Kapitel 8.3
Am nächsten Morgen fiel es mir nicht leicht aus dem Bett zu kommen. Jede Faser meines Körpers schrie nach Ruhe, als ich mich aufsetzte und mich ausgiebig streckte. Ich hatte Schwierigkeiten meine Beine zu bewegen und meine Arme brannten – vor allem aber meine rechte Schulter, denn die Anstrengung von gestern schien wirklich zu viel für meine Verletzung gewesen zu sein.
Ich hievte mich aus dem Bett, rieb mir müde übers Gesicht und tappte vor das Waschbecken. Mein Spiegelbild sah mich aus trüben grünen Augen an und riss den Mund zu einem heftigen Gähnen auf. An das zeitige Aufstehen würde ich mich definitiv noch gewöhnen müssen. Am liebsten hätte ich mich gleich wieder hingelegt und weitergeschlafen, doch das ging nicht und so warf ich mir frische Trainingskleidung über, die in meinem Zimmer gelegen hatte, als ich vom Abendessen zurückgekehrt war und putzte mir schnell die Zähne. Ein Blick durch den Spiegel auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand verriet mir, dass ich noch etwa eine Dreiviertelstunde Zeit hatte, um zu frühstücken.
Die große Kantine im zweiten Stock des Besucherzentrums war nicht sehr voll, dennoch saßen etwa drei Dutzend Teilnehmer in Gruppen zusammen und vereinzelt kauerten sich anderweitige Besucher an die Tische und verdrückten leise ihr Essen.
Die meisten Teilnehmer kamen aus den inneren Ringen, was keine Seltenheit war. Die Menschen dort hatten es leichter als die meisten in Zone Drei und Vier. Die Familien besaßen mehr Geld und benötigten die Kinder nicht als Arbeitskräfte. Sie erhielten eine gute Ausbildung; sie hatten Freizeit und konnten trainieren, ohne dass ihre Familien dadurch hungerten oder ungenügend Marken erhielten.
Natürlich wäre es am einfachsten, wenn die Menschen aus den äußeren Ringen ihre Kinder zur Aufnahmeprüfung schicken würden und so in die zweite Zone aufstiegen, doch die Chance, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, war nicht sehr hoch und meistens brauchten sie jedes Paar Hände, die sie kriegen konnten, um die Arbeit zu verrichten, die täglich getan werden musste. Wurde die Arbeit nicht erledigt, gab es keinen Lohn. Wenn keine Marken vorhanden waren, konnten die Abgaben nicht gezahlt werden. Und dann sah es schlecht aus. So entschieden sich die Menschen lieber für ein hartes Leben als für eine Haftstrafe und den damit einhergehenden Untergang der Familie.
Neben der schweren Arbeit blieb nicht viel Zeit zum Trainieren und da wir aus den äußeren Ringen sowieso schon einen Nachteil durch unsere Herkunft hatten, – auch wenn die Prüfer das niemals öffentlich zugeben wollten – war das Training die wichtigste Vorbereitung auf den Test.
Ich konnte von Glück reden, dass meine Mum all die Arbeit und Anstrengungen des täglichen Lebens auf sich genommen hatte, um mir das regelmäßige Trainieren zu ermöglichen.
Als ich mir ein Tablett holte, kehrte ich aus meinen Gedanken in die echte Welt zurück und ließ mir von der Frau an der Ausgabe einen Teller mit warmen Bohnen, zwei Scheiben Toast und dampfendem Ei reichen. Anscheinend waren auch hier die Portionen genauestens rationiert, jedoch um einiges größer als bei uns.
