Kapitel 5.2
Es fühlte sich an, als wäre gerade einmal eine halbe Minute vergangen, da wurde ich durch einen blechernen Klang, der seltsam weit entfernt schien, aus meiner Bewusstlosigkeit gezogen. Je näher ich dem Licht kam, welches durch die Dunkelheit des Schlafes verdrängt worden war, desto deutlicher wurden die Töne, die sich schließlich zu einer maschinellen Stimme zusammenfügten.
Ich öffnete schwerfällig die Augen, als eine Frauenstimme eine Rede unserer Regierung ankündigte.
Mein Blick fiel sofort auf die gegenüberliegende Wand. Auf die graue Betonfläche wurde durch das HUD der Falltür ein Bild projiziert. Das Wappen von Circle erschien: Ein Ring, um den sich die Flügel eines Falken schlossen, auf den unsere Regierung als Wappentier überaus stolz war, denn er sollte unsere Stärke über Gefahren und die weise Führung verkünden. Ein großes C prangte in der Mitte der Abbildung.
Das Wappen verschwand und der Bildschirm unterteilte sich in vier Teile, in denen die Gesichter unsere Anführer zu sehen waren. Circle wurde von vier Abgeordneten aus den Zonen regiert.
Mitchell Burke kam aus Zone Eins, war Ende Zwanzig und wurde mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Die Burkes waren schon seit der Gründung Teil der Regierung. Sein Vater hatte ihm das Amt praktisch in die Wiege gelegt und sein Sohn war tatsächlich der geborene Anführer. Er war ein wenig hochnäsig, doch er fällte zwar harte, aber gerechte Entscheidungen. Ich mochte ihn und ich fand, er hatte den Platz als Anführer durchaus zurecht verdient.
Bei der Abgeordneten aus Zone Zwei, Victoria Steel, sah das ganze schon ziemlich anders aus. Auch sie war in eine mächtige, einflussreiche Familie hineingeboren worden, doch im Gegensatz zu Burke war sie egozentrisch und ich war der festen Überzeugung, dass sie seit Jahren irgendwie versuchte, die Macht an sich zu reißen. Glücklicherweise ließ unser Gesetz das nicht zu. Ich mochte sie nicht. Außerdem war ich mir sicher, dass die Familie Steel ihre Beziehungen, beziehungsweise ihr Geld hatte spielen lassen und sie nur aus diesem Grund die Wahl gewonnen hatte.
Arthur Reese kam aus Zone Drei und war ein alter Mann, der das Amt seit zwei Jahrzehnten belegte. Die Bürger aus Zone Drei liebten ihn, kein Wunder also, dass er sich bereits zum fünften Mal bei den Wahlen an die Spitze gekämpft hatte.
Die Abgeordnete aus unserer Zone hieß Ezra Fahey und war mir von all den Anführern die Liebste. Nicht nur, weil sie aus meiner Zone kam und mit ihren einundzwanzig Jahren als die jüngste Abgeordnete der Geschichte Circles galt. Sie war gütig, gerecht, freundlich und emphatisch. Ich hatte das Gefühl, sie würde noch Großes bewirken.
Als erstes richtete sich Mitchell Burke an uns. Seine tiefe Stimme wurde durch die alten Lautsprecher im Raum ein wenig verzerrt. Er klärte uns auf, dass die Reparaturen schnell fortschritten und in etwa einer halben Stunde abgeschlossen sein dürften. Der Nebel wäre kaum näher an die Mauer herangerückt.
Arthur Reese bedankte sich mit seiner warmen Stimme bei den Bürgern von Circle für ihre Geduld und Ezra Fahey kündigte eine finanzielle Entschädigung für jeden Bürger an, der für diese Zeit seine Arbeit hatte niederlegen müssen.
Als letztes erhob Victorya Steel das Wort und bei ihrer schrillen, nervtötenden Stimme zog sich alles in mir zusammen. Sie wies uns eher herrisch als freundlich an, nach dem Verlassen des Schutzraumes Vorsicht walten zu lassen und betonte überdeutlich, dass ihr das Wohl der Bürger sehr am Herzen lag – ich glaubte ihr kein Wort.
