Kapitel 6
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»Ich wollte das tun, was er getan
hatte; den Regeln folgen, die auch
sein Grundsatz gewesen waren;
dorthin gehen, wo er gestorben war.
All das brachte ihn in gewisser
Weise zurück – er und seine Taten
würden in mir weiterleben.«
– Clove Whitefield
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Mein Blick sank in eine weit entfernte Leere, während meine Finger sich in den dünnen Stoff des Hemdes krallten. Die letzte halbe Stunde packte ich nun schon meine Sachen.
Drei Tage würde ich in Zone Zwei als Gast auf dem Militärgelände für die Prüfung verbringen – wenn man mich für die Wächterausbildung annahm, wurde mein Aufenthalt um einen Monat verlängert. Kleidung, Essen und ein Schlafplatz erhielt ich vom Ausbildungszentrum. Die wenigen Sachen, die ich also benötigte, sollten eigentlich in ein paar Minuten fertig zusammengeräumt sein, doch ich stand nun schon zum dritten Mal gedankenverloren da.
Die Zeit war wie im Flug vergangen. Ich hatte mich mit meiner Mutter darauf geeinigt, dass ich bis zur Eignungsprüfung nicht mehr trainierte. Meine Wunde brauchte die Ruhe, das sah ich ein. Außerdem hatten mir die Ereignisse der letzten Tage auch ein wenig die Lust darauf genommen. Ich musste jetzt einfach auf mein bisheriges Training vertrauen. Es würde ausreichen müssen.
Seit sechs Jahren – seit mein Dad sein Leben gelassen hatte – fieberte ich auf den morgigen Tag hin. Seit sechs Jahren wollte ich nichts anderes, als in seine Fußstapfen zu treten.
Als spindeldürre Zehnjährige hatte ich meinen Vater dafür angehimmelt, dass er für unsere Stadt kämpfte, sie von Gefahren befreite. Laurence Whitefield war mein Held, denn er verteidigte die Stadt, er verteidigte uns. Und genau das wollte ich auch. Vielleicht, weil ich damit die Möglichkeit hätte, meinem Dad wieder ein Stück näher zu sein. Ich wollte das tun, was er getan hatte; den Regeln folgen, die auch sein Grundsatz gewesen waren; dorthin gehen, wo er gestorben war. All das brachte ihn in gewisser Weise zurück – er und seine Taten würden in mir weiterleben. Seit sechs Jahren könnte ich ihm endlich wieder nah sein.
Doch das erste Mal dachte ich auch darüber nach, was das wirklich bedeutete. Ich würde Mum und Cori für einen Monat verlassen müssen. Das Training zum Wächter fand im Ausbildungszentrum in Zone Zwei statt und dauerte vier Wochen. Besuchen durfte man in dieser Zeit niemanden. Erst zur Vereidigung würde ich die beiden wiedersehen. Sobald ich eine vollwertige Wächterin war, stellte man uns dann eine Wohnung im zweiten Ring zur Verfügung.
Ich stopfte das Hemd in die alte Tasche. Ein Monat war nicht so lang, doch was wurde aus Maddox?
Als Bewohnerin der zweiten Zone könnte ich die zwei äußeren Ringe durchqueren – er als Bewohner der Vier nicht. Wie oft würden wir uns dann noch sehen, wenn ich auf Einsätzen war und keine Zeit zum Umherreisen hatte? Das Herz zog sich in mir zusammen bei dem Gedanken, dass wir uns vielleicht sogar aus den Augen verlieren könnten.
Doch vielleicht fand ich eine Möglichkeit, ihn regelmäßig zu besuchen, oder ihn sogar zu uns in die zweite Zone zu holen. Ich hielt für mich fest, dass ich mich, sobald es möglich war, darüber informieren würde.
Ich zog den Reißverschluss der Tasche zu und sah mich im Zimmer um, als mich eine weitere Überlegung innehalten ließ. Was passierte, wenn ich – genau wie mein Vater – bei einem Einsatz getötet wurde? Mum und Cori würden erneut das Anrecht auf die Wohnung verlieren, sie müssten zurück in die vierte Zone ziehen, wieder hungern und sich jede Marke vom Munde absparen. Der Gedanke jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
Nein, das würde nicht geschehen. Ich musste aufhören, den Teufel an die Wand zu malen, bevor überhaupt etwas derartiges passiert war. Außerdem wusste ich, dass ich mich auf Maddox verlassen konnte. Er würde den beiden helfen, sie nicht im Stich lassen.
Ich schüttelte wütend den Kopf, um diese dunklen Gedankenwolken und meine Zweifel zu vertreiben. Von unten ertönte das Lachen meines Bruders, kurz darauf das von Maddox. Ich hatte ihn für heute Abend zum Essen eingeladen. Wir wollten ein kleines Festmahl auftischen, weshalb er Wild, die leckeren weißen Bohnen und sogar eine Süßspeise für den Nachtisch mitgebracht hatte. Meine Mum servierte dazu Kartoffeln aus unserem Garten und ein frischgebackenes Brot. Sie hatte, glaube ich, sogar Himbeeren von unseren Sträuchern gepflückt.
Die Idee für das Abendessen kam von ihr. Sie wollte sich gebührend von mir verabschieden und sichergehen, dass ich ausreichend genährt war, um gut in den Eignungstest starten zu können. Ich fand zwar, dass es eigentlich zu viel Aufwand war, doch sie ließ sich nicht umstimmen und mittlerweile war ich froh darüber, sie alle um mich zu haben. Meine Mum, meinen Bruder und Maddox. Die Menschen, die mir am wichtigsten waren.
Ich atmete tief durch, stellte die Tasche griffbereit neben die Tür und gesellte mich schließlich zu den anderen ins Esszimmer.
Maddox jagte, so gut er es mit seinem Bein konnte, Cori quer durch den Raum, der lachend vor ihm wegrannte. Auch für ihn war der Besuch eine gute Möglichkeit, den tristen Alltag mal hinter sich zu lassen. Ein weiterer Grund, warum ich irgendwann in das Abendessen eingewilligt hatte.
Meine Mum werkelte in der Küche herum. Das Haus war mit den wunderbarsten Düften gefüllt. So hatte es bei uns schon lange nicht mehr gerochen und auf einmal spürte ich, wie groß das Loch in meinem Bauch eigentlich war. Das Wasser lief mir im Munde zusammen.
Der Tisch war schon gedeckt und gerade, als ich in die Küche gehen und meiner Mum Hilfe anbieten wollte, rief sie: »Das Essen ist fertig!«
Ein Stofftuch um die Henkel einer breiten Schale gewickelt trug sie das Wildfleisch ins Zimmer, welches hübsch garniert war. Sie stellte es auf dem Tisch ab. Gleich darauf folgte eine Schale mit Kartoffeln, eine mit Bohnen und ein Korb mit dunklem Brot. Es sah wirklich köstlich aus.
Cori rannte auf mich zu und benutzte mich als Versteck, während Maddox vor mir hinkend und keuchend zum Stehen kam. Er griff nach dem Arm meines Bruder und zog ihn hinter mir hervor.
»Hab dich!«, grinste er und wuschelte ihm durch das Haar, sodass es wild in alle Richtungen abstand. »Und? Schon fertig gepackt?«, wandte er sich schließlich an mich.
Ich nickte, dann setzten wir uns. Meine Mutter tat jedem von uns etwas auf den Teller.
»Mum, das ist bestimmt das Beste, was du je für uns zubereitet hast. Es sieht himmlisch aus!«, lobte ich sie und sah, wie sich das Gesicht meiner Mutter augenblicklich erhellte. »Und vielen Dank für die leckeren Geschenke, Mads!«
Maddox machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht der Rede wert ...«
Das war typisch für ihn. Er tat etwas, weil er davon überzeugt war und erwartete nie eine Gegenleistung. Er war der selbstloseste Mensch, den ich kannte. Er teilte das Wenige, das er hatte mit uns. Er war gütig und bescheiden. Und obwohl ich diesen Charakterzug an den Reegers so abstoßend fand, so mochte ich Maddox dafür umso mehr. Vielleicht weil er mir nie das Gefühl gab, schlechter zu sein als die anderen. Weil er mich Schulden abarbeiten ließ, die er mir eigentlich gar nicht aufzwingen wollte, nur damit ich mich besser fühlte. Und weil er mich behandelte, als wäre ich tatsächlich seine Tochter und nicht nur ein nerviges Anhängsel eines Versprechens, das er meinem Vater einst gegeben hatte.
Ich spürte, wie ich emotional wurde und griff schnell zu meinem Glas, um meine zuckenden Mundwinkel zu verbergen. Die anderen hatten bereits angefangen zu essen und auch ich griff nun zum Besteck.
