Blick ab. Er joggte die letzten paar Meter zu den zwei Prüfern hinter dem Commander, die ihn mit einem Handschütteln und einem feierlichen Klopfen auf die Schulter begrüßten. Ziemlich kläglich versuchte ich, meine Abscheu zu unterdrücken.
Ich hatte den Jungen während der zwei letzten Tage mehrmals beobachtet. Er war weder ein guter Langstreckenläufer noch ein herausragender Kämpfer. Auch in den anderen Kategorien hatte er lediglich im Mittelfeld gelegen. Seine Punktzahl konnte kaum über Fünfzehn liegen und doch wurde er rekrutiert, in die Einheit, die am gefährlichsten war. In die Einheit, in der das Leben anderer von dem Können des Einzelnen abhing. Seine Familie hatte bestimmt genug Geld, um ihm den Platz zu verschaffen oder, was noch wahrscheinlicher war, ein oder mehrere Familienmitglieder waren ebenfalls Wächter und zogen an den Fäden ihrer Beziehungen. Sich nun so feiern zu lassen, obwohl man kaum eine ansehnliche Leistung erbrachte hatte, machte mich in gewisser Weise krank.
Mit einem Mal spürte ich so viel Hass gegenüber diesem Jungen, er hieß Hale Arden, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre und ihn angeschrien hätte, er solle lieber zurück in seine schicke Wohnung gehen und sich von Mutter und Vater weiterhin verhätscheln lassen!
»Hey, ist alles okay?«, holte mich eine beruhigende, tiefe Stimme zurück aus meinen aufgebrachten Gedanken.
Als ich Nik ansah und seinem Blick nach unten folgte, merkte ich, dass ich in meiner inneren Rage die Fäuste geballt hatte. Ich spürte, wie verkniffen mein Gesicht gewesen war und wie es sich nun wieder entspannte. Meine Zähne taten weh, weil ich sie wohl fest aufeinandergepresst hatte.
Ich versuchte, mich wieder ein wenig zu entspannen. »Er hat es nicht verdient«, knurrte ich gehässig und bedachte Hale Arden mit einem zornigen Funkeln. Wenn meine Blicke töten könnten, dann wäre er auf der Stelle zusammengesackt. Da hätte selbst das Geld seiner Eltern nichts mehr genützt.
»Er wird es nicht in die Einheit von Dax schaffen. Dafür ist er zu schlecht«, versuchte Nik mich zu beruhigen.
Ich schnaubte. »Ich weiß, aber darum geht es nicht.«
»Worum denn dann?« Niks Frage trug Überraschung mit sich.
»Wegen solcher Leute leiden Familien in Zone Vier. Wie viele Kinder hätten eine gute Chance, hier eine Ausbildung machen zu können? Und nur, weil seine Eltern das Militär mit Geld füttern, einen Haufen Beziehungen haben, wird sein Nichts-Können ignoriert und er bekommt trotzdem einen Platz. Manch Zehnjähriger wäre besser, als er es je sein wird.«
Nik sah nach vorn und musterte den Jungen, der mit übertriebenem Stolz im Gesicht durch den Raum blickte und weitere seiner Freunde aus Zone Eins und Zwei euphorisch in Empfang nahm.
Ob er überhaupt wusste, dass er nicht so ... herausragend war, wie er vorgab zu sein? Bestimmt nicht. Seine Eltern hatten ihn einmal zu oft gelobt und damit den Blick auf sich selbst irreversibel verzerrt. Ein Hauch von Mitleid machte sich in mir breit, den ich entschieden aus meinem Kopf verbannte.
Ob die anderen sich im Klaren waren, dass er fähigkeitstechnisch ein Versager war? Mit Sicherheit. Doch sie kannten auch seinen Namen und wussten um sein Geld und den Einfluss. Und wenn sie sich an ihn hielten, würden sie in irgendeiner Hinsicht von dieser Verbindung profitieren können. Doch ich kannte Menschen wie Hale, ich wusste, dass er niemandem außer sich selbst diente und früher oder später würden seine angeblichen Verbündeten wohl auf der Strecke bleiben.
Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Commander Dax den nächsten Namen aufrief: »Nik Hunt!«
Sofort zuckten meine Augen zu dem Jungen neben mir und wurden von den seinen aufgefangen. Das Blau seiner Iris schien vor Freunde ein wenig heller zu werden, sein Blick sprühte förmlich vor Vergnügen und er zwinkerte mir zu, als er sich an mir mit einem gehauchten »Bis gleich« vorbeischob, um aus der Reihe zu treten und nach vorn zu den anderen zu gehen. Die drei Jungen aus Zone Drei, die bereits rekrutiert worden waren, begrüßten ihn brüderlich. Es war nicht verwunderlich, denn Nik hatte eine seltsam angenehme Anziehung auf Menschen, die selbst ich kaum noch leugnen konnte und die es mir schwermachte, ihn bloß als eine Art Geschäftspartner zu sehen. Sobald wir in der Einheit von Dax waren, würde ich nur noch das nötigste mit ihm reden, denn ohne eine Bindung zu ihm, wäre mein Leben um einiges einfacher. Ich hielt nicht ohne Grund den Kreis meiner Vertrauten so klein wie möglich.
Der Verlust meines Vaters hatte zwar meinen Ehrgeiz und meine Disziplin scheinbar ins Unendliche gesteigert, doch bevor ich den Entschluss gefasst hatte, meiner Familie wieder ein besseres Leben zu ermöglichen und die Stadt vor den Leuten zu verteidigen, die ihm sein Leben genommen hatten, - die mir meinen Vater genommen hatten - hatte mich die Trauer schier überwältigt. Es dauerte lange, bis ich mich davon erholt hatte. Ich wusste, wenn ich einen weiteren geliebten Menschen oder Freund verlor, würde es keinesfalls leichter, sondern eher noch viel schlimmer werden.
Ich wollte den Schmerz nicht noch einmal spüren. Er erfüllte mich nach all den Jahren immer noch und schien auch nicht kleiner zu werden. Nur schaffte ich es mittlerweile, ihn auszublenden - was jedoch nicht bedeutete, dass er mich nicht in manchen Momenten so kalt erwischte wie das Regenwasser in der Tonne hinter unserem Haus.
Ich applaudierte mit den anderen verbliebenen und zählte insgeheim die Rekruten ab. Dreizehn. Blieben also nur noch neun Plätze.
Auf einmal fühlte ich mich wieder unsicher. Vielleicht lag es daran, dass Nik nicht mehr neben mir saß, der mir mit seiner entspannten Art einen gewissen Selbstglauben aufgedrückt hatte. Meine Hoffnung schwand mit jedem Namen, der aufgerufen wurde und nicht mein eigener war.
Nur noch fünf Plätze.
Vier.
Drei und zwei.
Ich schluckte und sah betroffen zu Boden. Das war's also. Sechs Jahre hatte ich meine Mum schuften lassen ... für nichts. Die Leistung zählte also doch nicht und ich würde wieder in mein Dorf, wie Otiz es genannt hatte, zurückgehen müssen.
Trisha Townsend erhielt Platz Nummer Einundzwanzig und war so aus dem Häuschen, dass sie Commander Dax für eine Sekunde überschwänglich um den Hals fiel, dem das überhaupt nicht gefiel und sie energisch von sich drückte.
Die hat verspielt, dachte ich mit einer süßen Bitternis, als ich beobachtete, wie sich der Commander ärgerlich räusperte und dann einen letzten Blick auf das Tablet warf, bevor er es abschaltete.
»Und zu guter Letzt: Clove Whitefield!«
Ich blickte auf, sah nach vorn. Erst zu Dax, dann zu Nik, der beide Daumen in die Höhe reckte und mich dann zu sich winkte. Ich versank in einer Art Trance, sodass ich nur am Rande mitbekam, wie sich Köpfe umwandten und nach dem Mädchen Ausschau hielten, das diesen Namen trug - nach mir.
Mein Körper verselbstständigte sich, als er sich langsam erhob, einen Fuß vor den anderen setzte und die wenigen Stufen zu der Gruppe hinabging. Keiner der beiden Prüfer machte die Anstalt, mir ebenfalls wie bei den vielen Rekruten aus den zwei inneren Ringen die Hand zu schütteln, doch wenigstens warfen sie mir keine angewiderten Blicke zu wie der Großteil meiner Mitrekruten.
Die Menschen um mich herum murmelten. Sie kannten mich nicht, fragten sich, wer ich war, wo ich herkam, weil ich mich den ganzen Test über bedeckt gehalten hatte. Genau aus diesem Grund!
»Verdammte Dörfler«, glaubte ich jemanden murmeln zu hören und war der Meinung, dass die Stimme Hale Arden gehörte, doch meine Aufmerksamkeit wurde auf Nik gezogen, der einen Schritt vortrat, mir freundschaftlich auf die Schulter klopfte, sich zu mir beugte und mir ins Ohr flüsterte: »Siehst du, ich hab's dir doch gesagt. Du wurdest dafür geboren, Wächterin zu sein!«
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