Nach der Bekanntgabe durch Ezra Fahey, dass für diejenigen, die eine finanzielle Entschädigung beantragen wollten, die Leitungen der Rohrpost und Telefone der Rechten Hand offenstanden, schaltete sich der Stadtsender aus und meine Mutter stand seufzend auf, um das HUD wieder auszuschalten.
Ich sah auf meine Uhr und stellte erfreut fest, dass es gerade mal früher Nachmittag war. Das hieß, ich hätte noch genügend Zeit, mich bei Maddox blicken zu lassen und meinen Gewinn abzuholen. Außerdem wollte ich ihn noch ein wenig über die Prüfung ausfragen und ihn vielleicht dazu drängen, mir noch Schießunterricht zu erteilen.
Nach bereits zwanzig Minuten meldete sich die die Lautsprecher-Frauenstimme zurück: »Entwarnung! Filtermembran intakt! Sicherheit der Stadt wiederhergestellt!«, sagte sie in ihrer Endlosschleife.
Alle Anwesenden im Schutzraum atmeten erleichtert aus. Cori sprang auf und rannte zu der Leiter.
»Clove, mach die Tür auf!«, forderte er und ich kam seinem Befehl gerne nach. Ich stand auf, klappte das HUD herunter und drückte auf Entsichern. Ein langes Zischen ertönte, das Licht der Projektion schaltete sich auf Grün und zeigte das Wort Geöffnet.
Cori stemmte sich mit aller Kraft gegen die dicke Metallklappe und schaffte es tatsächlich, sie anzuheben. Sie landete mit einem dumpfen Knall auf der Rasenfläche. Sofort strömte kühle Luft in den kleinen Raum. Es hatte aufgehört zu regnen, doch es roch eindeutig danach und all die Dämpfe der Industrie und der Transportmittel schien fortgewaschen zu sein. Glücklich kostete ich diesen Moment aus, indem ich mehrmals tief einatmete. Es war herrlich!
Die Hitze und Schwüle der letzten Wochen war fortgespült, der Druck war verschwunden und es schien, als wären damit auch unsere Sorgen ein wenig kleiner geworden. Wenigstens für diesen kurzen Augenblick.
Meine Mutter stieg hinter uns aus dem Schutzraum und klärte ihre Lungen erst einmal mit mehreren Atemzügen. Dann verabschiedete sie sich von den Reegers und kam schließlich auf mich zu. Ihr Blick war streng und von der Angst und den Sorgen, die sie heute Morgen um mich hatte, war nichts mehr zu sehen. Eher schien es so, als wollte sie mich eigenhändig erwürgen. Der Schutz vor einer Schimpftirade, den mir die Anwesenheit der anderen Familie verschafft hatte, war nun weg und ich war meiner Mum hilflos ausgeliefert.
»Auf ein Wort!«, sagte sie knapp angebunden und stampfte mit wütenden Schritten voran. Cori und ich folgten ihr – ich mit eingezogenem Kopf. Das würde hässlich werden und ich war mir sicher, dass es nicht nur bei einem Wort bleiben würde.
Sobald die Hintertür geschlossen war, prasselten wütende Worte auf mich ein. Vom verständnislosen Arme in die Luft werfen bis zu Hausarrestdrohungen war alles dabei. Ich ließ es über mich ergehen, doch gerade, als ich mich bei meiner Mum aufrichtig für meine Verantwortungslosigkeit entschuldigen wollte, klopfte es energisch an der Haustür.