Ich lief weiter zu einer kleinen Auswahl an Naschereien, an der ich mir eine rote, klebrige Masse, sogenannte Marmelade, und Honig nahm. An der Theke direkt daneben betrachtete ich neugierig die Getränke, die mir zur Auswahl standen. Die Wahl fiel mir hier nicht schwer, denn von Kaffee hatte ich zwar schon gehört, doch ihn noch nie probiert. Und da ich nicht wusste, ob ich je wieder die Chance hatte, solch ein Luxusgut trinken zu können, goss ich mir eine kleine Tasse ein und kippte ein wenig Milch dazu, die in einer Kanne danebenstand. Mit dem nun vollbeladenen Tablett in beiden Händen sah ich mich im Raum um.
An einer langen Tafel saß eine große Gruppe, die aus Teilnehmern von Zone Eins und Zwei bestand. Sie unterhielten sich lebhaft und nahmen herzhafte Bisse ihres Essens. Für einen Moment streifte der Gedanke meinen Kopf, ob ich mich vielleicht dazusetzen und versuchen sollte, mich mit ihnen anzufreunden, doch die Idee kam mir gleich darauf total absurd vor. Mit mir, einem unbekannten Mädchen aus einer niederen Zone, würden sie sich sowieso nicht abgeben wollen. Außerdem waren wir immer noch Konkurrenten, darüber waren sie sich ebenso im Klaren wie ich. Nur weil sie beieinandersaßen, hieß das noch lange nicht, dass sie auch Freunde waren. Nur die gleiche Zonenherkunft stellte zwischen ihnen einen Bezugspunkt her.
Ich müsste unglaublich viel Energie aufbringen, um glaubhaft Höflichkeit vortäuschen zu können. Weil ich merkte, dass mir das bloße Nachdenken darüber bereits den letzten Nerv raubte und ich noch zu müde für solch eine sinnlose Anstrengung war, suchte ich mir einfach einen freien Tisch und ignorierte die kleine Gruppe aus Zone Drei, die sich neben mir ebenfalls zusammengefunden hatte, aber deutlich zurückhaltender miteinander umging, als die Lärmenden an der großen Tafel. Sie hätten mich vielleicht noch eher in ihren Reihen aufgenommen, doch ich vertrieb diesen Anflug von leichter Sehnsucht. Es war ohnehin besser, allein zu arbeiten. So würde mich niemand in meinem Vorhaben stören oder ablenken.
Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, erhob sich jemand von dem Tisch neben mir und kam auf mich zu. Als ich aufblickte, erkannte ich Nik.
Konnte er etwa Gedanken lesen? Nein, das war schwachsinnig. Jedoch schien das Glück oder das Schicksal – wie auch immer man es nennen wollte – einfach nicht mehr auf meiner Seite zu sein.
»Guten Morgen«, flötete er nach meinem Geschmack ein wenig zu fröhlich und stützte sich mit beiden Händen auf der Oberfläche des Tisches ab.
Alles, was ich zustande brachte, war ein unwilliges Grunzen und ein gequälter Blick.
»Würdest du dich gerne mit zu uns setzen?«, fragte er, wobei er lässig mit dem Daumen hinter sich deutete.
Ich lehnte mich leicht zurück, um an ihm vorbeischauen zu können und betrachtete die Gesichter der Menschen, die mir überhaupt nichts sagten und mich keinesfalls davon überzeugten das Angebot anzunehmen.
Also zog ich nur die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf. »Nein, danke ...«
Niks Augenbrauen schnellten nach oben. Hatte er denn wirklich angenommen, ich würde mich zu ihnen setzen? Wow ... vielleicht war meine erste Einschätzung von ihm tatsächlich fehlerhaft gewesen und er war doch nicht so schlau, wie ich gedacht hatte.
»Bist du sicher? Die sind alle gar nicht so schlecht! Und ein paar Verbündete zu haben, kann doch bestimmt auch nicht schaden, oder?«, versuchte er, mich zu überzeugen, doch ich blieb standhaft und verneinte abermals.