Das Fleisch war so saftig, dass ich mich zwingen musste, nicht zu schlingen und jeden Bissen zu genießen. In Kombination mit den Bohnen und den Kartoffeln war es tatsächlich ein Festmahl und wir wechselten kaum ein Wort, weil es so lecker schmeckte. Erst als meine Mum den Nachtisch –einen kleinen Schokoladenkuchen, verziert mit mehreren Himbeeren – aus der Küche holte, wurde es wieder etwas lebendiger am Tisch.
»Bist du denn aufgeregt?«, fragte Maddox und stopfte sich ein großes Stück des Kuchens in den Mund. Er schmatzte genüsslich, während er kaute, und es störte mich kein bisschen.
»Ja, schon«, gab ich zu und biss ebenfalls ein wenig verlegen von meinem Kuchen ab.
»Ist doch nicht schlimm. Ich war bei meiner Eignungsprüfung so aufgeregt, dass ich die Waffe hab' fallen lassen. Sie ist losgegangen und hätt' fast 'nen Prüfer getroffen. War erstaunt, dass sie mich überhaupt zugelassen haben ...« Er grinste amüsiert und entblößte seine Zähne, an denen noch ein bisschen Kuchen klebte, was Cori ein gackerndes »Ihhhh!« entlockte.
»Was heißt denn hier Ihhhh?«, fragte Maddox mit gespielter Empörung und fing an, meinen Bruder zu kitzeln, der sich vor Lachen kaum noch auf dem Stuhl halten konnte.
Während die beiden mit Herumalbern beschäftigt waren, ergriff Mum meine Hand und drückte sie fest und ausgiebig. Fragend sah ich sie an, als sie mich wieder losließ und ein kleines Päckchen unter ihrem Stuhl hervorholte. Sie reichte mir das mit braunem Papier und einem Wollfaden umwickelte Bündel. Erstaunt nahm ich es ihr ab und sah sie mit offenem Mund an.
»Was ...«, hob ich an, doch war zu überrascht, um die Frage über die Lippen zu bringen.
»Ich dachte mir ...« Ihre Stimme versagte und ich sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Schnell räusperte sie sich und fuhr fort. »Ich dachte, das würde dir vielleicht Mut machen ...«
»Mum, das wäre doch nicht nötig gewesen!«, sagte ich und atmete einmal tief ein, um nicht die Fassung zu verlieren.
»Doch«, sagte sie nur und wedelte dann mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum, weil sie die Sturzbäche, die ihr nun über die Wangen flossen, nicht mehr zurückhalten konnte. »Na los, mach es schon auf!«, drängte sie lachend, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.
Mit zitternden Fingern kam ich ihrer Aufforderung nach, löste den Faden und strich das Papier zur Seite. Ich erstarrte, als ich den braunen Stoff der Jacke meines Vaters erkannte. Schnell faltete ich sie auseinander und untersuchte den abgerissenen Ärmel, doch es war als wäre die Jacke nie kaputt gewesen. Selbst der noch blasse Blutfleck war verschwunden und das Loch, das die Kugel hineingerissen hatte, war geschickt gestopft worden.
Jetzt konnte auch ich mich selbst nicht mehr beherrschen und ließ die Tränen einfach raus. Schnell schob ich den Stuhl zurück, zog meine Mutter hoch und drückte sie fest. Ich hatte niemals ein Geschenk erwartet und schon gar nicht eines, was mir so viel bedeutete. Auf einmal kamen mir unsere Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre sinnlos vor – einfach nur verschwendete Zeit. So fest ich konnte, drückte ich sie an mich.
»Ich werde dich stolz machen, Mama«, flüsterte ich ihr ins Ohr und schniefte.
»Das hast du schon, Clove«, erwiderte sie, löste sich von mir und hielt mich an den Schultern eine Armlänge auf Abstand. »Ich weiß, dass du den Test bestehen wirst. Und du wirst eine gute Wächterin, genau wie dein Vater einer war.« Sie drückte mir einen Kuss auf den Mund, wischte mir wieder mit den Daumen das Gesicht sauber, ehe sie sich hinsetzte und sich die Nase putzte.
Maddox erhob sich nun, holte etwas aus seiner Hosentasche und reichte es mir über den Tisch. Mit großen Augen nahm ich es entgegen. Es war ein stabiles, quadratisches Stück aus weißem, festem Stoff. An der Hinterseite war ein raues, mit kleinen Widerhaken versehenes Material angenäht; auf der Vorderseite stand L. Whitefield.
»L. Whitefield. Laurence Whitefield ...«, hauchte ich. Dann machte es klick. »Ist das –«
»Das Namensband deines Vaters.« Maddox klang betrübt und sein Blick haftete auf dem kleinen Geschenk. »Das ist das Einzige, was ich mit zurückbringen konnte und ich denke, es ist an der Zeit, dass du es nun hast ...«
Ich sah, wie er heftig schluckte und wusste sofort, woran er dachte. Er hatte das Namensband mitnehmen können, die Leiche meines Vaters jedoch nicht.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, obwohl ich am liebsten schon wieder losgeheult hätte. »Maddox, das bedeutet mir sehr viel, danke«, sagte ich und drückte das Band gegen meine Brust, als könnte ich spüren, wie es einst an der Uniform meines Vaters gehaftet hatte.
Maddox schien sich schnell wieder zu fangen und nickte. »Dein Dad und ich hatten ein kleines Ritual. Vor jedem Einsatz haben wir in das Band etwas eingenäht, dass uns an unser Zuhause erinnert und Glück bringen sollte.« Er lachte kurz auf. »Hab' mich nie überwinden können nachzusehen, was er dort drin versteckt hat. Vielleicht findest du's ja irgendwann mal raus, wenn du so weit bist und erzählst's mir.« Er zwinkerte mir zu und setzte sich wieder.
»Danke, ehrlich! Das ... Mein Dad ... er ...«, stammelte ich.
»Ich weiß, er fehlt mir auch ...« Er sprach das aus, was ich dachte.
Überrumpelt wollte ich mich wieder niederlassen, da erhob sich nun auch Cori und kam um den Tisch zu mir gerannt.
»Ich habe auch was für dich!«, piepste er aufgeregt und holte seine Hand hinter dem Rücken hervor, die etwas Kleines umschloss. Als er sie öffnete, offenbarte sich eine wunderschöne Figur aus Holz – ein kleiner Fuchs.
Ich setzte mich, damit ich ihm richtig in die Augen sehen konnte, nahm die Figur und betrachtete sie genau.
»Maddox hat mir beim Schnitzen ein bisschen geholfen, aber das Meiste habe ich gemacht. Ich will, dass du mich immer bei dir hast!«
Die kleine spitze Schnauze, die großen Ohren, die Knopfaugen, die Maserung des Fells ... alles war so fein gearbeitet, dass es bestimmt Wochen gedauert hatte, bis die Figur fertig war. Ich sah zu Cori, der mich hoffnungsvoll beobachtete, um zu sehen, ob mir sein Geschenk gefiel.
Schnell legte ich meine Arme um ihn und zog ihn auf meinen Schoß. Er kuschelte sich an mich, legte den Kopf in meine Halsbeuge, dann spürte ich, wie ihn ein Schluchzer schüttelte.
»Ich will nicht, dass du gehst«, jammerte er und drückte seinen dünnen Körper noch fester an meinen. »Ich werde dich so sehr vermissen!«
Ich spürte ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust. »Ich werde dich auch sehr vermissen, mein kleiner Fuchs. Aber ab jetzt bist du immer bei mir und passt auf mich auf, habe ich recht?«
Cori ließ ein Stück von mir ab, musterte mich mit seinen großen braunen Augen und nickte eifrig. Dann drückte er mir – ebenso wie Mum – einen kurzen Kuss auf die Lippen, was mich zum Lachen brachte, rutschte von meinem Schoß runter und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
»Ich weiß gar nicht, wie ich mich richtig bei euch bedanken soll«, sagte ich und sah alle am Tisch nacheinander an.
»Du brauchst uns nicht danken, Clove!«, sagte Maddox und meine Mum nickte zustimmend.
Seufzend räumte ich diese wunderbaren Erinnerungen an meine Familie sorgfältig auf den Stuhl neben mich.
Den Rest des Nachtischs verdrückten wir in kürzester Zeit und wir redeten und lachten bis in die Nacht, – Cori durfte ausnahmsweise auch länger munter bleiben – ehe meine Mum mich daran erinnerte, dass ich am nächsten Morgen früh aufstehen musste. Also wünschten wir uns alle eine gute Nacht, ich umarmte Mum, Cori und Maddox noch einmal, dann stieg ich mit meinem Bruder zum Dachboden hoch, während Maddox es sich auf einer Matratze im Esszimmer gemütlich machte.
Ich lag noch eine ganze Weile wach und redete mit Cori über belanglose Dinge, dann schloss auch ich die Augen, bereit am nächsten Tag alles zu geben, um meine Familie stolz zu machen.
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