»Zonenschutz, bitte machen Sie die Tür auf!«
Mum und ich erstarrten gleichzeitig, Cori sah erst zum Eingang, dann uns unsicher an und verdrückte sich schließlich hinter den Esstisch. Ich war die Erste, die sich wieder fasste, aber nur, weil noch einmal das Hämmern ertönte – dieses Mal klang es fast schon wütend. Schnell lief ich zur Tür und öffnete sie. Mit einem breiten, unbedarften Lächeln begrüßte ich die zwei Männer in den dunkelroten Uniformen. Sie hielten ihre Sturmgewehre bereitwillig in den Händen. Das war kein gutes Zeichen.
»Guten Tag, Miss. Wir sind auf der Suche nach Clove Whitefield«, sagte einer der beiden Wächter und festigte den Griff um seine Waffe.
Ich schluckte und musste die folgenden Worte dazu zwingen, meine Mund zu verlassen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Der andere Wächter hob seine Hand, mit der er ein schwarzes, dreckiges Bündel umschlossen hielt. »Ist das Ihre Jacke?«
Mein Mund wurde trocken, meine Kehle eng und ich hatte plötzlich vergessen, wie man spricht. Weil ich nicht wusste, was ich tun oder sagen sollte, blieb ich einfach stumm und sah die beiden Wächter mit starrer Miene an.
Hinter mir hörte ich, wie meine Mutter erschrocken nach Luft schnappte und am liebsten hätte ich sie angeschrien, sie solle doch still sein, ansonsten würde sie mich nur verraten.
Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Vorhin im Schutzraum war es für mich das kleinste Problem gewesen, dass die Kameras anscheinend doch noch funktionierten. Vielleicht hatte ich gehofft, sie würden die Jacke nicht finden, sie einfach übersehen. Oder vielleicht hatte ich angenommen, sie wäre in einer dunklen Ecke verschwunden, durch den Wind hinausgeweht worden oder hätte sich einfach nur in Luft ausgelöst. Aber nein, das Glück war heute definitiv nicht auf meiner Seite. Ich hatte ein Problem. Und zwar ein gewaltiges.
»Miss? Ist das Ihre Jacke?«, wiederholte der Wächter noch einmal seine Frage, jetzt um einiges eindringlicher.
Kurz überlegte ich, ob es etwas bringen würde, zu lügen. Doch ich war mir ziemlich sicher, dass die Männer bereits die Antwort auf ihre Frage kannten und nur sehen wollten, ob ich die Wahrheit sagte. Lügen war zwar kein Verbrechen, doch hier handelte es sich um die Behinderung der Ermittlungen durch eine Falschaussage und das wurde definitiv bestraft. Dann hätte ich überhaupt keine Chance mehr, mich aus dieser Situation zu winden.
»Ja«, gab ich zu und meine Stimme versagte sofort. Ich ärgerte mich über mein unsicheres Auftreten, straffte augenblicklich die Schultern und sah dem Wächter, der meine Jacke hochhielt, fest in die Augen. »Ja, das ist meine Jacke«, sagte ich noch einmal und dieses Mal so selbstsicher, als würde ich gerade nicht in einer überaus prekären Lage stecken.
Der Wächter ließ die Jacke sinken, nickte, weil ich den Test seiner Fangfrage bestanden hatte und schob sich dann das Gewehr auf den Rücken. Die Jacke band er an dem Riemen fest.
»Clove Whitefield, ich verhafte Sie wegen des Betretens von inaktivem Wächterareal. Sie werden zur Befragung in den zuständigen Stützpunkt gebracht.«
Der Wächter redete weiter – vermutlich nannte er mir meine Rechte, doch die Worte prallten an mir ab. Ich war in einem dunklen Tunnel gefangen und am Ausgang wartete ein kahler Verhörraum mit idiotischen Wächtern vom Zonenschutz. Denen war es egal, was aus mir wurde. Sie waren wie dumme Hunde, die einem Ball hinterherliefen, nur um eine Belohnung zu erhalten – manchmal sahen sie einfach nicht, wohin sie von ihren eifrigen Pfoten getragen wurden, und rannten dabei andere Menschen über den Haufen, ganz ohne Konsequenzen.