Daraufhin zuckte der Junge nur mit den Schultern und kehrte an den Tisch zurück. Wieder allein, schaufelte ich das Essen in mich hinein, leerte meine Tasse – der Kaffee war überraschend bitter, dennoch stellte ich fest, dass ich dafür etwas übrighatte. Mit einem Blick auf die Uhr schob ich mir das letzte Stück Toast in den Mund.
Sattgegessen brachte ich das Geschirr weg und machte mich auf den Weg zu Komplex B-2, wo wir eine Einführung in die Handhabung von Schusswaffen erhalten sollten.
»Hey, Whitefield!«
Ich erkannte Niks Stimme sofort. Er hatte mir schließlich schon genügend Gelegenheiten verschafft, sie zu hören – oder eher, sie ertragen zu müssen.
Augenblicklich beschleunigte ich meine Schritte und hoffte, zwischen den Teilnehmern, die sich bereits im Konferenzraum tummelten und eine breite Masse an blauen Punkten bildeten, untertauchen zu können. Doch meine roten Haare waren so auffällig wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Niks große Hand umfasste mit Leichtigkeit meinen Arm und hielt mich vom Fortlaufen ab.
»Was ist?«, fauchte ich so laut, dass einige Teilnehmer sich nach mir umdrehten und mich beäugten, als hätte ich sie persönlich beleidigt.
Sofort hob Nik abwehrend die Hände. »Wow, kein Grund gleich Funken zu sprühen ...«
Diese Bemerkung ließ mich die Augen zusammenkneifen. Wollte er mich damit beleidigen? Meine Haarfarbe lächerlich machen? Das wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass ich wegen meiner roten Haare ausgelacht wurde. Eigentlich schätzte ich den Jungen nicht so ein, doch wieder einmal fiel mir auf, dass es schwer war herauszufinden, was hinter den harten Gesichtszügen und den klugen Augen vor sich ging. Vielleicht hätte ich mich bei ihm entschuldigt, wenn er mir nicht dauernd seine Gesellschaft aufdrängen würde.
»Was willst du?«, fragte ich etwas ruhiger, jedoch nicht weniger abweisend.
»Warum hast du dich vorhin nicht mit zu uns gesetzt?«, fragte er und lief neben mir her, als ich mich wieder in Bewegung setzte und mir einen Platz suchte – dieses Mal in einer der hinteren Reihen.
»Ich arbeite besser allein.«
Ich hoffte, ihn mit dieser knappen Aussage abspeisen zu können, doch er schien ebenso wenig nachgeben zu wollen wie ich.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte er überzeugt und ließ sich neben mir nieder. Allem Anschein nach wollte er mich hier und jetzt vom Gegenteil überzeugen.
Ich wollte gerade etwas Schnippisches erwidern, als die drei einheitslosen Prüfer pünktlich den Saal betraten. Die letzten Anwesenden huschten schnell auf ihre Plätze und es wurde still im Raum. Einen Moment noch sah ich Nik von der Seite an, der den Blick bereits interessiert nach vorn gerichtet hatte, dann wandte auch ich mich McIntyre zu, der keine Zeit mit überschwänglichen Begrüßungsreden vergeudete, sondern die Höflichkeiten einbehielt und uns mit einem knappen »Morgen!« begrüßte. Offenbar wurden ab heute strengere Saiten aufgezogen. Es gefiel mir. Diese Art war eine willkommene Erinnerung, dass man hier nur mit Konzentration und harter Arbeit etwas erreichen konnte. Wer nur zum Spaß an der Prüfung teilnahm und sie nicht ernst nahm, konnte am besten gleich wieder abzischen.
Ganz von selbst richtete ich mich ein Stück auf und versuchte, mir jedes seiner Worte einzuprägen. Er erklärte uns, wie die Waffen – keine einfachen Jagdgewehre, wie Maddox sie benutzte, sondern fortschrittliche Sturmgewehre – funktionierten. Mir wäre das Einprägen sicherlich einfacher gefallen, wenn ich mir Notizen hätte machen können, um noch einmal alles in Ruhe zu durchdenken. Doch das würde mir am Schießstand nicht viel nützen. Dort blieb keine Zeit, um auf einem Zettel die Theorie nachzulesen.
Der Eignungstest sollte zwar unsere körperlichen Leistungen testen, jedoch ebenso unsere Auffassungsgabe. Die Ausbildung dauerte nicht lange. Man musste also fähig sein, Dinge schnell zu lernen und zu verstehen. Ansonsten hätte man keine große Chance gegen die echten Gefahren anzukommen.
Nach einer Stunde klingelten mir langsam die Ohren von den vielen Fachbegriffen, die mein Gehirn noch immer in die richtige Ordnung zu bringen versuchte. Wir machten uns als große Gruppe auf den Weg zum Schießplatz, der sich über den ganzen Komplex D-2 erstreckte. Eine lange Reihe an abgetrennten Schießplätzen war hier errichtet worden, an denen mit einem Mal zehn von uns Platz fanden. In länglichen Bahnen verliefen sie nach außen.
Ich schätzte die gesamte Entfernung auf etwa einhundert Meter. Die Ziele befanden sich jedoch auf der Hälfte der Strecke, was mit McIntyres Angabe, wir würden nur auf ein fünfzig Meter entferntes Ziel treffen müssen, übereinstimmte. Wir schossen in achtzehn Gruppen, deren Einteilung von den Kennnummern auf unseren Unterarmen bestimmt wurde. Demnach war ich mit der Kennnummer 027 in Gruppe Drei. Nik mit der Nummer 043 schoss – Gott sei Dank! – in Gruppe Fünf.
Wenigsten hatte ich fürs Erste wieder Ruhe vor ihm und er würde mir nicht das Ohr abschwatzen können, während ich versuchte zu zielen.
Die ersten zwanzig Teilnehmer hatten bereits geschossen, weshalb nun meine Gruppe an der Reihe war. Ich trat mit den anderen zu den zwei Prüfern, die uns schweigend die Gewehre aushändigten. Als der Mann mir die Waffe in die Hände legte, war ich überrascht, wie leicht sie war. Ich hatte erwartet, dass sie das gleiche Gewicht wie das Jagdgewehr auf die Waage bringen würde.
Während ich zu Schießplatz 7 trat, wiegte ich sie ein wenig hin und her, um zu spüren, wie sie in meinen Armen lag. Ich begrüßte den Prüfer in schwarzer Uniform, der diese Höflichkeit mit einem knappen Nicken erwiderte. Er hielt das HUD in den Händen und tippte darauf herum, als ich ihm meinen Namen nannte und die Kennnummer vorzeigte. Er bedeutete mir an die Absperrung zu treten und wiederholte die Worte, die McIntyre bereits im Saal gesprochen hatte. Die Prüfung absolvierten wir in zwei Runden, in denen jeweils fünf Schüsse abgefeuert werden sollten. Um diesen Prüfungsteil zu bestehen, müssten mindestens sieben der insgesamt zehn Versuche ein Erfolg sein, also das Ziel treffen.
Wir schossen nicht mit üblicher Munition, sondern mit speziellen Lasern, die die Treffer am Ziel jedoch ebenso genau kennzeichneten wie normale Patronen. Als McIntyre auf die Nachfrage eines Jungen den Grund für diese Maßnahme genannt hatte, – ein Teilnehmer hatte vor vielen Jahren seine Waffe fallengelassen, die daraufhin losgegangen war und fast einen Prüfer getroffen hätte – musste ich leise lachen, was mir einen neugierigen Blick von Nik eingebracht hatte.
»Wenn Sie bereit sind, treten Sie vor und legen Sie an. Sobald Sie den ersten Schuss abgegeben haben, bleiben Ihnen drei Minuten, um weitere vier Male zu schießen. Verstanden?«, fragte der Prüfer.
»Jawohl, Sir!«, erwiderte ich mit fester Stimme, doch ich spürte, wie schleichend langsam die Aufregung in mir hochstieg und einen Knoten in meinem Magen bildete.
Meine Schießkünste beschränkten sich auf das Treffen von nahen, großflächigen Zielen bei verbotenen und sehr kurzen Übungseinheiten mit Maddox (mehr als ein paar Male schießen hätte uns verraten) und auf den Glückstreffer bei meiner ersten und einzigen Jagd. Dennoch versuchte ich so tief und ruhig wie möglich durchzuatmen, ehe ich die Schulterstütze an meiner Schulter platzierte, meine linke Hand sorgfältig am Handschutz positionierte und mit der rechten das Griffstück umschloss. Ich blickte durch das Visier und versuchte mich an die Worte von Maddox zu erinnern. Was hatte er noch gleich gesagt? Ach ja, ich sollte mich auf meine Instinkte verlassen und nicht zu lange zielen.
Also visierte ich mit entschlossenem Blick das Ziel an und drückte ab. Nichts.
Ich hob meinen Kopf, sodass ich über den Lauf meiner Waffe hinwegsehen konnte und musste mit Entsetzen feststellen, dass ich tatsächlich die Zielscheibe verfehlt hatte.
Okay, das war mein erster Versuch. Ich hatte keine Erfahrung im Umgang mit dieser Waffe. Vielleicht brauchte ich nur einen oder zwei Schüsse, um mich an diese Art des Gewehrs zu gewöhnen. Erneut legte ich an, nahm das Ziel ins Fadenkreuz und drückte ab. Wieder daneben.
Ich drängte den aufkeimenden Ärger zurück, atmete tief ein und aus und drückte dann drei Mal in kurzen Abständen ab. Als ich den Blick hob, bemerkte ich erfreut, dass alle drei Schüsse ihr Ziel gefunden hatten. Zwar befanden sie sich eher im mittleren Bereich der Scheibe und ziemlich willkürlich verteilt, doch immerhin hatte ich keine weiteren Schüsse vergeudet und somit mein Bestehen gefährdet.
Dieses Ergebnis war nicht schlecht, dennoch machte es mich unzufrieden, weshalb ich mit versteinerter Miene von dem Schießplatz zurücktrat, und meine Waffe zurückbrachte, die sogleich an den nächsten Teilnehmer übergeben wurde.
Während die nächsten zwei Gruppen schossen, sah ich mit verschränkten Armen zu. Zähneknirschend musste ich mit ansehen, wie Nik selbstsicher die Waffe entgegennahm, anlegte, sein Ziel anvisierte und schließlich fünf Schüsse in kürzester Zeit abgab. Zu meinem Unmut traf er auch noch drei von ihnen mitten ins Schwarze und wurde in den höchsten Tönen von Sergeant Otiz gelobt, die die Teilnehmer an Schießplatz 3 bewertete.
Bewusst mied ich seinen Blick, als er zurück zur Gruppe trat und von vielen aus Zone Drei beglückwünscht wurde. Doch anstatt bei ihnen zu bleiben und sich feiern zu lassen, bahnte er sich einen Weg zu mir und blieb mit einem Grinsen auf den Lippen vor mir stehen.
»Na, wie lief's?«, fragte er und am liebsten hätte ich ihm für diese Bemerkung eine reingehauen. Nur wäre ich dann vom Test ausgeschlossen worden, denn jegliches gewalttätige Verhalten wurde nicht geduldet. Deshalb ließ ich es sein.
Stattdessen zwang ich mich zu einem scheinheiligen Lächeln und antwortete mit zuckersüßer Stimme: »Ganz hervorragend!«
Niks Reaktion auf meine eindeutige Lüge äußerte sich in einem Schulterzucken. »Wenn du meinst ... Aber ich bin der festen Überzeugung, dass deine ersten beiden Schüsse die Zielscheibe nicht einmal gestreift haben.«
Ich wurde auf einmal stinksauer.
»Was, verdammt nochmal, willst du von mir?«, rief ich aufgebracht und drehte mich nun doch zu ihm, wodurch ich um uns stehende Jungen und Mädchen auf mich aufmerksam machte.
Als hätte er nur auf diese Frage gewartet, fingen seine Augen an, verhohlen zu funkeln. Er legte eine Hand auf meine Schulter und ich ließ mich widerstrebend an den Rand der Gruppe schieben. Dann beugte er sich zu mir und als er sprach, war seine Stimme nichts weiter als ein Raunen.
»Das Team der Schutzeinheit, das unter Commander Dax agiert, hat beim letzten Einsatz zwei Mitglieder verloren. Ich brauche deine Hilfe, um in genau dieses Team aufgenommen zu werden«, erklärte er ohne Umschweife.
Ich verzog mein Gesicht zu einer ratlosen Grimasse. »Hä?«, machte ich dümmlich. Ich verstand kein Wort.
»Na, schau doch mal. Ist dir nicht aufgefallen, dass bis auf Commander Dax alle anwesenden Prüfer gerade einmal den Rang eines Lieutenants oder Sergeants bekleiden? Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Dax sich unter den Teilnehmern nach potenziellen Rekruten umsieht, die nach dem bestandenen Eignungstest nach nur zwei Wochen Ausbildung in sein Team aufgenommen werden.«
»Aha, und wer ist diese sichere Quelle?« Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch und malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
Als Nik grinste, sah er überaus selbstgefällig aus. Seine folgenden Worte bestätigten das nur. »Na ich«, erwiderte er.
»Und warum bist du dir so sicher, dass es nicht absoluter Schwachsinn ist, den du mir da gerade erzählt hast?«
Ich wusste nicht, warum ich mich auf dieses lächerliche Spielchen einließ. Vielleicht, weil Nik mich mit seinem Grinsen und den funkelnden Augen herauszufordern schien. Oder auch nur, weil ich ihm beweisen wollte, dass er ein Idiot und diese Information – wo auch immer er glaubte, sie aufgeschnappt zu haben – nichts weiter als ein Irrtum war.
»Ich arbeite in der Waffenproduktion.« Das erklärte zumindest seine überdurchschnittlichen Schießkünste. »Der Commander ist vor etwa einer Woche mit seinen Leuten angerückt, um sich die neuen Waffen anzuschauen. Da habe ich zufällig das Gespräch zwischen ihm und dem Leiter der Fabrik aufgeschnappt.«
»Und du bist dir sicher, dass es Commander Dax war?«
Nik erzählte so selbstsicher davon, dass es sich tatsächlich nach der Wahrheit anhörte. Und auch als er nickte, verzog er keine Miene, sondern sah mich mit einer Ernsthaftigkeit an, die mich irgendwie überzeugte und neugierig machte.
»Da wäre nur noch eine Frage ... Warum soll gerade ich dir dabei helfen? Warum fragst du nicht jemanden aus der Zwei oder Eins? Die können doch sicherlich ihre Beziehungen nutzen, um dich da reinzubringen ...«
Als würde er tatsächlich kurz mit dem Gedanken spielen, sah Nik über mich hinweg zu der Gruppe und scannte mit seinen blauen Augen die Gesichter. Dann schüttelte er den Kopf. »Denen kann ich nicht vertrauen. Sobald sie davon wüssten, würden sie es ihren Freunden erzählen und mir den Platz wegschnappen.«
»Aber mir kannst du vertrauen? Du kennst mich doch gar nicht!«
»Ich kenne dich gut genug. Du bist zielstrebig, lässt dich nicht so leicht aus der Ruhe bringen und würdest alles dafür tun, um eine Wächterin zu werden. Das reicht ... Also was ist nun? Hilfst du mir?« Geduldig sah er mich an, während in mir ein Tauziehen zwischen Vernunft und Verlockung entbrannte. Doch schließlich übertrumpfte die Neugier und der kleine Funken prickelnder Gefahr die Warnung in meinem Kopf, die ich augenblicklich in eine dunkle Schublade einschloss. Da war nur noch eine kleine Sache ...
»Nehmen wir mal an, ich helfe dir.« Nik hob fragend eine Augenbraue. »Was springt für mich dabei raus?«
»Du bist die Einzige hier, die aus Zone Vier kommt. Du tust das nicht aus Spaß oder weil du dich der Stadt verpflichtet fühlst und der Regierung deine Dienste anbieten willst. Du möchtest deiner Familie helfen ...«
»Und?«, hakte ich nach, weil ich nicht verstand, worauf er hinauswollte.
»Ich habe dir erzählt, dass zwei Plätze für Rekruten in Dax' Team frei sind. Wenn ich reinkomme, schaffst du es auch. Und soweit ich das beurteilen kann, heißt das, dass du deine Familie zwei Wochen früher zu Gesicht bekommst.«
Er hatte recht. Das wusste ich. Und ich wusste auch, dass meine Entscheidung bereits gefallen war. Dennoch hielt mich etwas zurück.
»Woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann? Du könntest mich nach der Eignungsprüfung einfach abschreiben und dein Versprechen nicht einhalten.«
Der Junge nickte. »Du hast recht, das könnte ich tun. Aber du musst wissen, dass ich zu meinem Wort stehe.«
Ich glaubte ihm, als er das sagte. Dennoch ließ ich ihn noch etwas zappeln. Denn nachdem er meine Zeit vergeudet hatte, stand mir ebenso das Recht zu.
»Ich will einen Beweis!«, sagte ich schroff.
Seine Mundwinkel verzogen sich zu dem typischen, schiefen Grinsen. Er wusste genau, dass ich mit ihm spielte, doch es schien ihm nichts auszumachen.
»Gut, okay. Ich werde dir helfen, diesen Prüfungsteil zu bestehen, du schießt nämlich grottig.«
»Hey!«, rief ich und schlug ihm gegen die Schulter. Die Wucht meines Schlages schien ihn überrumpelt zu haben, denn er stolperte einige Schritte zurück, lachte aber rau.
»Es ist die Wahrheit und du bist so klug und weißt das selbst.«
Er hatte recht, obwohl grottig nicht meine Wortwahl gewesen wäre. Ich schwieg, was er richtig deutete, denn er fuhr fort.
»Wenn du deine Waffe anlegst, ziehst du deinen Kopf ein«, sagte er und ahmte meine Haltung mit einem imaginären Gewehr in den Händen nach. Ginge es nicht um mich, hätte ich gelacht. »Deine Schultern sind zu fest, genauso wie dein Griff am Handschutz und um das Griffstück. Deshalb verziehst du den Schuss beim Abdrücken, obwohl du vielleicht richtig anvisiert hast. Leg mal an!«
Ich tat was er mir sagte und hob nun ebenfalls ein imaginäres Sturmgewehr in die Höhe. Nik stellte sich hinter mich, legte beide Hände auf meine Schultern und drückte sie nach unten. Sofort spürte ich, wie sich dadurch auch meine Arme und Hände lockerten, jedoch nicht so sehr, dass ich die Kontrolle über die Waffe verlieren würde.
»Ja, genau so«, lobte er und ich prägte mir schnell diese Haltung ein. Dann ließ ich meine Arme zurück an die Seiten sinken und sah ihn an.
Ich kannte diesen Jungen kaum, doch es schien mir durchaus sinnvoll für ihn eine Ausnahme bei meiner Keine-Verbündeten-Regel zu machen. Einen Moment noch wägte ich meine Möglichkeiten ab, doch eine Seite siegte und mein Mund formte ganz von allein die unabwendbaren Worte: »Gut, ich helfe dir.«
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