Kapitel 4.1
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»Der Eignungstest für Wächter findet
jährlich am 15. Tag des 7. Monats
statt. Teilnehmen darf jeder, der
das 16. Lebensjahr erreicht und
das 20. Lebensjahr noch
nicht beendet hat.
Die 60 besten Teilnehmer werden je
nach erreichter Punktzahl und
Fähigkeiten als Wächter des
Zonenschutzes, des Katastrophen-
teams oder der Schutzeinheit
von Circle zugeteilt. Alle Teilnehmer
sind nach denselben Maßstäben
zu bewerten. Die Annahme des
Ausbildungsplatzes ist verbindlich,
sofern nicht bei der Bekanntgabe
der Verzicht darauf geäußert wird.
Ein freiwilliger Rücktritt ist danach
nicht mehr möglich. Dennoch kann
es beim Verstoß gegen den
geleisteten Wächterschwur oder die
Vorsätze des Militärs zum Ausschluss
aus dem Programm kommen.«
– aus den Richtlinien des Militärs
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Ich schob ein kleines Stück die Holzplanke vor dem Fenster beiseite und blickte hinaus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch es war bereits hell genug, um etwas sehen zu können.
Perfekt.
Leise schob ich den Fensterladen wieder zu, damit Cori nicht von dem Licht geweckt wurde. Er schlief tief und fest in meinem Bett, sein Kopf versank irgendwo zwischen den zwei Kissen.
Mit spitzen Fingern nahm ich meine Sachen von dem Holzschemel und versuchte so lautlos wie möglich in sie hineinzuschlüpfen. Ich zischte schmerzerfüllt, als ich meinen verletzten Arm drehen musste, um ihn durch den Ärmel meiner Jacke zu schieben, woraufhin Cori seinen Kopf hob und sich auf den Rücken drehte. Mit verwirrter Miene blinzelte er mich durch die Dunkelheit an.
»Wo gehst du hin?«, fragte er schläfrig.
Schnell legte ich einen Finger an den Mund, damit er leiser sprach. Die Wände der Hütte waren wirklich hellhörig. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, wisperte ich und kniete mich neben ihn.
Cori nickte träge und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Ich muss trainieren gehen, sonst werde ich die Prüfung nicht schaffen«, erklärte ich. »Du darfst Mama aber nichts davon erzählen, okay?«
»Versprochen«, murmelte mein Bruder und drehte sich gleich wieder auf die Seite.
Es wäre nicht überraschend, wenn er sich später kaum noch an das Gespräch erinnern würde. Grinsend schnappte ich mir mein Tuch und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer, denn selbst wenn Cori mich nicht verraten würde, könnte das kleinste Knarren alles zunichte machen.
Fünf Tage lang hatte ich weiterhin im Bett verbringen müssen, ganz zu meinem Missvergnügen. Meine Mutter hatte sich einfach nicht davon überzeugen lassen, dass es mir gut ging. Sie wollte nicht, dass ich mit dem Training weitermachte. Anscheinend hatte sie es sich wirklich zur Aufgabe gemacht, meine Teilnahme an der Prüfung zu verhindern. Ich glaubte ihr immer noch nicht so ganz, was die Sache mit der Regierung betraf, obwohl sie mir mehrmals versichert hatte, dass sie sich nur Sorgen um mich machte. Vielleicht wollte ich es auch einfach nicht wahrhaben, dass sie möglicherweise recht haben könnte.
Ich hatte mich wirklich angestrengt, ihr zuzuhören, aber sobald sie das Thema anschnitt, schalteten meine Ohren automatisch auf Durchzug und ein Ärger brauste in mir auf, der mit jedem weiteren Wort anschwoll. Wie ein immer größer werdender Tornado aus Emotionen.
Mehrmals hatte ich versucht, sie zu überzeugen, mich wenigstens kurz an die frische Luft zu lassen, doch jedes Mal hatte sie mich zurück auf den Dachboden gezerrt und mich wieder ins Bett verfrachtet – natürlich immer darauf bedacht nur meinen gesunden Arm zu umklammern. Ich war eine Gefangene in meinem eigenen Haus.
Mir riss mittlerweile wirklich der Geduldsfaden, also hatte ich gestern vor dem Schlafengehen den Entschluss gefasst, mich vor den ersten Sonnenstrahlen aus dem Haus zu schleichen und wenigstens ein Stück Laufen zu gehen, damit meine Kondition nicht nachließ.
Bei dem Eignungstest würde ich zehn Kilometer hinter mich bringen müssen und wenn ich ganz vorn mit dabei sein wollte, dann würde ich viel Ausdauer benötigen, um eine gute Zeit zu erreichen. Ich wusste von Maddox, dass die Prüfer es den Teilnehmern aus Zone Drei und Vier besonders schwer machten – sie spielten gerne ihre Machtspielchen, als hätten sie das Sagen, derweil waren auch sie bloß Glieder in einer langen Hierarchiekette. Sie mochten uns nicht und ich mochte sie nicht. Der einzige Unterschied war der, dass sie uns das bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bot, spüren ließen. Auch wenn das Recht verlauten ließ, dass wir gleich beurteilt werden sollten, war dem nicht so. Wenn ich also nicht besser war als die anderen, hatte ich keine Chance.
Das kleine Schlafzimmer meiner Mutter grenzte direkt an das Esszimmer unseres Hauses, weshalb mein Herz immer stärker in meiner Brust klopfte, als ich die Treppe hinunterlief und die Stufen ein leises Knarzen von sich gaben. Wenn meine Mum mich hierbei erwischte, dann würde ich monatelang keinen Schritt ohne ihren Kontrollblick tun können und die Prüfung konnte ich dann wahrscheinlich ganz abschreiben.
Es war fünf Uhr, die Sonne würde in eineinhalb Stunden aufgehen und meine Mutter wecken – sie wurde immer von den Sonnenstrahlen munter. Bis dahin musste ich wieder zurück sein. Ich hatte noch gestern Abend dagelegen und mir ausgerechnet, wie viel Zeit mir blieb.
Die Strecke durch den Wald bis zu Maddox Laden betrug fünf Kilometer. Für den Hin- und Rückweg brauchte ich normalerweise fünfzig Minuten, wenn ich gut in Form war auch weniger. Da ich jedoch noch vorsichtig mit meiner Verletzung umging, wollte ich heute nur die Hälfte der Strecke laufen. Das hieß, ich bräuchte im schlimmsten Fall eine halbe Stunde bis zum Wendepunkt und wieder zurück zum Haus.
Es gab einen alten Wachturm, den ich an meinem ersten Tag hier in Zone Vier im Wald entdeckt hatte. Die Strecke hier bis dorthin betrug etwa zweieinhalb Kilometer und bildete den Übergang zum dritten Quartal.
Die Wächter hatten den kleinen Stützpunkt genutzt, um die Rebellen von der Mauer fernzuhalten, indem sie auf alles feuerten, was sich in ihrem Umfeld bewegte. Die dicke Betonwand konnte zwar nicht den Nebel fernhalten, doch sie hielt hervorragend Menschen davon ab, dumme Dinge zu tun – Rebellen und Bürger gleichermaßen. Sie schirmte die vierte Zone vom äußersten Ring ab und bedeutete somit auch für die Bewohner von Circle das offizielle Ende des Stadtlandes. Zusätzlich zur Mauer hatte man eine Filtermembran über der Stadt errichtet, die den Nebel davon abhielt, bis über die Mauer vorzudringen und uns alle der Reihe nach umzubringen.
Die Dämpfe waren neben den Rebellen einer der Gründe, warum das Überqueren der Grenze verboten war – außer für Wächter der Schutzeinheit, die zu Einsätzen dorthin geschickt wurden. Wer einmal einen Fuß auf die andere Seite setzte, der hatte keine Chance mehr zurückzukehren.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum man so etwas versuchen sollte, aber bekanntlich sollte man ja das tun, was man nicht lassen konnte.
Obwohl wir in Zone Vier nur ein sehr einfaches Leben führten und häufig am Hungertuch nagten, wenn die Marken mal wieder nicht ausreichten, so war das Leben da draußen noch viel schlimmer.
Verließ man die Sicherheit der Stadt und hatte keine wirklich gute Strategie, überlebte man kaum einen Tag. Die meisten kratzten nach wenigen Stunden ab, wenn nicht schon nach Minuten. Fand man einen sicheren Unterschlupf starb man vermutlich an Hunger oder Durst, denn es gab nicht viel da draußen, was einem davor bewahrte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es in diesem Ödland, von dem man düstere Geschichten hörte, an Nahrung geben sollte. Hatte man jedoch Glück und fand etwas Essbares oder einen Schluck Wasser, musste man nur noch den Rebellen entkommen, die einem, wenn man sich weigerte, sich ihnen anzuschließen, eine Kugel verpassten.
Und wenn einen die Rebellen nicht töteten, dann war da immer noch der Nebel. Atmete man ihn ein, erstickte man jämmerlich. Die giftigen Dämpfe verbrannten den Sauerstoff in der Lunge und töteten einen Menschen binnen Sekunden. Sie waren die Überbleibsel des Krieges und der Grund, warum das Wächterareal an dem Übergang zwischen dem zweiten und dritten Quartal geschlossen wurde. Der Nebel war so weit vorgedrungen, dass dieser Bereich für die Rebellen nicht mehr zugänglich war und die Bedrohung verschwand.
Soweit ich wusste, war der Turm am südlichen Quartalübergang das einzige Wächterareal gewesen, das geschlossen wurde. Die drei übrigen Areale an den nördlichen, östlichen und westlichen Übergängen in Zone Vier waren noch aktiv.
Jedenfalls bot das Gebäude einen hervorragenden Wendepunkt und ich würde es wieder zurück nach Hause schaffen, noch bevor meine Mum wach wurde.
Die Luft war ungewöhnlich kühl, als ich vor die Haustür trat und sie heimlich hinter mir wieder ins Schloss zog. Mein Blick wanderte gen Himmel und erst jetzt erkannte ich die massiven Wolkenformationen, die sich über das Grau des Himmels auf Circle zuschoben. Es würde also endlich Regen geben, was mehr als dringend notwendig war.
Diese Tatsache erfüllte mich aus irgendeinem Grund mit Freude und Tatendrang. Vermutlich, weil ich dann beim Laufen nicht mehr nach nur drei Schritten nassgeschwitzt sein würde. Dennoch hoffte ich darauf, dass der Wind nicht weiter auffrischte und die Regenwolken schneller über die Stadt trug. Dann wäre es schwierig trocken nach Hause zurückzukehren.
Mit einem tiefen Atemzug fasste ich den Entschluss, alles auf mein Glück zu setzen. Ich band mir mein Tuch über die Nase und lief los.
Bei den ersten Schritten spürte ich deutlich die Verletzung an meinem Arm. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein Gewicht an dieser Stelle angebracht, welches nun ständig auf und ab wippte, und es war eindeutig schwieriger den Schmerz auszublenden.
Natürlich hatte ich auch kein Glück, was das Wetter betraf, und noch bevor ich den Wald erreichte, wurde der Wind so stark, dass ich richtig gegen ihn ankämpfen musste. Es kostete mich viel mehr Kraft als sonst und machte meinen Plan, diesen Lauf ein wenig ruhiger anzugehen, vollkommen zunichte. Fünf Minuten darauf öffnete sich der Himmel und der Regen setzte ein. Ich fluchte innerlich. Hoffentlich holte ich mir keine Lungenentzündung. Umkehren war aber keine Option, weshalb ich die Augen zusammenkniff und weiterrannte. Im Wald ließen Wind und Regen etwas nach. Der unbefestigte Boden weichte jedoch schnell auf und ich musste mich stark konzentrieren, damit ich nicht in eine Schlammpfütze trat, wobei es vermutlich keinen Unterschied gemacht hätte, ich war ja sowieso schon nass bis auf die Knochen.
Für den Weg zum Areal, der mir sonst immer wie ein Katzensprung vorkam, brauchte ich über eine halbe Stunde. Ich kam keuchend vor dem Turm zum Stehen, dessen Beton durch den Regen ganz dunkel geworden war. Den Gedanken, gleich wieder umzudrehen und die Strecke einfach hinter mich zu bringen, verwarf ich schnell wieder, denn zu allem Überfluss fing es nun auch noch an zu donnern und ein heller Blitz zuckte entfernt zwischen den Wolken hindurch.
Das Betreten von Militärarealen war verboten, auch wenn sie nicht mehr genutzt wurden. Doch unter den Bäumen herrschte ein zu großes Risiko, vom Blitz getroffen zu werden. Also zerrte ich mir das klitschnasse Tuch aus dem Gesicht und suchte mir den Weg ins Trockene. Die Kameras, die an der Außenwand des kahlen, sechseckigen Blocks angebracht worden waren, funktionierten schon lange nicht mehr. Das Areal hier zu überwachen war unsinnig, denn wer würde an dieser Stelle schon freiwillig versuchen die Mauer zu passieren, wenn man dahinter sogleich in den Tod sprang? Außerdem verlangte die Überwachung nach kostbaren Arbeitskräften, die der Zonenschutz lieber anderweitig einsetzte.
Dass um diese Uhrzeit und bei solch einem Unwetter jemand auf die Idee kam im Wald spazieren zu gehen, war fast ausgeschlossen, doch man konnte nie vorsichtig genug sein, schließlich war ich ja auch hier. Also blickte ich mehrmals über beide Schultern, bevor ich an der metallenen Tür zerrte, die leicht verbogen in ihren Angeln feststeckte. Mit lautem Donnern öffnete sie sich schließlich und ich flüchtete in das alte Gebäude.
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