Der zweite Wächter packte mich grob an den Schultern und drehte mich um. Cori war aus seiner Ecke vom Esstisch hervorgetreten und drückte sich nun leise weinend an die Seite meiner Mutter.
»Es ist alles okay. Ich rücke das gerade!« Ich konnte die Worte nicht aufhalten, die aus meinem Mund kamen, denn Cori hatte unglaubliche Angst und nichts zu sagen, erschien mir als nicht richtig.
»Bitte schweigen Sie, Miss!«, forderte mich der Wächter auf und drehte mich wieder um, sodass der letzte Moment, in dem ich meiner Mum und Cori in die Augen hatte sehen können, viel zu schnell vorbei war.
Die beiden flankierten mich und führten mich an beiden Oberarmen gepackt aus dem Haus.
»Ich hab euch lieb!«, rief ich, woraufhin einer der Wächter seinen Griff festigte und mich anknurrte, ruhig zu sein. Meine Mutter und Cori liefen mir bis zur Haustür nach und schauten hilflos zu, wie ich in den Wagen verfrachtet wurde. Die Tür schlug zu, das Auto fuhr an und die beiden verschwanden aus meinem Sichtfeld.
Die ganze Zeit über hoffte ich, dass meine Mutter verstanden hatte, was ich ihr mit dem Rumgefuchtel meiner Finger hatte sagen wollen. Sie würden mich in das zweite Quartal bringen – jedenfalls hoffte ich das.
Der Wächter, der auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich zu mir um, musterte mich dann kurz und sagte: »Sie haben im Stützpunkt das Recht auf ein Telefonat. Da können Sie ihren Anwalt anrufen.«
Er lachte hämisch los, der andere stimmte fröhlich mit ein. Meine Abneigung gegen sie wurde immer größer und am liebsten hätte ich beide getreten oder sonst irgendwie meine Wut an ihnen ausgelassen, doch mir blieb nichts anderes übrig, als grimmig aus dem Fenster zu schauen und ihre spöttischen Witze über mich ergehen zu lassen.
Die Fahrt dauerte nicht lang und als wir vor das moderne Gebäude des Zonenschutzes fuhren, zog man mich unsanft aus dem Auto und drängte mich auf die gläserne Fassade zu. Wir liefen am Empfang vorbei, stiegen in einen Fahrstuhl, fuhren nach unten und dann fand ich mich auch schon in einem betonierten Raum wieder, die Hände an eine Stange vor mir auf dem Tisch gekettet. Ich sah mich auf meinem Stuhl um, vielleicht konnte ich fliehen?
Doch ich verwarf den Gedanken so schnell wieder, wie er mir in den Kopf gestiegen war. Eine Kamera zeichnete jede meiner Bewegungen auf, ein seltsamer Spiegel war in die Wand neben mir eingelassen und die Tür hatte einen Handabdrucksensor. Selbst wenn ich es wie durch Zauberei hier raus schaffen sollte, würde ich noch hunderten Wächtern entkommen müssen, die zehn Stockwerke über mir – jeder einzelne bewaffnet – herumstolzierten. Es war aussichtslos.
Also setzte ich mich wieder gerade hin und bettete die Hände in meinen Schoß. Meine Augen richtete ich starr geradeaus und versuchte meine Unsicherheit zu verbergen. Mein Vater hatte immer gesagt: »Lass sie niemals deine Angst spüren. Sie müssen denken, dass du keine Schwachstellen hast, dann können sie auch nicht in deinen Kopf vordringen.«
Ich starrte so lange gerade aus, dass das Grau des Betons sich vor meinen Augen zu einer verschwommenen Masse zusammenschob und ich an nichts mehr dachte. Meine Augen brannten, doch ich blieb reglos für den Fall, dass sie mich durch die Kamera oder den seltsamen Spiegel beobachteten.
Die Zeit kroch langsam dahin und ich fragte mich gerade, ob meine Mutter schon einen Plan hatte, wie sie mich hier rausholen konnte, da ertönte ein Piepen und hinter mir schwang die Tür auf.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro